Kultur | Erster Mai

„Das ist doch eigentlich Bullshit“

Der Filmemacher Cyril Schäublin erzählt in seinem Film "Unrueh" von den Anfängen des Uhrenmachens und über Anarchisten in einem mehrsprachigen Tal. Mit einem Hauch 1. Mai
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Foto: Seeland Filmproduktion

Salto.bz: Welche Rolle spielte der 1. Mai in Ihrem Leben?

Cyril Schäublin: Einerseits sind es Kindheitserinnerungen, in Zürich, als Kind herumrennen, viele Leute sehen. Später habe ich den Ersten Mai auch in Argentinien, in China, in Berlin erlebt. Es ist schon spannend, dass die wenigsten Leute wissen, dass der 1. Mai einen anarchistischen Hintergrund hat. Ich wusste das auch lange nicht und fand es eigentlich erst mit der Arbeit zu meinem Film Unrueh heraus. 

Was war der Anlass, in diese vergessene Geschichte, in diese Zeit der 1870er Jahre im Schweizer Jura einzutauchen?

Ich hatte das große Glück im Cira, dem Centre International de Recherches sur l'Anarchisme, Marianne Enckell kennenzulernen. Sie machte mich auf die Doktorarbeit von Florian Eitel aufmerksam, als diese noch nicht veröffentlicht war (A.d.R.: Anarchistische Uhrmacher in der Schweiz, Mikrohistorische Globalgeschichte zu den Anfängen der anarchistischen Bewegung im 19. Jahrhundert). Ich hatte das Buch vorab als PDF gelesen und traf dann den Autor. Eitels Buch untersucht diese Zeit, aber auch noch weitere Aspekte und schilderte auch die Betrachtungsweisen der Gegenbewegung, die Lohnverhältnisse im Tal, die Steuerklassen. Eitel fand auch heraus, dass alle Unternehmer im Tal, Abonnenten von archaistischen Zeitungen waren. Das waren wichtige und interessante Informationen für den Film, die verschiedenen Territorien des Daseins.
 


Die Produktionsgeschichte der Taschenuhr und die euphorische Begeisterung für dieses Produkt ist durchaus vergleichbar mit dem gesellschaftlichen Stellenwert eines Smartphones heute. Ihr Film karikiert subtil das beharrlich und letztendlich unmenschlich agierende kapitalistische System. War die besondere Geschichte der Uhrmacher*innen im Jura, auch Anleitung für eine besondere filmische Erzählweise? 

Die besondere Erzählweise zeigte sich bereits in meinem ersten Spielfilm. Für mich ist es wichtig, mein eigenes Erleben in einen Film zu transportieren, denn für mich stellen sich immer wieder – auch in Bezug auf andere Dinge – folgende Fragen: Warum machen wir eigentlich alle das, und wie machen wir es? Manchmal erscheint mir das alles wie eine Performance zu einem Drehbuch, das wir nicht selber geschrieben haben. Dass wir eigentlich immer diese kapitalistische Performance umsetzen. Was sind denn aber die eigentlichen Zutaten unserer Wirklichkeitsbegegnung? Es spielt doch sehr viel von dieser kapitalistischen Organisationsstruktur mit, wie wir unsere Tage gestalten, in einem Konstrukt leben, auch in nationalistischen Konstrukten denken.

Hat Sie dieser Film verändert?

Für mich hat sich mit dem Film einiges verändert, denn es geht mir ja vor allem um: Was ist eigentlich Organisation von Wissen? Wie setzen wir Geschichte zusammen? Wie definieren wir das sogenannte Vergangene und definieren damit unsere Gegenwart? Wie erzählt man? Wie schafft man aus Erzählungen eine Gegenwart? 
 

Das lernt man in der Schweiz nicht in der Schule.


Sie zeigen in "Unrueh" auch Festtagskultur…

Die national verstandenen Festtage wurden vielfach in dieser Zeit erfunden und zementiert. Diese Aspekte zu zeigen, waren für die Erzählung sehr wichtig. So kam man seinerzeit auch auf die Idee, in der Schweiz plötzlich mittelalterliche Schlachten nachzustellen und sie zu feiern.

Sie packen tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen in eine zeitlich entschleunigte Erzählweise. Ihre Antwort auf das System?

Wie erzählen wir die Nation? Wie erzählen wir das Kapital? Denn eigentlich definiert uns das ja, aber wir erzählen es nicht. Das finde ich spannend, wenn Geschichte und Fiktion wandern. So ist es ja auch heute, wenn wir Zeitungen lesen und von Dingen umgeben sind, die weit außer uns liegen und uns dennoch beeinflussen. Und das passt dann schon auch gut in diese Zeit, wo auch gerade in diesen Jahren, der Anarchismus am Anfang war, zu zeigen, wie die Anarchisten versuchten sich auf ihre Weise einzubringen. Der Anarchismus ist natürlich etwas Vergessengegangenes, das fand ich ebenfalls spannend, dabei war er eigentlich in den 1860/70er Jahren die größte Strömung innerhalb des Sozialismus. Das lernt man in der Schweiz nicht in der Schule.

Sind Anarchisten besser als ihr Ruf?

Das war bereits in den 1870er Jahren so, dass von der bürgerlichen Presse stets der Vorwurf kam, dass Anarchisten chaotisch und schlecht organisiert wären. Und dann gab es Antwortschreiben, wo Anarchisten ihre Zeitpläne zeigten, ihre Seriosität unter Beweis stellten, was sie ja auch waren, aber sie mussten es ein ums andere Mal beweisen. Das war mir auch wichtig zu zeigen, diese Basisorganisationen, als Fiktion im Rückblick, wobei eigentlich die kapitalistische nationalistische Strömung sich sehr viel gefährlicher darstellt und wie wir wissen viele Unsicherheiten für die Menschen im 20. Jahrhundert gebracht hat. Und daneben, der libertäre Spirit der Anarchisten, die mit ihren gegenseitigen Hilfsmodellen, anarchistischen Kooperativen und Gewerkschaften sehr fortschrittlich waren.
 

 

Ein mehrsprachiges Tal, ein mehrsprachiger Film?

Für mich war das ein wichtiges Element, auch aus einer Familie kommend, wo seit jeher in mehreren Sprachen gesprochen wird. Es geht um die fließenden Übergänge durch Sprache. Und das finde ich auch hier in Südtirol spannend. Denn Sprachen sind ja ganz eigene Ordnungen. Ich mache ein Beispiel: Wenn man nur eine Sprache in seinem Leben spricht, dann ist ein Löffel immer nur ein Löffel, aber es ist ja nicht nur ein Löffel, sondern das ist ja nur der Versuch, ihn als solchen zu bezeichnen. Aber es gibt eben immer verschiedene Zugänge, pluralistische Ordnungen, zu einem Objekt. Ich fand es auch spannend, einen historischen Film zu machen, entgegen der Vorstellung, dass es homogene Täler gab, wo alle die gleiche Sprache gesprochen haben und wo alles ganz klar strukturiert ist. Das ist doch eigentlich Bullshit. Das gab es nicht, die Menschen haben immer migriert, sind gewandert und Sprachen haben sich vermischt. Auch in Saint Imier, im Tal der Uhrmacher, war es so. In den 1850er Jahren hatte der Ort 500 Einwohner, in den 1880er Jahren waren es 10.000. Es gab viel Migration aus der Deutschschweiz, aus Italien und es waren auch viele Russen da. Das war eine vielsprachige Situation.
 

Der Film hat was ausgelöst, eine Bewusstseinswerdung, viele Diskussionen.


Es ist doch verblüffend, dass die handwerklich so diffizile Arbeit zur Herstellung von Taschenuhren besonders Anarchisten und Anarchistinnen so gut beherrschten… 

Ich glaube auch, dass der Anarchismus auf jeden Fall etwas sehr Genaues ist, wo es nicht darum geht Ordnungen zu zerstören, sondern um eigene Ordnungen zu erschaffen, um die bestehenden Ordnungen vielleicht zu verdrängen. Es war auch interessant zu sehen, dass die Schweiz damals – umgeben von Monarchien – versucht hat, die Pressefreiheit durchzusetzen, und so konnten in der Schweiz anarchistische Zeitschriften legal gedruckt werden und revolutionäre Texte wurden vertrieben. Dadurch kamen auch viele russische Studenten in die Schweiz.

Auch der bekannte Anarchist Pjotr Kropotkin. Er war als Kartograph im Jura und entdeckte dort den wahren Anarchismus für sich. Wie ist diese, seine Rolle, in Ihren Film gefallen?

Die Filmidee ist eigentlich schon uralt. Und es hatte dann auch mit einem längeren Aufenthalt von mir in China zu tun, wo ich mich mit meiner persönlichen Geschichte, aus einer Uhrmacherfamilie kommend, beschäftigte. Und dann war dieses Schweiz-Bild, das die Leute in China von der Schweiz haben, wo ich mich immer fast rechtfertigen musste, mit Sätzen wie: Warte mal, ich komme aus einer Arbeiterfamilie. Da ist nicht alles edel in der Uhrmacherindustrie. Mein Urgroßvater und all die anderen, die haben alle hart gearbeitet. Das hat mich dann inspiriert, eben auch das Uhrmacherwesen als Spielplatz für den Film auszuwählen, dort hineinzuschauen, in die Organisation von Zeit, Geld und Arbeit. Kropotkin kam dann irgendwann dazu, stand aber nicht am Anfang der Idee.

Welche Spuren hat der Film hinterlassen? Wie ist er im Tal der Uhrmacher angekommen? Wie bei Anarchisten und Anarchistinnen?

Der Film lief überraschend gut. Volle Kinos, auch im Tal der Uhrmacher. Da waren Gewerkschafter, Leute die sich der anarchistischen Bewegung zuschreiben, auch bürgerliche Leute. Sogar der Direktor von Longines. Der Film hat was ausgelöst, eine Bewusstseinswerdung, viele Diskussionen. Ich bin sehr glücklich, wie das gelaufen ist.