Umwelt | Raumordnung

„Das Kind kann immer noch nicht gehen“

Der Architekt Walter Angonese über die Probleme mit dem neuen Raumordnungsgesetz, das System Südtirol und eine längst fällige Kategorisierung im landwirtschaftlichen Grün
Angonese, Walter
Foto: Privat
Salto.bz: Herr Professor Angonese, seit Monaten echauffieren sich die Architekten und Projektanten über das neue Urbanistikgesetz. Es sei eine Katastrophe und nicht anwendbar. Offen im Interview will aber niemand reden. Sind die Südtiroler Architekten Hosenscheißer?
 
Walter Angonese: (lacht) Das zeigt das System auf, das leider Gottes immer noch ein bisschen eingeschüchtert ist. Ich persönlich würde das neue Raumordnungsgesetz nicht als Katastrophe bezeichnen. Ähnlich wie beim ersten Gesetz von 1972 waren auch hier die Absichten durchaus gut und es ist kein wirklich schlechtes Gesetz herausgekommen. Das große Problem ist, dass man diesem Gesetz nicht die Zeit und den Raum gegeben hat, erwachsen zu werden. Ich würde sagen: Der Grundsatz war positiv, dann hat man aber das Ganze einfach nicht mehr weiterentwickelt. Es fehlen ein Großteil der wichtigen Durchführungsbestimmungen und es gibt unzählige Interpretationsschwierigkeiten….
 
Im Klartext: Das neue Gesetz ist so nicht anwendbar?
 
Es ist extrem schwierig anwendbar. Auch weil die Leute, wenn sie einen Bauantrag stellen, irgendwann weiterkommen wollen. Mit diesem Gesetz und den fehlenden Durchführungsbestimmungen kommt man derzeit aber kaum vom Fleck. Dabei muss man aber auch etwas sagen, was viele verschweigen. Mit dem neuen Gesetz ist auch die Digitalisierung in der Genehmigungsprozedur einhergegangen. Viele Kolleginnen und Kollegen haben genau damit ein größeres Problem. Denn mit dieser Digitalisierung auch eine Anonymisierung gekommen. Das heißt: Es gibt keine Bezugspartner mehr mit denen man reden kann, man kann sich nicht mehr austauschen. Als Projektant machst du was, gibst es ab und das Projekt wird dann beurteilt. Einen Meinungsaustausch oder eine Diskussion gibt es nicht mehr. Der Mehrwert, den man sich aus dieser Anonymisierung erwartet hat, im Sinne von mehr Objektivität, der aber ist überhaupt nicht eingetreten.
Es gibt nicht mehr den Dilettantismus, der bis vor kurzen in den sogenannten Baukommissionen geherrscht hat.
Sie sagen dennoch: Es ist kein schlechtes Gesetz?
 
Es ist kein schlechtes Gesetz. Denn das Gesetz räumt endlich mit ein paar grundsätzlichen Problemen der Südtiroler Raumordnung auf, die in den letzten Jahrzehnten zu einem völlig unüberschaubaren Bereich geworden ist. Die neue Regelung hat zwei Grundpfeiler, die das Gesetz prägen: Das Bauen außerhalb und innerhalb der Siedlungsgrenze. Für mich ist das ein ausgezeichneter Ansatz. Das Problem dabei aber ist – und hier sind wir wieder beim System Südtirol -, dass alle kollateralen Bedingungen, die für die Anwendung eines Gesetzes notwendig sind, noch immer fehlen. Dabei denke ich nicht nur an die Durchführungsbestimmungen, sondern auch um die Entwicklung von urbanistischen Ideen und Vorstellungen vonseiten der Gemeinden. Hier hinkt ein ganzer Bereich enorm nach.
 
Kritiker bemängeln, dass das neue Gesetz unklar und widersprüchlich ist?
 
Das Gesetz hat sicher eine Kohärenz, das kann man ihm nicht absprechen. Was die Klarheit betrifft, so gibt es gewisse Schwierigkeiten. Das liegt aber auch an dem Verweichligungsprozess, der typisch für Südtirol ist. Man arbeitet immer auf einen Kompromiss hin, der die verschiedensten Lobbys zufriedenstellen soll. Diese Verweichlichung sieht man dem neuen Gesetz an. Das ursprüngliche Gesetz war kräftiger und schlagkräftiger. Das aktuelle Gesetz ist etwas aufgeweicht. Als Katastrophe würde ich es dennoch nicht bezeichnen.
Man arbeitet immer auf einen Kompromiss hin, der die verschiedensten Lobbys zufriedenstellen soll.
 
 
Tatsache ist, dass sowohl die zuständigen Landesämter wie auch viele Bauämter in den Gemeinden derzeit vor dem totalen Kollaps stehen?
 
Das hat aber nicht allein mit dem neuen Raumordnungsgesetz zu tun. Natürlich muss man nach dieser Pandemie die Effizienz vieler Südtiroler Einrichtungen relativieren. Alles wurde heruntergebremst. Das war dann auch der ultimative Schlag, warum sich plötzlich alle über dieses Gesetz auslassen.   
 
Das Erläuterungsbuch für das neue Gesetz ist fast zehnmal so dick, wie das neue Gesetz. Selbst die Fachleute, die das Gesetz umsetzen sollen, kennen sich nicht mehr aus?
 
Das ist die Folge der Umschreiberei in der Genehmigungsphase. Hier haben alle Verbände und Interessensgruppen eingegriffen, wie es für Südtirol typisch ist. Ich möchte Ihnen aber ein Beispiel aus einem der großen Problembereiche machen: Landwirtschaft und Tourismus. Im Gesetz wird der Bereich zwar geregelt, das Problem aber ist, dass sich die Mentalität jener die die Bestimmungen anwenden sollen, noch nicht geändert hat. Und hier meine ich nicht nur die öffentliche Verwaltung, sondern auch bei uns Architekten. Wir haben uns jetzt mit einem neuen Produkt zu beschäftigen und das verlangt, dass auch wie als Planer genauso wie die öffentliche Verwaltung, uns mit diesem neuen Produkt auseinandersetzen. Hier sehe ich auch auf unser Seite großen Handlungsbedarf. Deshalb finde ich es nicht fair, die ganze Schuld dem neuen Gesetz zuzuschieben.
 
Die große Neuerung ist die sogenannte Siedlungsgrenze?
 
Wir sind gewohnt gewesen, überall zu bauen. Jetzt hat man endlich verstanden, dass das mit der Zersiedelung nicht mehr so weitergehen kann und man hier klare Richtlinien ziehen muss. Dazu hat man die Gemeinden, die sich jahrzehntelang um mehr Autonomie bemüht haben, in diese gesetzliche Neuerung stark miteinbezogen. Jetzt müssen diese Leute aber auch liefen. Die Gemeinden müssen die Siedlungsgrenzen klar definieren und sie müssen darauf achten, dass es nicht schon wieder zu den typischen Südtiroler Auswüchsen kommt.
 
Es kann nicht sein, dass es ein paar Deppen gibt, die sich punktgenau ans Gesetz halten, während anderen den Interpretationsspielraum bis zum Exzess ausnützen können.
 
 
 
An was denken Sie?
 
An Vieles. Etwa an den „Urlaub auf dem Bauernhof“. Es gibt absurde Geschichten und Fälle wie man das geltende Gesetz umschifft. Zum Beispiel in meiner Heimatgemeinde Kaltern. Dort hat man aus dem „Urlaub auf dem Bauernhof“ kurzerhand Tourismuszonen gemacht. Hier ist nicht das neue Gesetz Schuld, sondern wir müssen die Schuld in unseren Köpfen suchen. Wir sind eine Gesellschaft, die ihre Mentalität ändern muss. Sonst wird sich das Land nicht ändern. Wenn wir in dieser Form weiterarbeiten, werden wir uns größtes Kapital zerstören: Die Landschaft.
 
Wir sind eine Gesellschaft, die ihre Mentalität ändern muss. Sonst wird sich das Land nicht ändern.
 
Das Allerheiligste in diesem Land ist das Bauen im landwirtschaftlichen Grün. Dort ist alles möglich?
 
Ich habe dazu eine klare Meinung. Südtirol würde sich seit langem ein differenzierte, raumordnerische Haltung gegenüber dem Begriff „Landwirtschaftliches Grün“ verdienen. Es gibt die Plantagen in der Talsohle, es gibt die Anlagen im Mittelgebirge und es gibt die wunderschönen agrikulturellen Realitäten im alpinen Bereich. Dazu kommen noch vom Reschen bis nach Winnebach, von Salurn bis an den Brenner völlig verschiedene bauhistorische Realitäten. Dennoch wird das Ganze über einen einzigen, kleinen Kamm geschert. Man ist zwar imstande gewesen für Wohnbauzonen die Kategorien A, B, C und für Gewerbezonen A, B, C zu erfinden, aber fürs landwirtschaftliche Grüne gibt es nichts. Das ist natürlich ein bewusstes Kalkül. Dadurch können die Plantagenbauern im Tal tun was sie wollen, weil sie über denselben Kamm geschert werden, wie die bäuerliche Welt im alpinen Raum, die wirklich mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. All das ist politisch so gewollt. Aber ist einfach nicht korrekt in einem Land, wo man in allen anderen raumordnerischen Bereichen so genau differenziert. Erst wenn wir im landwirtschaftlichen Grün imstande sind, eine Kategorisierung einzuführen, können wir anfangen substanziell über die Dinge zu diskutieren. Nur so können wir über die raumordnerische und landschaftliche Zukunft unseres Landes reden. Und nicht in einem Suppentopf in dem alles drinnen ist und wo das Gute verhindert und das Schlechte gefördert wird.
 
Man ist zwar imstande gewesen für Wohnbauzonen die Kategorien A, B, C und für Gewerbezonen A, B, C zu erfinden, aber fürs landwirtschaftliche Grüne gibt es nichts. Das ist natürlich ein bewusstes Kalkül.
 
Der Südtiroler Bauerbund wird spätestens jetzt ein Giftspritz-Kommando gegen Sie zusammenstellen?
 
(lacht) Die Mentalität muss sich auf allen Seiten ändern. Es kann nicht sein, dass der Bauer zum Spekulanten wird. Es kann aber auch nicht sein, dass wenn man etwas bauen will, zur Interpretation eines Gesetzes immer ein Rechtsanwalt herangezogen wird. Es kann nicht sein, dass es ein paar Deppen gibt, die sich punktgenau ans Gesetz halten, während anderen den Interpretationsspielraum bis zum Exzess ausnützen können. Das sind meiner Meinung nach die Problematiken, die man konkret angehen muss.
 
 
Für die Fachleute ist längst klar, dass es bereits jetzt eine Überarbeitung des neuen Gesetzes bräuchte?
 
Das Gesetz lebt seit rund einem Jahr. Das große Problem dabei: Das Kind kann immer noch nicht gehen. Die Kinderkrankheiten, die Sie angesprochen haben, dass sich niemand auskennt, dass die Durchführungsbestimmungen fehlen und anderes, die muss man so schnell wie möglich kurieren. Denn es kann nicht sein, dass man diese Ungewissheit einfach aussitzt.
 
Versagt hier die Politik?
 
Hier versagt das System Südtirol. Natürlich gehört die Politik dazu. Das Kernproblem ist, dass man alles auf Kompromisse herunterbricht. Wir haben hier einfach ein systemisches Problem. Ich bin viel in der Schweiz und ich baue in Österreich. Dort ist alles viel klarer und einfacher. Jahrzehntelang haben wir Architekten eingefordert, dass es zu einer Professionalisierung in der Beurteilung der Projekte kommt. Das ist mit diesem neuen Gesetz passiert. Es gibt nicht mehr den Dilettantismus, der bis vor kurzen in den sogenannten Baukommissionen geherrscht hat. Es wird jetzt den Gemeinden die Möglichkeit geboten, über den eigenen Kirchturm hinauszuschauen und eine gemeinsame Strategie mit Nachbargemeinden zu entwickeln. Das sind alles Dinge, die an und für sich, gut wären….
Hier versagt das System Südtirol. Natürlich gehört die Politik dazu. Das Kernproblem ist, dass man alles auf Kompromisse herunterbricht.
Aber?
 
Bei einem Gesetz braucht es einen Schreiber, einen Anwender und vor allem jemand, der diese Maßnahmen im Sinne des öffentlichen Interesses interpretiert. Gerade in diesem Punkt kollidiert das neue Gesetz aber mit dem System Südtirol. Deshalb ist es für mich ein systemisches Problem.
 
Eine Frage ist aber auch, ob Südtirol wirklich genügend Fachleute für die angepeilte Professionalisierung der Baukommissionen hat?
 
Ich glaube schon. Es gibt ein Landesverzeichniss für diese neue Funktion, um dort hinzukommen muss man eine Schulung machen. Dort sind Geologen, Architekten, Ingenieure, Förster drinnen, also alles Menschen, die einen professionellen Zugang zu Projekten haben. Wenn diese Kollegen professionell agieren und nicht in der üblichen Verfilzungsmanier arbeiten, sondern nach objektiven Parametern entscheiden, dann führt das unweigerlich zu einer Qualitätssteigerung. 
 
In den zuständigen Landesämtern stapeln sich derzeit aber Hunderte Projekte, weil niemand weiß, wie man diese bewerten soll?
 
Warum stauen sich die Sachen? Weil es immer noch nicht klare Parameter gibt, wie das Gesetz anzuwenden ist. Diese Parameter müssten nach einem Jahr einfach geklärt sein. Es gibt zwar einige Durchführungsbestimmungen, einige davon sind nicht klar, aber man wir die Fragen, die auf den Tisch gelegt werden, einfach beantworten müssen. Sollte man dabei draufkommen, dass die rechtlichen Parameter nicht funktionieren, dann muss man dieses Gesetz einfach korrigieren.
 
 
 
Damit sind wir wieder bei der typischen Südtiroler Anlassgesetzgebung?
 
Nein. Es dürfen nicht jene üblichen Korrekturen sein, die auf Privatinteressen oder Lobbyismus fußen, sondern, die ausschließlich das Ziel verfolgen, mehr Klarheit in den Gesetzestext zu bringen.
 
Wer will heute als Bauamtsleiter oder als einfacher Beamter bei unklaren Parametern eine Verantwortung übernehmen mit der du im Häfen landen oder um Haus und Hof gebracht werden kannst. Wer tut das? Hier ist die Politik gefragt.
 
Diese Überarbeitung wäre für die Landespolitik aber ein Eingeständnis, dass die große Reform gescheitert ist. Deshalb wird man das nicht tun?
 
Dann werden wir wahrscheinlich aus diesem Schlammassel nicht so schnell herauskommen. Die Realität ist klar: Wer will heute als Bauamtsleiter oder als einfacher Beamter bei unklaren Parametern eine Verantwortung übernehmen mit der du im Häfen landen oder um Haus und Hof gebracht werden kannst. Wer tut das? Man muss die Menschen auch verstehen. Hier ist die Politik gefragt. Aber nicht nur die Landesregierung, sondern auch der Landtag. Er macht die Gesetze.
 
Herr Angonese, verstehen Sie persönlich das neue Raumordnungsgesetz?
 
Ich habe derzeit drei Projekte in Südtirol laufen. In Meran habe wir ein Projekt, das in drei Monaten genehmigt wurde, wobei wir uns alle rechtlichen Vorgaben gehalten haben. Man muss aber sagen: Ich kann nicht mit den Vorstellungen des alten Gesetzes ans Bauen gehen, sondern man muss sich mit dem neuen Raumordnungsgesetz auseinandersetzen. Dann kann man durchaus arbeiten. Deshalb kann ich in diesem Jammerchor auch nicht einstimmen. Wenn ich ein größeres Projekt umsetzen will, dann muss ich mich als Bauherr aber auch als Architekt oder Planer mit der Tatsache abfinden, dass das in zwei Monaten alles durchgeht. Nur weil ich den Pontius und den Pilatus kenne oder weil ich in der Partei bin. All diese Dinge sind nicht ein Problem des Gesetzes.