Gesellschaft | Ortskern-Belebung

Spuk im Geisterhaus

Viele alte Wohn- und Wirtschaftsgebäude im Ortskern von Schluderns stehen leer. Ein Interreg-Projekt drängt nun auf die Wiederbelebung des historischen Zentrums.
Kopfhof
Foto: Salto.bz

Mit zwei raschen Handgriffen öffnet Oskar Schweigkofler das Tor zum Kopfhof-Stadel; die Sonne bricht durch die Klüfte zwischen den Holzbrettern herein und lässt das Innere des Stadels – einige Geräte, Holz und andere herumliegende Dinge – im goldigen Nachmittagslicht erstrahlen. Schweigkoflers drahtige Arme schneiden die Luft im Stadel in winzig kleine Parzellen: “Dieser Teil gehörte der Agatha, dieser dem Hans und unten der Rossstall meiner Frau Johanna. Die Stiege mit der Wohnung hat wiederum meiner Frau gehört, die ungeteilten Kammern darunter haben abwechselnd der Agatha, uns und wieder der Agatha gehört”, illustriert Schweigkofler das vorliegende Ergebnis des romanischen Erbrechts im historischen Zentrum von Schluderns, einer Ortschaft mit knapp 2.000 Einwohnern im oberen Vinschgau.

 

Das romanische Erbrecht, eine im oberen Vinschgau weitverbreitete Praxis, überlässt Haus und Hof nicht einem einzigen Erben, sondern teilt sie gleichermaßen auf alle Nachkommen auf. Die dadurch entstehende Vielzahl an Besitzern, die über Generationen zu viel Streit aber – wie eine Mitbürgerin betont – auch zu einem vertrauten Zusammenleben auf engem Raum führten, haben zur Folge, dass noch heute viele mittelalterliche Wohn- und Stadelgebäude das Dorfzentrum von Schluderns prägen: An einen Umbau oder Verkauf ist nicht zu denken.

Anders als der Kopfhof stehen heute viele dieser Gebäude jedoch leer: Durch die Verschiebung der wirtschaftstreibenden Kräfte wurden kleinstrukturierte bäuerliche Betriebe aufgegeben. Wer in der Landwirtschaft tätig war, widmet sich anderen Berufen oder zieht aus dem Zentrum hinaus aufs Land, wo größere Flächen zur Verfügung stehen und mittlerweile auch der Apfelanbau seine Wurzeln schlägt. Haus, Hof und Stadel bleiben im Dorfzentrum als verwahrlose Erinnerung an das einst lebhafte, bäuerliche Dorf zurück. 

 

Die Gemeindeverwaltung von Schluderns kämpft seit Jahren gegen den grassierenden Leerstand im Zentrum und der damit einhergehenden Zersiedelung des Ortskerns an. Immer wieder werden einzelne Höfe mithilfe der Gemeinde gekauft, saniert und zu Wohnhäusern und anderen Zwecken umgewandelt. Aber die Umsetzung der einzelnen Projekte verläuft schleppend; die Zersiedelung hält wider allen Mühen an. Vor diesem Hintergrund hat die Gemeindeverwaltung von Schluderns das Interreg-Projekt “Umsetzbare Ortskernrevitalisierung Terra Raetia” initiiert. Wie aber kann so eine Ortskernrevitalisierung gelingen, ohne dabei das Bewusstsein für das historisch gewachsene Zentrum zu verlieren?

Salto.bz hat sich zusammen mit der mit dem Projekt betrauten Architektin Susanne Waiz, dem Schludernser Bürgermeister Heiko Hauser und dem Gemeinderat Armin Bernhard, in Schluderns umgesehen und die ersten Spuren dieser Ortskernrevitalisierung nachgezogen.

 

Aktive Ortskernrevitalisierung

 

Wie Susanne Waiz erklärt, wird einerseits versucht, das Bewusstsein für den Wert der historischen Bauten und ihrer sozialen Funktion zu stärken. “Andererseits muss die Bevölkerung aktiv in die Neugestaltung der historischen Gebäude und deren Funktion im öffentlichen Raum miteinbezogen werden", so Waiz.

In diesem Zusammenhang erinnert Waiz an die soziale Bedeutung der vielen heute leer stehenden Wohn- und Wirtschaftsgebäude im Dorf. “Die Stadel waren die Schatzkammern der Bauern, sie symbolisierten den Wohlstand der Familien.” Vor einem dieser Stadel – dem Fritzen-Stadel – stand das Frizn-Bankl, auf dem am Feierabend, an Sonn- und Feiertagen bis zu neun Männer eng nebeneinandersaßen, um sich über das Leben im Dorf auszutauschen. Heute wird der riesige Fritzen-Stadel, der zwischen Straße, Parkplatz und Supermarkt eingeklemmt liegt, von seinen vier Besitzern hauptsächlich als Abstellraum genutzt: Heu, Geräte, eine alte Kornmühle; dazwischen eine tote Katze. Das Fritzen-Bankl ist längst Geschichte.

 

Geisterhäuser mit neuen Ideen bespielen

 

Durch das Interreg-Projekt soll das Bewusstsein für die historische und soziale Bedeutung der Gebäude wiederbelebt und gleichzeitig die alten Gebäude mit neuen Ideen bespielt werden: Am 20. November werden einige der alten Tore aufgesperrt und die Bevölkerung zum Tag der offenen Türen eingeladen. Dabei führen Bauforscher durch die alten Gemäuer, Kinder werden auf einen nächtlichen Geisterspaziergang mitgenommen und Bürgerinnen und Bürger können in Diskussionsrunden über die Zukunft der leer stehenden Gebäude diskutieren. Auch eine Musikveranstaltung für Jugendliche war geplant; bis dato konnten aber noch keine Besitzer gefunden werden, die bereit wären, ihre Räumlichkeiten dafür zur Verfügung zu stellen.

Dabei gehören gerade junge Menschen zum Zielpublikum der Veranstaltung: “Wir brauchen Menschen, die die Energie haben, den vorhandenen Raum mit neuen, innovativen Ideen zu bespielen”, erklärt Armin Bernhard, der zusammen mit der Bürgergenossenschaft Obervinschgau die Organisation der Veranstaltung übernimmt. “Aus den alten Gemäuern könnten Yoga-Studios, Co-Working-Spaces oder Kreativwerkstätten entstehen”, wirft Waiz einige Ideen in den Raum. All das wäre ohne größere invasive Eingriffe möglich und könnte morgen wieder in einen Stadel umgewandelt werden: “Es ist nämlich durchaus denkbar, dass sich die Wirtschaft wieder ändert, wir wieder mehr auf Nahversorgung setzen und somit auch wieder mehr bäuerliches Gut notwendig wird”, so Waiz.

 

Auch Bürgermeister Heiko Hauser beschwört zum Abschluss die alten Zeiten herauf: “Wenn man hört, was hier früher für ein Leben war! Die Kindheit in den 70er-Jahren im Dorfzentrum… es gab kaum Verkehr, die Kinder haben auf dem Dorfplatz Fußball gespielt und sind mit dem Schlitten von der Churburg heruntergerodelt. Das ist heute kaum mehr denkbar.” Während er die Bedeutung der alten Gebäude als Wohnraum betont, weiß auch er, dass dem öffentlichen Raum mit Wohnungen kaum geholfen ist: “Wir müssen den vorhandenen Raum mit neuen Ideen bespielen.”