Gesellschaft | Neustart

„Lockdown und plötzlich ging was“

Professor Dr. Sturzenhecker spricht unter anderem darüber, welche neuen Herausforderungen in Zukunft auf die Offene Jugendarbeit zukommen.
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
Jugendliche Corona
Foto: Pexels

Die Pandemie hat viele Arbeitsfelder verändert, so auch das, der Offenen Jugendarbeit. Vor der Pandemie hat sich die Offene Jugendarbeit (OJA) vor allem in und um Jugendzentren abgespielt und vom direkten Kontakt zwischen Jugendlichen und Jugendarbeiter*innen gelebt. Das klassische Arbeitsfeld der OJA war durch das "Social Distancing" von einem auf den anderen Tag nicht mehr umsetzbar und hat die OJA mit neuen Aufgaben konfrontiert. Prof. Dr. Benedikt Sturzenhecker arbeitet an der Universität Hamburg im Bereich der Sozialpädagogik/ Außerschulische Bildung und gilt als Koryphäe der OJA. Er hat, gemeinsam mit Prof. Dr. Ulrich Deinet, das Forschungsprojekt „Neustart der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in NRW in der Corona-Zeit“ durchgeführt. Neben Erkenntnissen zu der Offenen Jugendarbeit während des Lockdowns, sind sie auch zum Schluss gekommen, dass die Pandemie die Anforderungen an die OJA langfristig prägen wird. 

Herr Professor Dr. Sturzenhecker, der Lockdown hat die Offene Jugendarbeit vor eine große Herausforderung gestellt. War der Kontakt mit den Jugendlichen möglich?

Prof.Dr. Sturzenhecker: Die Fachkräfte haben sehr große Anstrengungen unternommen, die Zielgruppe zu erreichen. Trotzdem war die Breite des Kontakts nicht ansatzmäßig dieselbe wie vorher: Ein Hindernis war manchmal, die nicht ausreichende technische Ausstattung einiger Zielgruppen. Dazu kam, dass nach dem ersten Lockdown die Einrichtungen der OJA wieder zugänglich waren, aber der Besuch mit bestimmten Auflagen verbunden war. So war es bei manchen Einrichtungen notwendig, sich anzumelden, das hat dann öfters ältere Jugendliche abgeschreckt. Das Prinzip der Niederschwelligkeit, also die Inanspruchnahme eines Angebots ohne große Anforderungen, war dadurch beeinträchtigt. Die einzelnen Einrichtungen haben also auch Kontakt zu Jugendlichen verloren.

Man spricht über Jugendliche, aber nicht mit ihnen.

Welche anderen Anforderungen haben sich durch den Lockdown ergeben?

Ein anderes, wesentliches Prinzip der OJA ist die Partizipation. Diese beinhaltet einerseits die Mitbestimmung über die Angebote der Jugendarbeit selbst und andererseits die Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen an der Lebensführung in Gemeinde und Gemeinschaft. In den meisten Ländern war die Situation der Jugendlichen in den Medien und der Öffentlichkeit nicht präsent. Erst als sich im Winter 2020 gezeigt hat, dass sich die psychosoziale Befindlichkeit von Kindern und Jugendlichen zunehmend verschlechterte, rückten sie in die öffentliche Aufmerksamkeit. Jedoch geschah das immer noch wenig durch eigene Artikulation. Man spricht über Jugendliche, aber nicht mit ihnen.

Die einzelnen Einrichtungen haben auch Kontakt zu Jugendlichen verloren.

Können Sie das genauer erläutern?

Jugendliche sind in der Öffentlichkeit vielfach ignoriert und abgestempelt worden. Als Alternative genügt auch nicht, dass ihre Stimme nur hörbar ist. Eine öffentliche Antwort von Politik, Verwaltung und Erwachsenen ist notwendig. Es muss ein gemeinsamer, kommunaler Diskurs darüber entstehen, wie man die Pandemie gemeinsam bewältigen will.

Als Alternative genügt auch nicht, dass ihre Stimme nur hörbar ist.

Wir haben vorher über die Verlagerung ins Digitale gesprochen. Welche Rolle wird der digitale Raum in Zukunft spielen?

Die digitale Ebene ist nicht mehr wegzudenken. Die OJA muss sich stärker in diesem Kommunikationskanal bewegen und präsent sein. Zusätzlich muss sie die Meinungen, Aussagen der Jugendlichen und ihre Selbstdarstellung vom digitalen Raum nach außen, in die Öffentlichkeit, tragen, als Auftakt für gegenseitige Diskurse.

 

 

Welche Kompetenzen brauchen Jugendarbeiter*innen fortan?

An den benötigten Kompetenzen wird sich nichts ändern. Die Jugendarbeiter*innen müssen, wie bisher, die notwendige Reflexivität bewahren und ständig analysieren, was Jugendliche beschäftigt und was sie brauchen. Dazu müssen sie dann mit ihnen immer wieder neue, passende Antworten entwickeln.

Die Selbstorganisation und die Partizipation der Jugendlichen sollte unbedingt gestärkt werden.

Wird die OJA also in Zukunft ein Zusammenspiel aus der mobilen und aufsuchenden Arbeit, der Arbeit in der Einrichtung der OJA und der Arbeit im digitalen Raum sein? 

Bis dato wurde häufig die Einrichtung der OJA als Zentrum gesehen, zudem Jugendliche kommen und Angebote in Anspruch nehmen. Diese Struktur scheiterte in der Krise. Alles, was zentristisch organisiert, auf wenige Personen aufgebaut und auf vorbereitete Angebote ausgerichtet ist, wird nicht mehr funktionieren. Die Jugendarbeiter*innen sollten mobil sein, die Einrichtungen offenhalten und sich gleichzeitig im digitalen und analogen sozialen Raum bewegen. Diese drei Räume gleichzeitig zu bedienen, ist aber viel Arbeit. Deshalb sollten die Selbstorganisation und die Partizipation der Jugendlichen unbedingt gestärkt werden. Jugendliche sollten, unterstützt von der OJA, so selbstorganisiert wie möglich Projekte und Veranstaltungen durchführen.

Die große Herausforderung für die OJA ist mit den Jugendlichen in Kontakt zu kommen.

Sie kennen die Situation in Südtirol gut, fallen Ihnen da bestimmte Spezifika auf?

Nein, mir ist jetzt nichts aufgefallen, was Südtirol bezüglich Corona von anderen Orten unterscheidet. Die große Herausforderung für die OJA ist, auch in Südtirol, mit den Jugendlichen in Kontakt zu kommen. Das kann unterschiedlich gestaltet werden: Im digitalen Raum, im Jugendzentrum oder an den Lieblingsplätzen der Jugendlichen. Vielleicht hilft es dabei zu schauen, wie es die Menschen vor 100 Jahren in den Alpen in den entlegensten Orten schafften, Kontakt mit dem Rest der Welt aufrecht zu erhalten. Wenn man des Digitalen müde wird, kann man vielleicht alte Schmugglerpfade wieder nutzen (lacht).

Die digitale Ebene ist nicht mehr wegzudenken.

Herr Professor Dr. Sturzenhecker, Sie haben kürzlich einen Zwischenbericht zu dem Forschungsprojekt „Neustart der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in NRW in der Corona-Zeit“ veröffentlicht. Was war für Sie die interessanteste Erkenntnis?

Die erste Erkenntnis dieses Forschungsprojekts ist trivial: Offene Kinder- und Jugendarbeit ist ohne Kontakt zu Kindern und Jugendlichen nicht möglich. Von einem Tag auf den anderen wurde, bedingt durch den Lockdown, die Kontaktherstellung zu einer enormen Schwierigkeit und damit zu einer grundlegenden Aufgabe. Das Prinzip der Offenheit und Niederschwelligkeit der OJA war plötzlich in der gewohnten Form nicht mehr umsetzbar. In unserer Studie zeigt sich, dass sehr viele Fachkräfte schnell reagiert haben. In kürzester Zeit wurde die Kommunikation mit den Jugendlichen in den digitalen Raum verlagert. Daneben haben die Jugendarbeiter*innen wieder mehr begonnen, den Sozialraum der jungen Menschen aufzusuchen. Sie sind also dorthin gegangen, wo sich die Jugendlichen draußen aufhalten. Diese digitalen und aufsuchenden Kontaktaufnahmen wurden von Expert*innen schon länger gefordert, haben sich aber bis zum Lockdown nie durchgesetzt. Plötzlich ging was.