Gesellschaft | Proteste

„Die Jugend ist nicht religiös“

Seit dem Tod der jungen Frau in Polizeigewahrsam kommen die Proteste im Iran nicht zur Ruhe. Die Kundgebungen bringen ethnische Gruppen zusammen.
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Foto: Unsplash/Arthin Bakhan
Die Proteste im Iran dauern weiter an. Vom Süden des Landes bis nach Norden gehen die Menschen in über 100 Städten für mehr Bürger:innenrechte auf die Straße. Zahlreiche Universitäten sind an den Protesten beteiligt. Der streng autoritär regierte Iran mit rund 84 Millionen Menschen bezeichnet sich selbst seit der Islamischen Revolution 1979 als Islamische Republik. „Das sind mittlerweile 43 Jahre unter einem fanatischen und diktatorischen Regime, das ist genug. Nach dem Tod der Kurdin Mahsa Jîna Amini protestieren die Menschen nun seit über 70 Tagen“, sagt Sabri Najafi, eine iranische Frauenrechts- und Menschenrechtsaktivistin in Südtirol.
Amini war Mitte September während eines Besuchs in der iranischen Hauptstadt Teheran mit der Familie von der Sitten- und Religionspolizei wegen ihrer „nicht islamischen“ Kleidung festgenommen worden. Laut Sittenpolizei fiel sie auf der Wache wegen Herzversagens zuerst in Ohnmacht und dann ins Koma. Diese Version ist aber umstritten. Amnesty International teilte mit, es gebe „Vorwürfe von Folter und anderen Misshandlungen während des Gewahrsams“. Die 22-Jährige starb in Polizeigewahrsam. Ihr Tod löste nicht nur im Iran, sondern international zahlreiche Kundgebungen aus.
 

Die Rechtslage für Frauen

 
Laut iranischem Recht sind Frauen dazu verpflichtet, ihr Haar in der Öffentlichkeit zu bedecken und lange, locker sitzende Kleidung zu tragen, um ihre Figur zu verschleiern. Verstößt eine Frau dagegen, muss sie mit öffentlicher Rüge, Geldstrafen oder Verhaftung rechnen. „Bei den Protesten im Iran geht es nicht nur um die Aufhebung der Kopftuchpflicht, sondern auch um die Abschaffung aller diskriminierenden Gesetze. Es ist eine Revolution im Gange, um einen Wechsel des herrschenden Regimes herbeizuführen“, so die Menschenrechtsaktivistin Najafi.
 
 
„Zum ersten Mal in der Geschichte des Iran seit der Islamischen Revolution gibt es diese einzigartige Einheit zwischen den Ethnien. Alle skandieren die gleiche Parole. Ihre Forderung ist die gleiche“, sagt Ramyar Hassani, Sprecher der Hengaw-Organisation für Menschenrechte, im Interview mit dem europäischen Fernsehsender Euronews. Die Hengaw-Organisation für Menschenrechte berichtet über die Menschenrechtsverletzungen in den kurdischen Gebieten im Westen des Iran.
 

Historie der Proteste

 
„Wir sind im Iran in den vergangenen 43 Jahren oft auf die Straße gegangen, aber die Dinge haben sich nie geändert. Heute sitzen wegen den aktuellen Protesten 18.000 Menschen in iranischen Gefängnissen. 460 Menschen starben bisher bei den Demonstrationen, davon 64 Kinder und 29 Frauen“, so Najafi. Die ersten Anti-Kopftuch-Proteste gab es bereits im März 1979, als sich zwei Wochen nach dem Sturz des Schahs die schrittweise Umsetzung des Kopftuchzwangs abzeichnete. Auch Najafi war nach der Islamischen Revolution für die Frauenrechte auf der Straße, bevor sie sich ein Jahr später für das Exil in Italien entschied.  
Seitdem beobachtet sie aufmerksam die Entwicklungen in ihrem Herkunftsland und ist die Vorsitzende des Vereins „Donne libere iraniane in Italia“, der 2011 nach der Verurteilung der Anwältin Nasrin Sotoudeh und Aktivistin Narges Mohammad im Iran gegründet wurde. Es schmerzt sie, dass die neue italienische Regierung im Gegensatz zu vielen anderen westlichen Ländern wie Deutschland oder Frankreich die bei den Protesten vorgebrachten Forderungen im Iran nicht unterstützt.
Als der iranische Außenminister Hossein Amirabdollahian diese Woche nach Rom reisen sollte, um als Redner an der vom italienischen Außenministerium und ISPI geförderten MED-Dialogues-Konferenz teilzunehmen, forderten iranische Aktivist:innen in Italien Widerstand. „Dass Amirabdollahian seine Anreise nun abgesagt hat, ist für uns ein Sieg“, sagt Najafi.
 

Kampf der Frauen

 
„Die Frauen leiden unter diesem Regime so viel mehr als die Männer. In den vergangenen Jahren sind sie häufiger auf die Straße gegangen, haben Veränderung verlangt und Widerstand gegen die diskriminierenden Gesetze geleistet. Die Frauen befinden sich in dieser Revolution in der ersten Reihe und trauen sich nun auch, das Kopftuch abzunehmen“, so die iranische Menschenrechtsaktivistin. Die Jugend Irans wisse heute auch durch die sozialen Medien, welche Freiheiten junge Menschen in „freien Ländern“ genießen können. Auch wenn Iran ein islamisches Land ist, sei die Religion im Verschwinden begriffen.
„Die Jugend macht 60 Prozent dieses Volkes aus, sie ist nicht religiös. Trotz all der Unterdrückung ist das iranische Volk voller Leben, Menschen widersetzen sich, Frauen nehmen ihr Kopftuch ab und werden getötet“, sagt Najafi. Im Iran gibt es an den Universitäten mehr Studentinnen als Studenten. „Die Zahl der Studierenden hat sich innerhalb dieser 43 Jahre erhöht und viele Frauen schlossen ihr Studium ab. Da es hohe Arbeitslosigkeit gab, gingen viele junge Menschen studieren. Heute gehen sie auf die Straße und rufen die Parolen ‚Frau, Leben, Freiheit‘.“