Gesellschaft | Psyche & Gesundheit

Kümmert ihr euch?

Die Anlaufstellen für psychische Gesundheit sind tragende Säulen der Gesellschaft. Inwiefern kann das Angebot in Südtirol die vielen Hilfesuchenden auffangen?
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Foto: Unsplash

Während ein Besuch beim Hausarzt zur Routine gehört, haftet auf der Frage nach psychologischer Unterstützung noch immer ein Rechtfertigungsdruck. “Dabei trägt unser psychisches Wohlbefinden genauso zu unserer Gesundheit bei wie das körperliche”, gibt die Vorsitzende der Südtiroler Psychologenkammer, Sabine Cagol zu bedenken. In erster Linie wirkt sich eine unzureichende psychische Betreuung auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der Einzelnen aus. Psychisches Unwohlsein schlägt darüber hinaus aber auch wirtschaftspolitische und gesellschaftliche Wellen: Depression und deren Folgen, wie beispielsweise Arbeitsunfähigkeit zählen zu den kostspieligsten Gesundheitsrisiken weltweit. Ein gutes psy-Betreuungsangebot, – das heißt, psychologische, psychotherapeutische und psychiatrische Hilfestellung –, ist also für Einzelne und die gesamte Bevölkerung unumgänglich. Was aber macht ein solches aus?

 

Eine einfache Rechnung?

 

Pro 100.000 Einwohner braucht es etwa 20 Psychologen, so die Ergebnisse verschiedener Studien. Im italienischen Gesundheitssystem arbeiten pro 100.000 Einwohner etwa 9 Psychologen*. In Schweden 58. Und in Südtirol?

 

40, zählt man allein die Psychologen im öffentlichen Dienst. Dazu kommen Psychologen im privaten und öffentlich-konventionierten Sektor wie den Familienberatungen und Präventionsstellen im Land. Zahlenmäßig scheint Südtirol, was die psy-Unterstützung der Bevölkerung betrifft, also im nationalen und europäischen Vergleich gut aufgestellt zu sein. 

Dass das Thema der psychischen Gesundheit aber nach mehr als einem einfachen Durchschnitt verlangt, zeigen nicht zuletzt die Folgen der Covid-19 Pandemie. Seit Beginn der Pandemie, insbesondere seit der zweiten Welle kämpfen Menschen vermehrt mit Angst- und Panikattacken, Depressionen und anderen Symptomen von psychischer Belastung. Auch demografische Faktoren wie die Zusammensetzung der Bevölkerung nach Alter oder Einkommen wirken sich auf die Anfragewellen aus: Wie alle befragten Einrichtungen in Südtirol bestätigen, suchen momentan auffällig viele junge Menschen psychologische Unterstützung. Die meist wellenhaft auftretende psychische Belastung verschiedener Gesellschaftsgruppen verlangt also neben genügend fachlichem Personal auch nach einer gewissen Spannweite und Flexibilität des Betreuungsangebots. Aspekte, die auch in Südtirol noch ausbaufähig sind.

 

Anfragen-Boom

 

Für die Betreuung von jenen Menschen, die dringend klinische Hilfe benötigen, ist in Südtirol vor allem der öffentliche Sektor, insbesondere der psychologische und psychiatrische Dienst des Sanitätsbetriebs zuständig. Eine dieser Anlaufstellen ist der psychiatrische Dienst im Krankenhaus Bozen: Wer sich dort meldet, wird innerhalb von maximal zehn Tagen durch ein multidisziplinäres Team von Psychologen, Psychiatern und Pflegekräften erstuntersucht.

Wie die Leiterin der Psychiatrie Bozen, Isabella Gualtieri, erklärt, sei in den letzten Monaten ein regelrechter Anfragen-Boom verzeichnet worden. Einige der Hilfesuchenden werden in den psychiatrischen Einrichtungen aufgenommen, andere an öffentliche und konventionierte Dienste weitergeleitet. Allein in den psychologischen Einrichtungen des Sanitätsbetriebs ist die Zahl der Patienten im Vergleich zu den letzten drei Jahren vor der Pandemie um 30 Prozent gestiegen. Tendenz weiter steigend.

 

Durch den Anfrageboom und den von Gualtieri genannten Personalmangel im öffentlichen Bereich (im letzten Jahr wurden 40 neue Vollzeitstellen für Psychologen ausgeschrieben, aber nur 15 davon sind bis dato besetzt), kann es zu längeren Wartezeiten für einen geeigneten Therapieplatz  kommen: Im öffentlichen Bereich betragen diese Wartezeiten bis zu zehn Wochen, wobei diese häufig durch eine Zwischenbetreuung abgefedert werden können.

 

"Ein strukturelles Problem"

 

Wer sich hingegen an die Familienberatungsstellen im Land wendet, die unter anderem psychologische und psychotherapeutische Betreuung außerhalb eines klinischen Umfeldes anbieten, muss mit längeren Wartezeiten rechnen: Die Wartezeiten für einen Therapieplatz an der Familienberatungsstelle Lilith in Meran und Kolbe in Bozen belaufen sich momentan auf bis zu drei Monate, bei der Beratungsstelle Fabe in Bruneck müssen Hilfesuchende manchmal sogar bis zu sechs Monate auf einen Therapieplatz warten. “Die Menschen so lange auf einen Therapieplatz warten zu lassen, ist nicht zumutbar. Vor allem nicht den Jugendlichen, die sich in einer Krise befinden und schnell Hilfe benötigen”, so die Stellenleiterin der Familienberatung Fabe in Bruneck, Marlies Pallhuber. Laut Pallhuber, die seit 30 Jahren als Psychologin und Psychotherapeutin in Bruneck tätig ist, ist der Kapazitäten-Mangel aber nicht nur Covid-bedingt, sondern ein strukturelles Problem: “In Südtirol müssen wir in vielen Fällen noch immer darum kämpfen, dass der psychologische Aspekt vieler Themen anerkannt wird. Wir tun uns schwer, den nötgen gesellschaftlichen Raum zu finden, sehen aber, dass die Menschen unser Angebot sehr wohl brauchen und nutzen.”

 

Um den Druck, der die psy-Anlaufstellen des Landes meist wellenweise trifft, auffangen zu können, braucht es laut dem Psychologenkammer flexiblere Modelle. Sabine Cagol, die selbst im Privatsektor tätig ist, schlägt hier die Subventionierung privater Anlaufstellen vor, um die Auslastung der öffentlichen und konventionierten Strukturen abzuschwächen. Die Familienberatungsstellen wünschen sich mehr Mittel und vor allem vorausschauende Konventionen, um ihr Angebot langfristig aufstocken zu können.

 

Weniger Hemmungen?

 

Die Anfragen für psy-Hilfe, haben sich aber nicht nur vermehrt, sondern auch verändert: Wenn vor der Pandemie Menschen sich mit Psychosen, Persönlichkeitsstörungen und post-traumatischen Belastungsstörungen an den psychiatrischen Dienst gewandt haben, so kommen nun viele Menschen aufgrund von Angst- oder Panikattacken, Schlafstörungen und anderen Problemen die sich durch die Pandemie-bedingten Veränderungen ergeben. “Alle Personen, die zu uns kommen, nennen unabhängig von ihren Symptomen die Pandemie als Auslöser oder zumindest erschwerenden Umstand für ihre Situation", erklärt Gualtieri.

Für den Primar der psychiatrischen Dienste im Gesundheitsbezirk Bozen, Andreas Conca, lässt sich aus diesen besorgniserregenden Entwicklungen aber auch eine positive Tendenz ablesen: “Für einige sind die Hemmungen gefallen, in schwierigen Situationen um Hilfe zu fragen”, so Conca. “Jüngere, aber auch ältere Menschen haben angerufen, gefragt, versucht mit uns in Kontakt zu treten.” Diese zumindest vorübergehende Enttabuisierung von psychischem Unwohlsein, das Conca der Pandemie zuschreibt, sei extrem positiv. Gleichzeitig gibt Conca zu bedenken, dass aber nicht jedes Problem durch psychologische oder psychiatrische Betreuung gelöst werden kann: Es brauche vor allem auch soziale Interventionen und niederschwellige Beratungsstellen, “die organisierte Nachbarschaftshilfe”, wie Conca sie nennt, um viele der momentanen Schwierigkeiten aufzufangen. “Nicht alles darf psychologisiert werden”, meint der Psychiater.

 

Die Leiterin der Familienberatungsstelle Lilith, Cinzia Cappelletti, kann Concas Argumentation nichts abgewinnen: “Es ist nicht leichter geworden, um Hilfe zu fragen. Den Menschen geht es schlechter, deshalb suchen sie vermehrt Hilfe.” Zudem brauche es natürlich auch soziale Interventionen. Diese allein dürfen psy-Betreuung jedoch nicht ersetzen, so Cappelletti. Auch Pallhuber wehrt sich gegen eine vermeintliche 'Psychologisierung' der Gesellschaft: “So weit sind wir in Südtirol noch lange nicht. Im Gegenteil, der Rechtfertigungsdruck, der an Themen der psychischen Gesundheit haftet, ist noch immer zu groß.”

 

Hausärztliche Psy-Betreuung

 

Um diesem Rechtfertigungsdruck entgegenzutreten und sich präventiv um das psychische Wohlbefinden zu kümmern, plädiert die Kammervorsitzende Cagol dafür, psychologische Betreuung in die Routineuntersuchungen aufzunehmen. “So, wie wir uns an unsere Hausärzte wenden, sollten wir uns auch an Psychologen wenden können”, betont Cagol. “Ich muss keine schlimme Angsstörung haben, um Unterstützung anzufragen. Je früher ich Hilfe suche, desto besser.”

 

Der Vorschlag, “hausärztliche” psychologische Betreuung anzubieten, könnte zudem ein weiteres Problem der psy-Hilfestellungen in Südtirol lösen: Wie der Leiter der Präventionsstelle Forum Prävention, Peter Koler, erklärt, fehlen in Südtirol die institutionellen Verkettungen, die Hilfesuchende von einer ersten Anlaufstelle aus an die passenden Betreuungseinrichtungen weiterleiten. Dabei gehe es nicht, so Koler, um Notfallhilfe; diese sei gegeben. Es gehe vor allem darum, Menschen, die sich in einer schwierigen Situation befinden, die möglicherweise mit suizidalen Gedanken kämpfen, eine Erstanlaufstelle zu bieten und rasch an die richtigen Stellen weiterzuleiten.

Die Plattform dubistnichtallein, die im Rahmen der Corona-Pandemie gegründet wurde und die die verschiedenen öffentlichen, konventionierten und privaten Anlaufstellen in Südtirol umfasst, hat hier bereits eine bessere Vernetzung und eine vorübergehende Erstanlaufstelle schaffen können. Diese gilt es jetzt auszubauen.

 

*Die Daten für Italien beziehen sich auf das Jahr 2017.