Gesellschaft | Interview

„Karrieremöglichkeiten bieten“

Seit Ausbruch der Pandemie ist das Lob für systemrelevante Berufe wie die Pflege groß. Die Geschäftsführerin des Verbandes für Sozialberufe fordert endlich Taten ein.
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Foto: suedtirolfoto.com

Marta von Wohlgemuth ist Geschäftsführerin des Landesverbandes der Sozialberufe. Sie selbst war für über 40 Jahre in diesem Sektor tätig und arbeitet seit ihrem Pensionsantritt Ende 2019 ehrenamtlich als Geschäftsführerin des Landesverbandes.

 

 

Salto.bz: Frau von Wohlgemuth, wie beurteilen Sie die kürzlich beschlossene Förderung für die Milchwirtschaft?

Marta von Wohlgemuth: Wir in den Sozialberufen sind in unserem Beruf gefordert, im Sinne der zu betreuenden Menschen ganzheitlich zu denken und zu handeln. Deshalb werden wir diese Kuhprämie nicht beurteilen und bewerten, denn ein Pingpongspiel macht keinen Sinn. In diesem Land braucht es alle Stände – auch die Sozialberufe. In der Pandemie müsste es eigentlich klar geworden sein, dass es sie mehr denn je braucht. Deshalb schlagen wir der Landesregierung und der Soziallandesrätin vor, nicht nur einen Milchtisch, sondern auch einen Sozialtisch einzurichten und auch den Sozialberufen unbürokratisch 300 Euro als Prämie auszubezahlen. Wir erleben immer wieder, wie nah sich Politik und Wirtschaft stehen und wie diese von unterschiedlichen Ständen beeinflusst wird. Wir fordern eine gerechte Verteilung der vorhandenen Ressourcen und mehr Sorge um das Gemeinwohl.

 

Wieso sollte eine Sozialbetreuerin, welche in der Tagesbetreuung für Menschen mit Behinderung oder in der Hauspflege arbeitet, weniger bekommen als die Sozialbetreuerinnen in einem Seniorenwohnheim?

 

Die Landesregierung hat im Februar 2022 beschlossen, zusätzliche Mittel von 50 Millionen Euro für Pflege- und Betreuungsberufe bereitzustellen. Wie beurteilen Sie die Verteilung der Gelder?

Dazu muss man wissen, dass diese 50 Millionen Euro auf drei Jahre angelegt sind. Was das für 8.979 Personaleinheiten bzw. für 7.623 Frauen und 1.356 Männer ausmacht, ist schnell errechnet. Wir finden den vorliegenden Entwurf zum Bereichsabkommen im Sozialbereich, den wir von den Gewerkschaften erhalten haben, absolut nicht angemessen. Er wird der medienwirksamen Ankündigung der Landesregierung ‚Mehr Geld für Pflege- und Sozialberufe‘ nicht gerecht.

 

 

Um was geht es in diesem Bereichsabkommen?

Im vorliegenden Entwurf des Bereichsabkommens werden die Prozentsätze der Aufgabenzulagen der unterschiedlichen Sozialberufe festgelegt. Dabei werden die Prozentsätze aber nicht nach Berufsbild, sondern nach Einrichtung bzw. Sozialdienst, in denen sie arbeiten, gestaffelt. Damit können wir nicht einverstanden sein, denn die Aufgabenzulagen sind den Berufsbildern zuzuordnen und nicht nach Einrichtung und Diensten zu differenzieren. Ein Beispiel: Wieso sollte eine Sozialbetreuerin, welche in der Tagesbetreuung für Menschen mit Behinderung oder in der Hauspflege arbeitet, weniger bekommen als die Sozialbetreuerinnen in einem Seniorenwohnheim? Diese Ausdifferenzierung ist nicht gerechtfertigt und bewertet die Arbeit der Sozialberufe unterschiedlich, der Gradmesser dafür ist der Dienst oder die Einrichtung, wo sie arbeiten, das ist absolut unfair. Demgegenüber sollen laut vorliegendem Entwurf die Pflegedienstleiterinnen in den Seniorenwohnheimen und in den Sozialdiensten eine Dienstleiterzulage im Höchstmaß von 100 Prozent erhalten. Solche Ungleichheiten sind für uns weder verständlich noch nachvollziehbar und wir können diese so nicht akzeptieren. Dann gibt es auch noch das Bestreben, die berufsbegleitende Ausbildung im Sozialwesen über den Bereichsvertrag zu regeln, das ist absurd, denn Ausbildungen werden, soweit wir informiert sind, vom Bereich Bildung und der Bildungsdirektion geregelt.

 

Ich bin überzeugt, dass alte und pflegebedürftige Menschen die gleichen Bedürfnisse haben wie wir Gesunde.

 

Was sind die nächsten Schritte im Bereichsabkommen im Sozialbereich?

Der Vertrag wird zurzeit verhandelt und das Ergebnis muss eine spürbare Lohngerechtigkeit für die Sozialberufe sein, denn darüber reden wir nun schon seit zehn Jahren. Nachdem wir den Entwurf des Teilvertrages von den Gewerkschaften erhalten haben, haben wir unsere Forderungen, Anmerkungen und Kritikpunkte der politischen Ebene, allen Vertragspartnerinnen mitgeteilt und uns mit den Gewerkschaften ausgetauscht. Solange die Verhandlungen zum Bereichsabkommen andauern, werden wir unser Möglichstes tun, damit dieser Vertrag zugunsten der Sozialberufe ausfällt und die Versprechungen und Ankündigungen, welche während der COVID-19-Pandemie zuhauf gemacht wurden, endlich zur Umsetzung kommen.

 

 

Stichwort Altenpflege: Wie kann Menschen ein lebenswerter Lebensabend geboten werden und wann ist aus Ihrer Sicht Sterbehilfe sinnvoll?

Ich bin überzeugt, dass alte und pflegebedürftige Menschen die gleichen Bedürfnisse haben wie wir Gesunde. Sie wollen teilhaben, gesehen, ernstgenommen und anerkannt werden. Was einen lebenswerten Lebensabend anbelangt, würde ich es sinnvoll finden, früh genug mit ihnen über ihre Wünsche und Vorstellungen zu sprechen und die Patientenverfügung als Vorsorgeplanung zu nutzen. Dann können wir uns in der Pflege und Betreuung an der Patientenverfügung und den Behandlungswünschen orientieren. Das ist aber nur möglich, wenn Informationen über Präferenzen/Wünsche der Menschen bekannt bzw. verfügbar sind.

Wie können Sozial- und insbesondere Pflegeberufe für junge Menschen attraktiver werden?

Wir wissen inzwischen alle, dass wir in allen Branchen einen Fachkräftemangel haben und diesen gibt es auch im Sozialbereich. Der Fachkräftemangel hat unterschiedliche Ursachen, einer der Hauptfaktoren ist die zunehmende Überalterung der Gesellschaft und die abnehmenden Geburtenraten in den letzten Jahrzehnten – ein anderer ist der Status der Berufe. Man kann nicht oft genug wiederholen, dass es für gute Fachkräfte auch eine gute Bezahlung und gute Rahmenbedingungen braucht. Deshalb müssen wir uns um junge Menschen genauso bemühen wie es andere Branchen auch tun, den Hebel nur bei der Ausbildung anzusetzen, reicht bei weitem nicht und ist kein Weg aus der Sackgasse. Auch junge und talentierte Menschen sollten sich für einen Sozialberuf entscheiden können, weil er attraktiv und interessant ist, Karrieremöglichkeiten bietet und in der Gesellschaft anerkannt ist und geschätzt wird.

 

Es besteht akuter Handlungsbedarf, denn es geht um nicht weniger als um die Aufrechterhaltung von 653 sozialen Diensten und Einrichtungen.

 

 

Welche konkreten Maßnahmen schlagen Sie vor?

Wir müssen nicht nur mehr ausbilden, sondern Berufsausstiege verhindern, Arbeitsbedingungen verbessern, in der Pflege und Betreuung Qualität sichern und ausreichend Pflege- und Betreuungspersonal in den Einrichtungen und den Sozialdiensten garantieren. Es besteht akuter Handlungsbedarf, denn es geht um nicht weniger als um die Aufrechterhaltung von 653 sozialen Diensten und Einrichtungen.

Sie haben die Rahmenbedingungen angesprochen. Eine „Badante“ ist oft für zwei Wochen 24 Stunden pro Tag für eine pflegebedürftige Person verantwortlich. Welchen Gestaltungsspielraum gibt es hier?

Das ist eine ganz andere Thematik, in Südtirol kostet eine „Badante“ im Monat ohne Kost und Logis circa 1.700 Euro. Der Betrag variiert je nach Pflegestufe der betroffenen Person. Ein Teil dieser Kosten wird durch das Pflegegeld vom Land gedeckt. Das ist aber auch schon alles. Anbieterinnen von hauseigenen Pflegediensten gibt es in Südtirol inzwischen viele, dieser Markt wurde entdeckt und wird entsprechend bedient. Seit es die Pflegesicherung gibt, haben private Firmen, Genossenschaften und ausländische Pflegekräfte dieses Vakuum gefüllt und versorgen so sehr viele Menschen im häuslichen Bereich.

Wie können die Arbeitsbedingungen für „Badante“ verbessert werden?

Wir als Landesverband der Sozialberufe haben neben einem Landesgesetz für die Sozialberufe mit Fach- und Berufsausbildung auch ein Landesverzeichnis für die sogenannten „Badanti“ vorgeschlagen, um transparent zu machen, wer in diesem Bereich alles aktiv ist. Hier werden wir auf die Rahmenbedingungen wenig Einfluss nehmen können und es geht mehr um die Frage, wie 24-Stunden-Pflege zuhause leistbar gemacht werden kann.