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Systemsprenger

Deutscher Oscar-Kandidat, ein Preis auf der Berlinale. Das Debüt von Nora Fingerscheidt macht zur Zeit groß von sich reden. Doch was kann der Film wirklich?
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Foto: Filmladen

Als „Systemsprenger“ bezeichnet man Kinder und Jugendliche, für die niemand einen Platz findet. Nicht im Elternheim, nicht in der Schule, nicht in Erziehungsanstalten oder bei Zieheltern. Sie brechen immer wieder aus und bringen die etablierten Strukturen ins Wanken. Die Gründe können vielfältig sein. Niemand kennt sie genau, und pauschales Denken ist nicht möglich. Deshalb „sprengen“ diese Menschen das System. Benni ist eine von ihnen. Sie ist ein auf den ersten Blick zartes, blondes Mädchen, neun Jahre alt und die ältere Schwester von zwei Geschwistern. Mit denen lebt sie aber schon länger nicht mehr im selben Haus. Das Jugendamt nahm sie ihrer Mutter weg und steckte sie in ein Heim. Schnell zeigt sich, dass Benni nur schwer zu kontrollieren ist. Plötzliche Wutausbrüche und Randale sind an der Tagesordnung. Verliert das Mädchen erst mal die Kontrolle, kann kaum wer sie stoppen. Dann schreit und tobt sie und zerstört alles, was ihr in den Weg kommt. Ob dieser Ausnahmesituation will sich niemand um das Mädchen kümmern. Es wird weitergereicht wie ein Paket. Beinahe wöchentlich muss Benni ihren Wohnort wechseln. Die Erziehungsexperten und Ärzte stehen vor einer Niederlage. Wie soll man mit solch einem Menschen umgehen? Ihr Umfeld und die Menschen darin leiden unter der tickenden Zeitbombe namens Benni. Kinder werden gefährdet, Erwachsene sehen sich völliger Machtlosigkeit ausgesetzt.

SYSTEMSPRENGER - Trailer

Nora Fingerscheidt erzählt in ihrem Erstlingswerk von einem Fall, der nur allzu real scheint. Die Regisseurin betont zwar, dass ihr Film bei weitem nicht so schlimm wie die Realität ist, das heißt aber nicht, dass sich „Systemsprenger“ im schonungslosen Aufzeigen der Folgen gescheiterter Therapien zurückhält. Fingerscheidt legt den Finger tief in die Wunde, zieht ihn aber im richtigen Moment wieder zurück.

„Systemsprenger“ geht unter die Haut und dürfte kaum jemanden unberührt lassen. Er macht nachdenklich und zeigt auf, wie wichtig der richtige Umgang mit Kindern von Klein auf ist.

Als Zuschauer begleiten wir Benni durch ihren aufreibenden Alltag. Wir lernen das Mädchen kennen und sehen schnell, dass unter der tobenden Oberfläche ein freundliches, neugieriges Kind wartet. Oft durch das Unwissen ihrer Mitmenschen, oft durch plumpe Provokation wird diese Basis aber nicht selten vom Zorn übertüncht. Dann wird Benni ein Monster in Rosa. Gespielt wird sie von Helena Zengel, die ohne Zweifel der Höhepunkt in der zweistündigen Erzählung ist. Beeindruckend sicher verkörpert sie ihre labile Figur und beängstigt mit erschreckend real wirkenden Ausbrüchen. Viel stärker ist die junge Schauspielerin jedoch, wenn sie nichts sagt, sondern nur böse und berechnend blickt, ihr Gegenüber mustert und stumm zu einem Duell fordert. Hinter den stechenden Augen geht viel vor, auch mehr, als man einer Darstellerin in Zengels Alter zutrauen würde. Wut trifft auf Verletzlichkeit, und das nimmt man ihr zu jeder Zeit ab. Nora Fingerscheidt hat die optimale Besetzung für ihre Benni gefunden und sie, anders als die Erzieher im Film, zu jeder Zeit unter Kontrolle. Wenn Benni auf den sympathischen und aufgeschlossenen Erzieher Micha trifft und mit unkonventionellen Methoden konfrontiert wird, darf Helena Zengel die subtileren Charakterzüge ihrer Figur zeigen. Ein Glück für den Zuschauer. Zwei Stunden hysterisches Geschrei wären zu viel des Guten gewesen. Fingerscheidt schafft es erstaunlicherweise, sich jedes Mal am Riemen zu reißen. Selbst die drastischsten Situation, etwa wenn Benni ein Kind brutal attackiert, werden nicht aus-erzählt. Der Film schneidet immer in dem Moment, in dem der Zuschauer zum Voyeur verkommen könnte. Die Sehgewohnheiten und die Gier nach dem Exzess wird nicht befriedigt. Das ist auch gut so und dem schwierig richtig zu porträtierenden Thema gemäß. In zumeist unaufgeregten, beobachtenden Handkamera-Bildern zeichnet der Film ein authentisches Bild einer ratlosen Gesellschaft. Dabei hat er jedoch keinerlei dokumentarischen Anspruch, was die Regisseurin durch Musik und Schnitt immer wieder verdeutlicht.

„Systemsprenger“ geht unter die Haut und dürfte kaum jemanden unberührt lassen. Er macht nachdenklich und zeigt auf, wie wichtig der richtige Umgang mit Kindern von Klein auf ist. Denn so viel sei verraten: Benni ist nicht ohne Grund so, wie sie ist. Da hilft der Blick auf ein einfaches Bild. Jede Bombe, die sprengt, wurde von irgendjemanden gebaut.