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“Irgendwann lüfte ich das Geheimnis”

In "Ein Russe aus Kiew" macht sich die in Südtirol lebende Autorin Waltraud Mittich auf die Suche nach ihrem ukrainischen Vater. Der Brief einer Tochter; weiblich.
Waltraud Mittich
Foto: Privat

Waltraud Mittich beschreibt sich selbst als Melange ihrer Südtiroler Mutter, ihrem ukrainischen Vater und all dem, was daraus geworden ist. Diese Identität hat Waltraud Mittich nun in einem Brief an ihren ukrainischen Vater, den Rotarmisten, den sie selbst nie kennengelernt hat, in Buchform gegossen. Die 74-jährige Schriftstellerin springt in diesem autofiktionellen Roman zwischen Sprachen, kulturellen Realitäten, Südtirol und der Ukraine. 

Am Montagabend (3. Oktober) wird das im September bei “laurin” erschienene Buch (im Rahmen einer Veranstaltung des Europäischen Zentrums für LIteratur und Übersetzung - ZeLT) erstmals in der Stadtbibliothek Brixen vorgestellt. Neben Waltraud Mittich wird auch die für die ukrainische Übersetzung zuständige Chrystyna Nazarkewytsch an der Diskussion zum Buch teilnehmen. 

 

Salto.bz: Mit dem Kriegsbeginn in der Ukraine wurde Ihr Buch, “Ein Russe in Kiew” fertiggestellt. Wie kam es, dass Sie gerade jetzt dieses Buch an und über ihren Vater, den Rotarmisten, geschrieben haben?

Waltraud Mittich: Ich bin 2018 in die Ukraine gefahren; das wollte ich schon ganz lange tun. 2018 ist es dann gelungen, nach Czernowitz, nach Lviv, nach Charkiv zu fahren und bald darauf habe ich zu schreiben begonnen. Gleichzeitig habe ich alle Informationen zur Ukraine über Facebook und durch befreundete Journalisten genauestens verfolgt. Eigentlich wusste ich schon damals, dass der Krieg kommen würde, wahrhaben wollte ich es aber nicht.

 

“Ein Russe aus Kiew” ist Anfang September auf Deutsch erschienen. Nur wenige Wochen später steht jetzt auch die ukrainische Übersetzung des Buchs. Warum war es Ihnen so wichtig, das Buch ins Ukrainische zu übersetzen?

Das können Sie doch verstehen! Mein ukrainischer Vater war der Beweggrund für diesen Text und ich habe eigentlich von Anfang an auf diese Übersetzung hingeschrieben. Unglaublicherweise hat es dann auch sofort geklappt: Ein renommierter ukrainischer Verlag, 21books, war gleich interessiert. Das hat mich gewundert, weil es im Buch ja doch auch um Südtirol geht. Aber ich denke, dass sie gesehen haben, dass ihre Probleme mit der Sprache den unsrigen sehr ähnlich sind. 

Ist die Übersetzung ins Ukrainische auch ein politisches Statement? 

Natürlich. Ich hätte mich ja auch darum bemühen können, das Buch ins Russische zu übersetzen. Das habe ich nicht getan. Ich wollte diese Sprache unterstützen, die jetzt so gefährdet ist und im Fall eines russischen Sieges ausgerottet werden soll. Sollte das Buch auch auf Russisch erscheinen, ist das für mich aber auch in Ordnung. Man darf hier nicht alle in einen Topf werfen. 

 

Ich hätte mich ja auch darum bemühen können, das Buch ins Russische zu übersetzen. Das habe ich nicht getan.

 

Sie schreiben im Buch, dass Südtirol von der Angst vor einem sprachlichen Mischmasch umgetrieben wird, der weltweit längst Realität ist. Wie sehen Sie dieses “Problem” in Bezug auf die Ukraine? Wie wichtig ist die Reinheit des Ukrainischen?

Ich bin hier hin- und hergerissen. Die Ukraine hat vieles unternommen, um das Ukrainische zu festigen, sehr viele Menschen sind aber zweisprachig. Ich würde es falsch finden, wenn man jetzt das Russische verbieten würde. Diese Vielsprachigkeit ist ein großes Plus.

Die Vielsprachigkeit weckt Erinnerungen an die Zeiten der Monarchie, die Sie im Buch teilweise sehnsüchtig beschreiben. 

Das ist mir bewusst. Gleichzeitig habe ich ganz explizit geschrieben: “Ich bin keine Monarchistin.” Aber die Habsburger Monarchie kommt an manchen Stellen in meinem Buch gut weg: Sie war, glaube ich, ein Staat, in dem man sich heute wiedererkennen kann. 

Inwiefern? 

In Czernowitz habe ich eine ältere Frau getroffen, die in einem Satz sieben Sprachen untergebracht hat. Dieses Sprachengewirr ist aber nicht nur dort, sondern auf der ganzen Welt immer präsenter. Ich finde das nicht unbedingt erstrebenswert, aber es ist eine Realität, die auch wir Südtiroler gut kennen. 

 

Die Habsburger Monarchie war ein Staat, in dem man sich heute wiedererkennen kann. 

 

Neben der Monarchie sprechen Sie auch von einem Mitteleuropa, in dem Sie die “Zukunft Europas” sehen. Was genau ist dieses Mitteleuropa?

Mitteleuropa ist die Einbindung der an die Donau angrenzenden Staaten mit ihrer Geschichte, ihrer Vergangenheit, Kultur und Sprache; mit all dem, was wir vielleicht gar nicht kennen. Hier waren die italienischen Germanisten von Mittner über Magris und Baioni meine Lehrer. Wenn ich etwas zur deutschen Literatur wissen will, schlage ich bei den Italienern nach. Der Blick von Außen, das Mischen von Kulturen und Sprachen, bringt ein ganz neues Wissen zum Vorschein. Dieses ist nicht unbedingt besser, aber bietet oft interessante Zugänge, die man als deutscher Germanist gar nie finden würde. 

Sie haben sich für das Genre der Autofiktion entschieden. Wie viel des Dargestellten ist Biografie und wie viel davon Fiktion?

Der ukrainische Vater ist Realität. Den hat es gegeben und er hat im Buch auch einen Namen, den diese Mutter nach längerem Hickhack mitgeteilt hat. Aber viel war aus ihr nicht herauszubekommen. Mein Brief an den Vater ist der Wunsch, dass er diese Tochter verstehe. Autofiktional heißt, dass nicht alles, das im Buch steht, realistischen Daten entspricht. Aber das macht die Literatur halt so… 

Der Text ist teilweise auch widersprüchlich. Eine bewusste Entscheidung?

Das Literaturhaus Wien beschreibt das Buch als ein “mäanderndes”, ein Buch, das gedanklich springt. Aber genau dieses Mäandern von einem Thema zum nächsten, das Zurückkehren und die Betrachtung von einem anderen Blickwinkel wird als Stärke des Buchs gesehen. Widersprüchlich ist der Text insofern, weil ich diesen Vater nicht in den Griff bekomme, weil ich Wissenslücken habe oder vielleicht überhaupt nichts weiß. Indem ich mein Nicht-Wissen zu Papier bringe, mache ich mich natürlich angreifbar. Aber ich glaube, dass man beim Schreiben grundsätzlich angreifbar ist. 

 

Der Fluchtgedanke entsteht, wenn du nicht genau weißt, wo du herkommst und wo du hingehörst

 

“Die Herkunft nicht zu kennen, bedeutet […] einen lebenslangen Wunsch nach Flucht”. Können Sie diesen Gedanken näher erklären? 

Der Fluchtgedanke entsteht, wenn du nicht genau weißt, wo du herkommst und wo du hingehörst. Das kann man, glaube ich, auf alle Flüchtenden der Welt beziehen.

Sie schreiben diesen Brief an den Vater ganz explizit als Frau, als weibliche Schriftstellerin, und sehen sich selbst dabei in der Position einer Wartenden; eine Position, die Sie als sehr weiblich empfinden. 

Ja, das steht auch auf meinem Facebook-Profil: weiblich, wartend. Olha Kobyljanska hat mal gesagt: “Jetzt lebe ich noch nicht voll, aber später.” Ich glaube, dass das immer noch eine sehr weibliche Haltung ist. Auch bei jungen Frauen.

Wo erkennen Sie diese Haltung in sich selbst? 

Wissen Sie, ich habe mit 50 Jahren angefangen zu schreiben. Das ist das beste Beispiel dafür. 

Was hat Ihnen damals den Mut gegeben, noch mit dem Schreiben zu beginnen?

Das ist ein Geheimnis. Irgendwann werde ich dieses Geheimnis lüften. Es gibt einen ganz konkreten Grund, über den ich jetzt nicht spreche. Aber später.