Gesellschaft | Gastbeitrag

Moralisierende Fallbeile

War der Südtiroler Abgeordnete Friedrich Toggenburg wirklich ein Faschistenfreund? Eine Gegenrede seines Urenkels Gabriel N. Toggenburg zum Beitrag von Günther Pallaver.
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Foto: Sammlung Palais Mamming

Am 24.4. erschien auf Salto.bz ein Gastbeitrag von Günther Pallaver zum Verhältnis der SüdtirolerInnnen zum Faschismus. Der Beitrag steht unter dem Titel eines Zitates des ehemaligen Statthalters von Tirol, k.k. Innenministers und Abgeordneten Friedrich Toggenburg (1866-1956): „Se fossi italiano, probabilmente sarei fascista“.
Ist das aber wirklich wahr?
Was steigt aus den dunklen Schatzkammern der Geschichte empor? Was bleibt für immer dort verborgen? Wie kommt es, dass manch eine historische Biographie sich bis ins Detail in unser geschichtliches Bewusstsein gräbt, während die Erinnerung an das Wirken Anderer bis zur Absurdität verkürzt erscheint? Die Mechanismen der Erinnerungskultur sind so unbekannt wie erstaunlich. Das lässt sich am Beispiel von Friedrich Toggenburg auf eindrucksvolle Weise zeigen und fand im eingangs erwähnten Salto-Beitrag eine weitere Bestätigung.

Von wem ist die Rede?

 

Friedrich Toggenburg dürfte der wohl einzige Politiker des Landes sein, der im alten Tirol der Donaumonarchie als auch im neuen Tirol Italiens dem Land als Jurist, Beamter, Statthalter, k.k. Innenminister und schließlich Abgeordneter in Rom an jeweils vorderster Stelle diente. Ganz ohne Zweifel war er zu seiner Zeit nicht nur ein „ganz Großer“, sondern auch ein ausgleichender Politiker, der sich großer Beliebtheit erfreute wie sich aus zeitgenössischen Dokumenten ablesen lässt.

 

 

Wer aber nach einem Weg, geschweige denn einer Straße oder gar Platz sucht, die heute nach diesem Mann benannt wären, der sucht vergeblich im ganzen Land. Eine Erklärung dafür mögen sechs Worte sein, die buchein, buchaus, von Fußnote zu Fußnote, von Aufsatz zu Aufsatz mit beachtlicher Nonchalance blind übernommen wurden (und sichtlich noch werden) ohne sich die Mühe einer Kontextanalyse zu machen. Das Zitat hat in seiner Berühmtheit schon lange seinen Autor überholt und führt ein Eigenleben, das Friedrich Toggenburg zu einer blassen, fast vergessenen Fußnote seiner eigenen sechs Worte werden hat lassen.

Das Zitat hat in seiner Berühmtheit schon lange seinen Autor überholt und führt ein Eigenleben, das Friedrich Toggenburg zu einer blassen, fast vergessenen Fußnote seiner eigenen sechs Worte werden hat lassen.

 

Kronzeuge wider Willen

 

„Se fossi italiano, probabilmente sarei fascita“. So hat es Friedrich Toggenburg dem Journalisten Luigi Barzini gegenüber vor fast exakt 102 Jahren in einem langen, im Palais Toggenburg gehaltenen Gespräch mit auf den Weg gegeben. Dass die Worte so gefallen sind, steht ziemlich außer Zweifel. Denn nachdem das Interview am 11. Mai 1921 auf Seite 2 des Corriere della Sera veröffentlicht wurde, schrieb Toggenburg den Corriere an mit der Bitte um eine Berichtigung.  Berichtigen wollte er aber nicht seine Aussage zum Faschismus. Er wollte lediglich eine Äußerung des Redakteurs Barzini berichtigen. Denn dieser hatte Toggenburg als „capo“ beschrieben, der das „quartetto tedesco“ (gemeint sind die Abgeordneten Reut-Nikolussi, Tinzl, von Walther und Toggenburg) im Römischen Parlament „dirigiere“. Toggenburg zeigte sich darob peinlich berührt und unterstrich, dass er nicht der „capo“, sondern ein „semplice membro“ der Delegation sei. Diese Berichtigung erschien am 22. Mai 1921 auf Seite 2 des Corriere. Zum „Faschistensager“: Schweigen.

 

 

 

Die langfristige Folge: Toggenburg wurde in den nachfolgenden Generationen in die Rolle des Faschistenverstehers gezwungen. Und nun sichtlich auch noch in die Rolle eines Kronzeugen: Seht her, so schlampig gehen die Südtiroler seit jeher mit dem Faschismus um. Die Unterstellung von Günther Pallaver im Salto, dass Friedrich Toggenburg, den Bozner Blutsonntag und den durch Faschisten verübten Mord am Lehrer Franz Innerhofer nach 2 Wochen „schon längst wieder vergessen“ habe, entbehrt jeglicher Grundlage und wirkt wie Geschichtsvergessenheit par excellence! Das soll allen Ernstes Friedrich Toggenburg und seine damalige Rolle beschreiben? Dass in der Vergangenheit selbst verdiente und renommierte Historiker wie etwa Leopold Steurer das „Toggenburg-Zitat“ recht analysebefreit, quasi des Geschmackes wegen, verbreitet haben, macht die Sache nicht wirklich besser.

 

Ideales Feindbild der Faschisten

 

Ein Blick zurück zeigt, wie wenig man über Friedrich Toggenburg heute weiß. Denn jener Toggenburg, der heute in das Licht eines Möchtegernfaschisten gestellt wird, war einst das personifizierte Feindbild der Faschisten. Friedrich war damals einer breiten Öffentlichkeit als einer der letzten Innenminister der Donaumonarchie lebendig in Erinnerung. Ebenso bekannt war er noch aus seiner Zeit als königlich kaiserlicher Statthalter von Tirol. Für die Faschisten Italiens war er damit die Verkörperung des Bösen.

 

 

Als Parlamentarier stand er auf der Abschussliste der Faschisten ganz oben. Er verkörperte alles wogegen sie waren.  Seine Wahl in die Abgeordnetenkammer wurde von Ihnen als einzige Provokation empfunden. Aktenkundig ist zum Beispiel, dass der Faschist und Parlamentarier Franceso Giunta den Südtiroler Toggenburg nicht nur passioniert hasste, sondern ihn lieber heute als morgen eigenhändig ermordet hätte. So hat er seinen faschistischen Parteigängern nach Bekanntgabe der Südtiroler Wahlergebnisse geschworen dafür zu sorgen, dass der verhasste Exminister Toggenburg, das römische Parlament „nicht lebend betreten werde“.

 

Vergessene Faschistenschläge

 

Am 11. Juni 1921 übergab Giunta einen öffentlichen Brief an die Presse in dem er Toggenburg als „Schatten des vergangenen Reiches“ und als ehemaligen Minister „der Henker“ bezeichnet, der in das römische Parlament entsandt wurde, mit der Absicht, das italienische Volk zu verhöhnen. Der Brief drohte mit Schlägen auf Friedrichs „schmutzige deutsche Schnautze“ – so heißt es wörtlich im öffentlichen Schmähbrief. Das war sicher nicht die einzige faschistische Drohung die Friedrich damals in Empfang nehmen musste.

 

Ein Blick zurück zeigt, wie wenig man über Friedrich Toggenburg heute weiß.

 

Dass Friedrich Toggenburg den Bozner Blutsonntag nach 2 Wochen „schon längst wieder vergessen“ hatte wie im erwähnten Salto Beitrag zu lesen war, ist bereits vor dem Hintergrund der nüchternen Faktenlage eine verwunderliche Spekulation: einer der führenden Köpfe des faschistischen Mobs am Blutsonntag war jener Francesco Giunta der öffentlich den Kopf Toggenburgs forderte. Giunta war übrigens kein Niemand, sondern Freund und Bewunderer von Mussolini und später gar 5 Jahre Untersekretär im Amt des Ministerpräsidenten. Toggenburg „Vergesslichkeit“ in diesen Dingen vorzuwerfen, die ihn nicht nur als Politiker, sondern ganz unmittelbar auch persönlich betrafen ist weder evidenzbasiert noch überzeugend. 

 

Antifaschist aber Italienerfreund

 

Ich denke das alles zeigt bereits recht deutlich, dass die These des Faschistenfreundes ein wunderliches Pflänzchen ist. Im Übrigen hätte es vielen Autoren geholfen, das notorische Interview nicht nur zu zitieren, sondern auch zu lesen, am besten in ganzer Länge und ohne ideologische Vorbehalte. Dort beschwert sich Toggenburg über den damaligen Ministerpräsidenten, dass dieser „disordini fascisti“ dulde und prangert die Vorkommnisse des Blutsonntags an („fatti come quelli dell’altra domenica sono intollerabili”) und lamentiert sich über die Regierung „che si dimostra incapace della semplice protezione dell’ordine”. Das entspricht im Übrigen ganz seiner Abneigung Massenphänomen und Personenkulten gegenüber. Eine deutlich faschismusfeindliche Einstellung kommt auch in Privatbriefen an Friedrichs Sohn (meinen Großvater Paul) zum Ausdruck. Während Friedrich den Nationalsozialismus bereits in seinen Anfängen tief verabscheut hat, war sein Sohn Paul den Lockrufen der großdeutschen Idee (wie viele andere Südtiroler) durchaus angetan. Allerdings zum - fast durch die Zeilen ihres Briefverkehrs hörbaren - Entsetzen seines Vaters.

 

 

Unbestreitbar ist, dass Friedrich Toggenburg stets dezidiert, „italienerfreundlich“ war, was wohl auch der Redakteur Barzini in besagtem interview bemerkte, und auch leicht erstaunt anfügte, dass Toggenburg das Gespräch in makellosem Italienisch führte. Bereits als Statthalter von Tirol hat sich Toggenburg für die italienische Bevölkerung eingesetzt und als Chef der k.k. Zivilverwaltung auch stets versucht, der Militärverwaltung Grenzen zu setzen, wie in der Studie von Gerd Pircher zu Verwaltung und Politik in Tirol nachzulesen ist.

Unbestreitbar ist, dass Friedrich Toggenburg stets dezidiert, „italienerfreundlich“ war.

Der spätere Senator Enrico Conci berichtete, dass Friedrich als Statthalter einmal ihm gegenüber sagte, dass er sein Mandat als Statthalter zurücklegen würde, wenn die italienische Bevölkerung mit seiner Amtsführung unzufrieden sei. Das spricht für ein ganz anderes Amtsverständnis als die Faschisten glauben machen wollten.

 

Appeasement und Realpolitik

 

Was freilich bleibt, ist die Frage, was Friedrich Toggenburg mit der Bemerkung „Se fossi italiano, probabilmente sarei fascita“ nun wirklich sagen und bewirken wollte. Hierzu kann man nur spekulieren.  
Ich deute das „Toggenburg-Zitat“ als ein verhandlungstaktisches Signal an die Italiener, das Empathie signalisiert: seht her, ich kann mich in Eure Situation hineindenken. Ich sehe die wirtschaftlichen und politischen Nöte in Italien. Stünde ich auf Eurer Seite, so wäre ich wohl auch gefährdet, mit den Versprechungen des Faschismus zu sympathisieren! Wir hier in Südtirol brauchen so etwas aber nicht. Denn, so sagt er tatsächlich in demselben Interview, in Südtirol gibt es auch ohne Faschismus „ordine, disciplina, rispetto alla lege, e il fascismo non ha niente da fare“. Friedrich Toggenburg appelliert an die Würde des italienischen Volkes und ist sich gleichzeitig bewusst, dass ein Kampf um das politische System in Italien weit außerhalb der Reichweite des „quartetto tedesco“ liegt. Das ist rational und macht realpolitisch Sinn.

 

 

Sich auf eine Diskussion, um die Verwerflichkeit des Faschismus in Italien (also auf nationaler Ebene) einzulassen in einem Moment, in dem das Schicksal Südtirols am seidenen Faden hang, wäre reichlich weltfremd gewesen und sicher nicht im Sinne der Interessen Südtirols. Was Toggenburg wollte, machte er im Interview sehr klar: „un modus vivendi accetabile“. Und weiter: „una autonomia che conservi la nostra lingua, il nostro carattere, la nostra nazionalità, le nostre istituzioni, la nostra amministrazione”.  Und dazu gibt er noch als schlaues Sahnehäubchen dazu: „l’autonomia ottenuta potrebbe sopire il patriotismo tedesco“. Auch die darin still enthaltene Drohung an die italienische Regierung war sicher nicht versehentlich platziert.

 

Missglückte Rezeption eines Zitates

 

Wie so oft ist auch hier Südtirol – frei nach Friedrich Hebbel - eine kleine Welt, in der die große ihre Probe hält. Überall in Europa wird quasi aus sicherem Abstand der Nachwelt spekuliert, wer wann wie dem heraufziehenden Faschismus gegenüberstand. Im Mittelpunkt der Debatte steht wohl das Zitat des Antifaschisten Churchill. Noch 1927 hat er in einer Rede in Rom gesagt, dass er – wäre er Italiener gewesen – von Beginn an, an Mussolinis Seite gestanden hätte, um den Leninismus zu bekämpfen. Diese Episode bekam dann noch einen Überbau durch den Skandal um die angebliche Aktentasche Mussolinis, in der unzählige Geheimbriefe von Churchill an Mussolini versteckt gewesen sein sollen. In den 50-er Jahren wurde dann sogar die Entdeckung eines gefälschten Geheimabkommens zwischen den beiden Politikern lanciert. All diese wohl platzierten Dubiositäten sind für Faschisten natürlich gute publicity, denn es macht sie im Nachhinein salonfähig.

Hätte sich das offizielle Südtirol ohne die misslungene Rezeption dieses Zitats vielleicht doch etwas mehr bemüht, das Andenken an Friedrich Toggenburg aus der Schatzkiste der Geschichte zu ziehen?

Am Ende stehen ein Seufzer und eine Frage. Der Seufzer: nach empfundenen 1001 Fundstellen, in denen das Zitat von Friedrich Toggenburg blind übernommen wurde, kann man nur schließen, dass aus dem Zusammenhang gerissene Zitate ein ungeeignetes Feld für moralisierende Fallbeile sind. Und die Frage zum Schluss: Hätte sich das offizielle Südtirol ohne die misslungene Rezeption dieses Zitats vielleicht doch etwas mehr bemüht, das Andenken an Friedrich Toggenburg aus der Schatzkiste der Geschichte zu ziehen und ihn als das zu würdigen, was er war: ein außerordentlicher Politiker, dem selbst in schwersten Zeiten der Landesgeschichte das Zusammenleben der Volksgruppen bereits ein Herzensanliegen war?

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Salzer Claudio Mi., 03.05.2023 - 22:08

Nach dem wahrlich schlampigen Notizen Pallavers – nichts daran war Wissenschaft, alles Polemik – hat sich dieser Autor hier zumindest Zeit genommen und Details geliefert. Denn diese erlauben einen ehrlicheren Blick auf die Widersprüchlichkeit der Geschichte.
Diese Mühe hat sich Pallaver freilich nicht angetan. Seine grob vereinfachenden Pauschalurteile aus der sicheren Distanz der Jahrhunderte hingegen bewirken nur eines: unsere komplexe Geschichte wird zum Spielball anmaßender Nachgeborener. Und werden sehr schnell vergessen werden …

Mi., 03.05.2023 - 22:08 Permalink
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Sigmund Kripp Do., 04.05.2023 - 07:27

Nach dem Zusammenbruch der Monarchie und in den Jahren der aufkommenden und sich festigenden Faschismen nördlich und südlich des Brenners waren wohl viele Menschen der Generation F. Toggenburgs gegen diese neue Regierungsformen. Sie waren gegen die Nationalsozialisten bzw. gegen die Faschisten. Aber deswegen waren sie nicht unbedingt Republikaner! Gar einige von ihnen schlossen sich in Österreich dem Dollfuß Regime an oder waren Monarchisten (und deswegen von den Nazis verfolgt!); und in Südtirol, na ja, da gab es das halt nicht. Ich denke, die Aussagen von Toggenburg sollten auch in diesem Licht gesehen werden.

Do., 04.05.2023 - 07:27 Permalink
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Walter Kircher Fr., 05.05.2023 - 08:55

Es ist für mich als Geschichtsinteressierten schon manchmal verstörend zu erleben, wie manche Berufshistoriker mit Geschichte umgehen. - Es wäre schön, wenn die Genannten ENDLICH unsere politisch-Verantwortlichen auffordern würden, - sich ENDLICH dafür einzusetzen, die ursprünglichen Ortsnamen-deutsch-ladinisch, - wieder in das amtliche Verzeichnis zurückzuführen!

Fr., 05.05.2023 - 08:55 Permalink