Kultur | Salto Gespräch

„Singen muss man dafür nicht können“

Das Leben ist beschwerlich, auch in Südtirol: Der erste Beschwerdechor Südtirols sucht daher in Brixen nach Mitgliedern. Fragen an Marion Feichter, Chorleiterin in Spe.
Marion Feichter
Foto: Julia Wesely
2005 in Birmingham vom deutsch-finnischen Künstlerpaar Tellervo Kalleinen und Oliver Kochta-Kalleinen erfunden und mittlerweile in alle Welt exportiert ist das Konzept eines Beschwerdechors schnell erklärt: Ein Chor aus Laien spricht und musiziert ausgehend von alltäglichen oder gesellschaftlichen Problemen um ein Thema herum, bis am Ende ein - nicht immer, aber oft - humorvolles Lied entsteht. Das bringt Sichtbarkeit für ein Thema nach außen und eine gewisse Besserung nach innen. Sich zu beschweren erleichtert einen. Wem geht es nicht zumindest eine Spur besser nachdem sie oder er sich gegenüber einem offenen Ohr beschwert hat? Auf der Gegenseite ist es dabei leicht, die Ohren vor einer Person zu verschließen, vor vielen hingegen weniger.
Die Brixner Dekadenz, deren Präsident Adolf Engel Ideator des Projekts „Brixner Beschwerdechor“ ist, ging vor Kurzem mit der Suche nach Mitgliedern an die Öffentlichkeit, eine Chorleiterin gibt es bereits: Die Cellistin und Sängerin Marion Feichter, die im Herbst eine Professur am Konservatorium in Innsbruck antreten wird und selbst ausgebildete Jazz- und Popsängerin ist.
 
salto.bz: Frau Feichter, das Format Beschwerdechor wurde in diesem Jahr volljährig und ist damit kein ganz „junges“ mehr. Gab es einen konkreten Anlass zur Gründung, etwas worüber man sich bereits beschweren könnte?
 
Marion Feichter: Die Idee stammt vom Präsident der Dekadenz, Adolf Engl und er fand - denke ich - einfach das Konzept cool und hatte schon länger vor, das in Brixen oder Südtirol auf die Beine zu stellen. Mit der Dekadenz haben wir da eine gute Partnerschaft und ich persönlich habe noch nichts Konkretes, aber mehrere Möglichkeiten im Sinn. Das sind Dinge bei denen ich finde, dass man ein Licht auf sie scheinen lassen, mit Musik darauf hinweisen könnte und es da etwas zu tun gäbe.
Es wird eine Kooperation mit vielen Personen werden: Menschen die komponieren, Menschen die texten und Menschen die singen. Wir haben aber noch kein konkretes Stück, wollen zuerst mal ein Chor werden und dann sehen, worüber wir uns alles beschweren können.
 
Vorstand Dekadenz: Lisa Frei, Walter Richter, Adolf Engl, Margot Mayrhofer, Max von Pretz (v.l.n.r.)
Der Dekadenz Vorstand: Lisa Frei, Walter Richter, Adolf Engl, Margot Mayrhofer, Max von Pretz (v.l.n.r.). | Foto: Dekadenz
 
Viele Beschwerdechöre setzen auf eine Webseite oder Mail-Adresse als eine Art Kummerkasten, bei dem mögliche Beschwerden von außerhalb des Chors abgegeben werden können. Wäre das für den Brixner Chor auch interessant so ein Ohr zur Stadt hin zu haben?
 
Bestimmt, auf jeden Fall. Ich weiß nicht ob das von Anfang an vorgesehen ist, würde mir aber wünschen, dass man Themen einbringen kann. Denn, dass man für Vorschläge von außerhalb auch offen ist, ist in jedem Fall wichtig.
 
Ich persönlich wünsche mir, dass das Projekt musikalisch möglichst vielseitig wird, damit wir - auch gesanglich - möglichst viel dabei lernen und es für die Mitglieder interessant wird.
 
Auf ein musikalisches Genre lassen sich Beschwerdechöre selten festlegen, gesungen wird meist ein bunter Mix, der zum Teil von Klassik bis zu Hiphop reicht. Wäre zur Zeit für den Brixner Beschwerdechor eine gewisse musikalische Stilrichtung vorgesehen?
 
Nein, er sollte eigentlich wie andere Beschwerdechöre musikalisch total offen sein. Ich persönlich wünsche mir, dass das Projekt musikalisch möglichst vielseitig wird, damit wir - auch gesanglich - möglichst viel dabei lernen und es für die Mitglieder interessant wird. Dann kann man mal da und mal dort hineinschnuppern. Ich hoffe da, dass unsere Komponist:innen möglichst vielseitig sind und uns im Laufe der Zeit auch fordern.
 
Sie suchen mit der Bekanntmachung nun auch nach Stimmen für den Chor. Wer soll sich dabei angesprochen fühlen? Ist es okay, wenn in der Gesellschaft etwas in Schieflage ist, darüber auch schief zu singen?
 
Natürlich. Es geht wirklich nicht darum mit einem Diplom daherzukommen. Wir haben wirklich Lust jede oder jeden, unabhängig vom Vorhandensein von musikalischen Vorkenntnissen da dabei zu haben. Ich denke, es ist vor allem wichtig, eine offene Einstellung zu haben und Lust, Dinge auszuprobieren und dabei zu sein. Man sollte sich mit Themen durchaus sowohl ernsthaft als auch humorvoll befassen wollen, da der Chor ja keine Erschwernis für das eigene Leben sein sollte. Vielmehr ein cooles Ventil, das sowohl musikalisch, als auch inhaltlich fordernd und fördernd sein sollte. Singen muss man dafür nicht können, auf keinen Fall.
 
Aber man muss es wollen…
 
Ja, genau, man muss es wollen!
 
Brixner Beschwerdechor
Brixner Beschwerdechor: Ein Logo hat er schon, einige Mitglieder sucht der erste Beschwerdechor Südtirols noch. | Foto: Dekadenz Brixen
 
In Bozen wird derzeit darüber diskutiert, welche Musik wo willkommen ist, in Anbetracht der Polemik um das Altstadtfest und die Vorkommnisse um das Konzert der ADMO am Rathausplatz vor drei Monaten. Ist die Situation in Brixen besser, gibt es mehr Wohlwollen gegenüber Musik im öffentlichen Raum?
 
Dazu kann ich im Speziellen nichts sagen, da ich nicht in Brixen wohne und dort keine eigenen Erfahrungen gesammelt habe.
Zum Thema allgemein muss ich sagen: Es ist Wahnsinn. Es ist schon wahnsinnig schwierig ein Konzert zu organisieren und das ist ein Thema über das ich auch kreativ zu schreiben wüsste. Allein schon wieviel Bürokratie und Probleme kleinen Künstlern gemacht werden, bevor sie zu Auftrittsmöglichkeiten kommen, die wirtschaftlich einigermaßen sinnvoll sind. Das ist allgemein so in Südtirol, ich bin derzeit auch mit einem „Gig“ beschäftigt und dabei wird man alt. Wie oft man hin und her geschickt wird, wenn man einfach nur sein Album spielen möchte, das kann nicht sein.
Zur Lautstärke muss man sagen: Es gibt gesetzliche Vorgaben und man kann mittlerweile mit dem Smartphone messen, ob eine Band zu laut ist. Alles das, was unter diesem Pegel stattfindet ist meiner Meinung nach in Ruhe zu lassen. Was soll das? Geschmäcker sind verschieden. Wenn ich als Anrainer:in keine Rockmusik mag, dann muss ich das maximal für ein, zwei Tage ertragen. Es gibt auch viel an Musik, was ich nicht mag, aber ich würde mir auch nicht herausnehmen zu sagen, dass diese vor meiner Haustüre nicht stattfinden darf. Ich finde das extrem schade. Es gibt so viele Genres und Sub-Genres, die dann auf einmal als Lärm gelten.
 
Wir wollen mit unserem Stück und unserer aktuellen Beschwerde dort hingehen, wo sie hingehört.
 
Denken Sie es ist für den Chor auch ein Anliegen im öffentlichen Raum aufzutreten oder sucht man sich einen Innenraum für die Auftritte? Die Dekadenz ist für einen Chor etwas klein…
 
Das stimmt. Der Wunsch und der Plan führen auf jeden Fall in den öffentlichen Raum. Wir wollen mit unserem Stück und unserer aktuellen Beschwerde dort hingehen, wo sie hingehört. Wir wollen uns nicht über die Situation der - ein Beispiel - Gesundheitsversicherungen beschweren und darüber in der Dekadenz singen und sagen: „Kommt zu uns und zahlt am besten noch Eintritt.“ Der Wunsch ist es, nach draußen zu gehen und die Straße zu füllen mit dem, was wir ansprechen wollen.
 
Wird man dann viel unter dem Fenster des Rathauses stehen oder gibt es genügend Probleme, die nicht durch die Politik zu lösen sind?
 
Ich denke, dass es durchaus vielseitiger wird als nur vor einem Land- oder Gemeindehaus zu stehen. Ich denke es gibt da vielfältige Lösungen, die wir - so hoffe ich - finden und ausschöpfen können. Der Chor ist ja auch ein langfristiges Projekt und es geht nicht darum, möglichst viel in einem Jahr unterzubringen. Es soll - für mich - wirklich ein Kunstprojekt sein und ich wünsche mir auf der einen Seite sowohl inhaltlich, als auch musikalisch gute Qualität und auf der anderen Seite soll es oft eben auch ein bisschen stechen, stupsen und schmerzhaft sein. Es sollte Humor haben und konstruktiv sein.
 
Ich verstehe schon, dass nicht auf jeder Veranstaltung Platz für alle Genres ist und auch, dass es Veranstaltungen gibt, auf die Musikkapellen ganz wunderbar passen (...)
 
Gäbe es an Ihrer Heimatgemeinde Bruneck etwas, dass Sie stören und zu einem Lied inspirieren würde?
 
Ja, sicher. Ich wohne zwar seit zwölf Jahren in Deutschland und ziehe jetzt um nach Wien und Innsbruck, bin aber auch regelmäßig über den Brenner unterwegs. In Bruneck - wie im Rest Südtirols - würde ich wahrscheinlich ein wenig die Förderpolitik für Nischenprojekte, kleine Bands und Straßenmusik ansprechen wollen. Auch die Organisation von Festen und der Umgang mit Kultur im öffentlichen Raum sind zu thematisieren. Mir fallen da auch Stadtfeste ein: Wie hoch sind die Gagen, welche Gäste und welche Bands sind erwünscht? Ich verstehe schon, dass nicht auf jeder Veranstaltung Platz für alle Genres ist und auch, dass es Veranstaltungen gibt, auf die Musikkapellen ganz wunderbar passen, wo sie ihren absolut berechtigten Platz haben sollten. Auch dass die Hochkultur ihre eigenen Plätze hat ist wundervoll, es braucht aber auch wirtschaftlich rentable Plätze für andere musikalische Interessensgruppen.
Auch für die Jugendförderung würde ich viel Platz sehen. Die Kultur, welche die Pop-, Rock-, Punk-, Ska-Musik und was da noch kommen mag mitbringen, wo viele Leute das nur als Lärm abtun, da könnte man mit Verständnis und Förderungen dafür sorgen, dass man sich als Kulturarbeiter selbst ernst nehmen kann.
 
3 Groschen Oper: Michaela Zetzlmann, Patrizia Solaro, Ingrid Lechner, Peter Schorn, Doris Warasin, Josef Lanz, Andreas Zingerle, Daniel Goggi, Margot Mayrhofer  (v.l.n.r.)
3 Groschen Oper: Michaela Zetzlmann, Patrizia Solaro, Ingrid Lechner, Peter Schorn, Doris Warasin, Josef Lanz, Andreas Zingerle, Daniel Goggi, Margot Mayrhofer (v.l.n.r.). Die Aufführung von 2012 zeigt, dass es für einen Chor in der Dekadenz eng werden könnte, aber auch, dass Sprech- und Singchöre immer wieder einen Weg in Stücke und auf die Bühne finden. | Foto: Arnold Ritter
 
Apropos ernst nehmen, was gelingt mit Humor und Ironie, das durch eine trockene Beschwerde vielleicht nicht klappt? Wie verändert ein Beschwerdechor die Kommunikation?
 
Mit Musik und einem leichten Zwinkern wird das vielleicht lieber gehört. Vielleicht wird einem da länger zugehört und jemand sagt: „Okay, vielleicht kann man das lockerer angehen.“ Vielleicht ist auch einfach der Stempel den man einem Thema aufdrückt dicker, die Überschrift größer und damit klarer, dass Musik auch so klingen kann. Und das eigene Vorurteil, wie etwas zu klingen hat ist vielleicht zu überdenken.
 
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Sylvia Mair So., 03.09.2023 - 14:28

liebe Dekadenz,

zum mitsingen im chor lebe ich etwas zu weit weg,
aber ich habe einen vorschlag für eine beschwerde:

es muss schluss sein mit der verkehrten welt, in der wir
bürger*innen als der eigentliche souverän - die auftraggeber - zu einer untertanenhaltung
gegenüber unseren politischen vertretern - den auftragnehmern - erzogen werden und uns so verhalten.
das gesamte politische system muss sich verändern, die repräsentative demokratie (= wahlsystem)
muss erneuert werden, und die bürger*innen müssen direktdemokratisch über alles mitenscheiden können.

das ist ein zentraler punkt, von dem alles andere abhängt, ob förderungen,
umwelt, gesundheitswesen, schule, kultur, sport, tourismus und vieles mehr.

ändert sich hier nichts, wird sich das herumbrotteln der bürger*innen
auf ewig fortsetzen und sogar gefördert werden nach dem motto: soll'n sie sich ruhig abreagieren,
da und dort bekommen sie ein leckerli, ansonsten wird weitergemacht wie gehabt.

So., 03.09.2023 - 14:28 Permalink
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△rtim post Mo., 04.09.2023 - 12:04

Eine gute Nachricht, dass es das nun endlich auch in Südtirol gibt! Zeit aus so viel Frust, Lust zu machen und einen musikalischem Beschwerdechor aufzustellen.
Wie wäre es nach dem Format "Blinddates" z.B. mit einem "Wechselchor" der Kandidatinnen und Kandidaten bzw. der Anhänger-innen der unterschiedlichen Listen?

Mo., 04.09.2023 - 12:04 Permalink