Politik | Interview

Keiner traut sich abzurüsten

Atomare Bedrohung spielt im Ukraine-Krieg keine Nebenrolle. Martin Senn von der Uni Innsbruck zeichnet im Interview konkrete Gefahren und historische Parallelen nach.
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Foto: Wilhelm Gunkel on Unsplash

Der Krieg in der Ukraine löste nicht nur europaweite Friedensdemonstrationen aus, sondern er ließ auch die Angst vor atomarer Bedrohung erneut aufflammen. Martin Senn lehrt am Institut der Politikwissenschaft der Universität Innsbruck und beschäftigt sich seit Jahren mit Entwicklungen in der Atompolitik.

Salto.bz: Herr Professor Senn, die aktuelle Situation in der Ukraine-Krise erinnert stark an die Drohgebärden während des Kalten Kriegs. Worin unterscheiden sich die beiden Konflikte?

Martin Senn: Der Unterschied liegt prinzipiell darin, dass wir es derzeit mit einem tatsächlichen Krieg direkt an der Außengrenze der NATO zu tun haben. Zwar scheute die Sowjetunion auch während des Kalten Kriegs nicht davor zurück, das Militär an der Grenze zur NATO einzusetzen, um den Prager Frühling in der Tschechoslowakei niederzuschlagen. Der aktuelle Konflikt hat aber eine andere Qualität. Es ist ein ausgewachsener Krieg mit sehr viel Potenzial für weitere Eskalation.

 

 

Wie schätzen Sie die atomare Drohung vonseiten Russlands ein?

Russland sendet zurzeit Drohbotschaften aus, die als Reaktion auf den Widerstand in der Ukraine, aber auch auf die militärische Unterstützung und die wirtschaftlichen Sanktionen der westlichen Länder verstanden werden können. Diese Reaktion war daher absehbar.

Ich gehe davon aus, dass keine der beiden Seiten gezielt ein Kernkraftwerk angreifen wird.

Neben der atomaren Drohung seitens Russlands geht während der Kampfhandlungen auch von ukrainischen Atomkraftwerken ein Risiko aus. Wie ist dieses einzuschätzen?

Die Ukraine ist ein Land, das die Kernkraft sehr intensiv nutzt. Deshalb könnten nun Kernkraftwerke von den Kampfhandlungen erfasst werden. Allerdings gehe ich davon aus, dass keine der beiden Seiten gezielt ein Kernkraftwerk angreifen wird. Was aber nicht ausgeschlossen werden kann, ist ein unbeabsichtigter Schaden an einem Kernkraftwerk durch Kampfhandlungen. Wenn etwa die Stromversorgung für die Kühlung unterbrochen wird und die Notkühlung zerstört wird, könnte es zu einer problematischen Situation kommen. Auch ein versehentlicher, direkter Beschuss eines Reaktors mit schweren Waffen wäre gefährlich.

Welche Funktion erfüllt das Rote Telefon, das auch schon während des Kalten Kriegs eingesetzt wurde?

Während dem Kalten Krieg hat sich gezeigt, dass nukleare Waffen auch deshalb so brandgefährlich sind, weil in Krisensituationen Handlungsdruck entsteht. Es steigt das Risiko von Fehlwahrnehmungen und damit von Fehlverhalten. Die Lösung dafür war die Einrichtung von Kommunikationskanälen zwischen den verfeindeten Staaten, um Nachrichten austauschen zu können und im Gespräch zu bleiben. Es gibt nach wie vor mehrere Kommunikationskanäle zwischen den politischen Führungen von den USA und Russland, aber auch zwischen hochrangigen Militärvertretern beider Länder.

Statt dem Abbau von Atomwaffen ist in der Vergangenheit eher das Gegenteil passiert.

Wie hat sich die internationale Ordnung zur Kontrolle der Kernenergie in den letzten zehn Jahren gewandelt?

Die internationale Ordnung zur Kontrolle der Kernenergie verändert sich durch mehrere Entwicklungen. So haben etwa neue Technologien für Staaten eine Reihe von Fragen aufgeworfen, etwa 3D-Druck, Überschallgleiter oder Laseranreicherung. Neue Technologien und die neu aufgestellten Staatenverhältnisse nach dem Kalten Krieg haben insbesondere zur Folge, dass die nukleare Abschreckung komplexer geworden ist – beispielsweise befeuern Raketenabwehrsysteme die Aufrüstung. Zudem steht der Atomwaffensperrvertrag unter Spannung. Dieser legt fest, dass nur eine kleine Gruppe von Staaten Atomwaffen besitzen darf, aber über den Abbau der Atomwaffen ehestmöglich verhandeln soll. Bei diesen Nuklearwaffenstaaten handelt es sich um China, Russland, Frankreich, Großbritannien und die USA. Den restlichen Ländern räumt der Vertrag das Recht auf die zivile Nutzung von Atomkraft ein und verbietet ihnen den Besitz von Nuklearwaffen.
Statt dem Abbau von Atomwaffen ist in der Vergangenheit eher das Gegenteil passiert. Die Abrüstungskurve ist in den letzten Jahren abgeflacht und einige Staaten wie China und Großbritannien wollen mehr Nuklearwaffen. Zudem werden die Arsenale aller Nuklearwaffenstaaten modernisiert. Angesichts dieser Entwicklung sehen sich Staaten ohne Atomwaffen getäuscht. Deshalb wurde vor kurzem der Nuklearwaffenverbotsvertrag auf den Weg gebracht, der Nuklearwaffen völkerrechtlich verbietet und die langfristige Abrüstung verfolgt.

Wie kann die militärische Nutzung von Atomwaffen moralisch gerechtfertigt werden?

Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, welche moralische Brille man sich aufsetzt. Atomwaffen zu besitzen, kann als moralisch gerechtfertigt gesehen werden, um die Sicherheit des eigenen Staates und von Verbündeten zu garantieren. Die gegensätzliche Position lehnt Atomwaffen als inhärent unmenschlich ab, auch weil man im Fall eines Einsatzes dieser Waffen nicht, oder nur sehr schwer, zwischen Militär und Zivilist:innen unterscheiden kann. Eine dritte Position schlägt den Mittelweg ein, indem sie den Besitz von Nuklearwaffen als einstweilig vertretbar erachtet, sofern dieser an strikte Bedingungen geknüpft ist. Etwa, dass diese Waffen ausschließlich zur Selbstverteidigung eingesetzt werden.

Heutzutage verweisen die Nuklearwaffenstaaten darauf, dass sie Nuklearwaffen für die Abschreckung benötigen, solange diese Waffen existieren.

Ist es nicht ungerecht, einigen Staaten den Besitz von Atomwaffen zu erlauben und den anderen nicht?

Der Atomwaffensperrvertrag war darauf angelegt, dass auch diese fünf Staaten längerfristig ihre Atomwaffen abrüsten sollen. Der Artikel 6 des Vertrages sollte dafür sorgen, dass es längerfristig nur mehr Staaten ohne Atomwaffen gibt. Aber die Formulierung dieses Artikels ist sehr vage, lässt viel Raum für Interpretation, sonst hätten auch die Nuklearwaffenstaaten einem solchen Artikel nicht zugestimmt. Heutzutage verweisen die Nuklearwaffenstaaten darauf, dass sie Nuklearwaffen für die Abschreckung benötigen, solange diese Waffen existieren. Zudem betonen sie, dass sie „verantwortungsvolle Nuklearwaffenstaaten“ seien. Die Vereinigten Staaten etwa haben mehrfach argumentiert, dass eben ein Unterschied besteht, ob der Iran oder Nordkorea Nuklearwaffen besitzen oder sie. Denn die USA beanspruchen für sich eine verantwortungsvolle Macht zu sein, die weiß, wie man mit Nuklearwaffen umzugehen hat.

 

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Peter Gasser Fr., 04.03.2022 - 10:06

Zitat: “Allerdings gehe ich davon aus, dass keine der beiden Seiten gezielt ein Kernkraftwerk angreifen wird”:
diesen Satz hat der Kriegsverbrecher Putin heute nacht de facto widerlegt.
Das ist sehr schade, dass jede Schranke fällt, wenn schädliche Menschen Ihr Ego bedienen - koste es was es wolle.
Zuletzt hat dies Hitler in Europa verursacht.

Fr., 04.03.2022 - 10:06 Permalink