Gesellschaft | Sozialarbeit

«Sozialarbeitende sind keine Bürokraten»

Der Studiengang Sozialarbeit: eine Alumna und Professor Urban Nothdurfter geben Einsichten in ein Berufsfeld, das nach der Coronakrise wohl umso mehr geschätzt wird.
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
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Foto: ©unibz

Einschreibungen in die Studiengänge der Freien Universität Bozen sind noch bis zum 16. Juni möglich.

 

Herr Professor Nothdurfter, Sie unterrichten im Studiengang Sozialarbeit. Welche theoretischen und praktischen Aspekte beinhaltet dieses Fach?
Urban Nothdurfter: Im Studiengang Sozialarbeit werden die Grundlagen der Sozialarbeit als Disziplin behandelt. Im Kernbereich geht es um Theorien, Ethik, Organisation und Handlungsfelder der Sozialarbeit, um eine kritische Methodenlehre, um Fragen der Innovation und Forschung in diesen Bereichen sowie um einschlägige professionelle Erfahrungen in Form von Praktika. Das alles muss vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Enwicklungstendenzen sowie sozialpolitischen und rechtlichen Rahmenbedingungen erfolgen. Soziologie, Sozialpolitik und Veranstaltungen im Bereich Rechtswissenschaft sind deswegen ebenfalls zentral in diesem Studiengang. Dazu kommen weitere Bezugsdisziplinen wie Demographie, Sozialstatistik, Sozial- und Kulturanthropologie aber auch Psychologie und Pädagogik. Das Studium ist also durchaus breit angelegt, setzt aber auch klare Schwerpunkte innerhalb eines konsistenten Curriculums. Das ist auch im Hinblick auf die professionellen Anforderungen in der Sozialarbeit sehr wichtig.

 

Frau A, Sie waren selbst Studentin im Studiengang Sozialarbeit. Warum würden Sie diesen empfehlen?
A.: Wegen des breit gefächerten, praxisbezogenen Lehrplanes und den vielfältigen Arbeitsmöglichkeiten und -feldern im sozialen Bereich die sich mit Abschluss des Studiums ergeben. Das Studium empfiehlt sich zudem, weil es sich einerseits auf unsere Realität und die Sozialarbeit im Territorium bezieht, was sich in der Praxis dann als sehr nützlich erweist. Andererseits wird gleichzeitig auf den gesamten internationalen sozialarbeiterischen Diskurs eingegangen, da die Uni dreisprachig ist und die Dozenten somit aus verschiedenen Teilen Europas kommen. Neben den Fächern “Methoden und Techniken” und “Prinzipien der Sozialarbeit”, waren es vor allem die beiden 350 stündigen Praktikas und die dazugehörige Lehrveranstaltung "Kritische Reflektion der Praktikumserfahrung", welche mich professionell am meisten geprägt haben. Ich denke heute oft in kritischen Arbeitssituationen an die Diskussionen und die gewonnennen Erkenntnisse zurück.

 

Welche Kenntnisse und Kompetenzen müssen Sozialarbeitende von morgen mitbringen, Herr Professor?
U.N: Grundsätzlich brauchen Sozialarbeitende eine fundierte Ausbildung in den genannten Bereichen. Konkret geht es darum, Bedürfnisse und soziale Probleme in ihren lebensweltlichen Bedeutungen erkennen und durch partizipativ angelegte Prozesse der Hilfeplanung und des Einsatzes unterschiedlicher Ressourcen adäquate Antworten entwickeln zu können. Das erfordert neben Deutungs- und Handlungswissen ausgeprägte Beziehungskompetenzen, Fähigkeiten zur Netzwerkarbeit sowie professionsethische Haltungen. Problemlagen und soziale Fragen, die aus dem gesellschaftlichen Wandel resultieren, müssen als solche erkannt und bearbeitet werden. Dies erfordert eine konsequente Forschungsorientierung. Sozialarbeitende müssen die Komplexität sozialer Problemlagen und die intersektionalen Verschränkungen sozialer Ungleichheit und Benachteiligungen sehen und verstehen. Wesentlich sind natürlich auch eine bestimmte Offenheit für die Begegnung mit dem Anderen und ein authentisches Interesse an sozialpolitischen Fragen.

 

Was hingegen glauben Sie, Frau A.: Worauf kommt es an, um im Beruf Fuß zu fassen?
A.:
Voraussetzung ist, denke ich, die Lust sich einzubringen und sich zu engagieren. Das wichtigste ist meines Erachtens aber die ständige Bereitschaft zur Reflektion, sei es über das eigene professionelle Handeln und seine Haltungen, als auch über die gegebenen gesellschaftlichen und strukturellen Rahmenbedingungen. Zudem denke ich, dass es eine gewisse Kompromissbereitschaft und gleichzeitig ein dickes Fell braucht.

 

In welchen Bereichen und Diensten werden heute Sozialarbeitende gebraucht? Ihr Berufsfeld deckt ja sicherlich eine breite Palette ab.
U.N: Entgegen mancher engführender Vorstellung, sind die Handlungsfelder und somit die Beschäftigungsmöglichkeiten für Sozialarbeitende sehr vielfältig. Sozialarbeitende werden dringend gebraucht in der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe, in der Arbeit mit alten, behinderten, psychisch und an Abhängigkeiten erkrankten, migrierten und geflüchteten, arbeitslosen sowie anderen von sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen, in der Frauenhausarbeit, in den Bereichen der Sucht- und Gewaltprävention, der Rehabilitation und Resozialisierung sowie in der Sozialwirtschaft und in der Sozialplanung. Zunehmend eröffnen sich auch Gelegenheiten der professionellen Begleitung von Selbsthilfeinitiativen, Gemeinwesenprojekten und Freiwilligenarbeit sowie an neuen Schnittstellen ökosozialer Transformationen. Sozialarbeitende haben vielfältige Beschäftigungsaussichten in öffentlichen Sozial- und Gesundheitsdiensten, in Sozialgenossenschaften und anderen Einrichtungen des privaten Sozialwesens sowie in der öffentlichen Verwaltung und im Justizwesen. Daneben gibt es auch Beschäftigungsmöglichkeiten in Interessensverbänden, in Nichtregierungs- und internationalen Organisationen.

 

Frau A., wie war es für Sie, nach dem Studium an der Universität Bozen eine Arbeit zu finden?
A.:
Die Arbeit hat mich gefunden. Bereits bevor ich das Studium abgeschlossen und die Staatsprüfung abgelegt habe wurde mir ein Arbeitsplatz in einem Sozialsprengel angeboten, den ich dann sofort nach den abgeleisteten Prüfungen angetreten habe. So ist es mehreren meiner Studienkolleginnen ergangen, Sozialassistenten sind, wie es scheint, leider Mangelware in Südtirol. Auch jetzt aktuell hört man immer wieder, dass in den verschiedensten Diensten und Einrichtungen Sozialassistenten gesucht werden.

 

Ein Ereignis, das uns vor Augen geführt, wie wichtig soziale Dienstleistungsarbeiten sind, war sicherlich die Coronakrise. Glauben Sie, Herr Nothdurfter, diese Zeit wird das Berufsbild verändern? Wird die Sozialarbeit mehr geschätzt und gefördert werden?
U.N: Diese Krise wird sich wahrscheinlich in Form einer Trendwende hinischtlich des wohlfahrtsstaatlichen Konsenses und gesundheits- und sozialpolitischer Prioritäten niederschlagen. Neben den Gesundheitsberufen waren und sind in der Coronakrise auch die Sozialberufe besonders gefordert, wenn man an Alters- und Pflegeheime, Hauspflegedienste, aber auch an Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderungen oder Kinder und Jugendliche denkt. Dazu kommen die vielfältigen kurz-, mittel- und langfristigen Folgen dieser Krise. Denken wir an alleinstehende ältere oder kranke Menschen, Familien in Konfliktsituationen oder gefährdete Minderjährige während des Lockdowns oder an diejenigen, die nicht zu Hause bleiben konnten, weil sie kein Zuhause haben. Psychische Probleme, Konflikte und Gewalt gegen Frauen und Kinder haben in dieser Zeit nachweislich zugenommen. Denken wir aber auch an die Schwierigkeiten aufgrund des Verlusts von Einkommen und Arbeit. Diese Krise hat sehr unterschiedliche Auswirkungen auf Menschen und Familien, je nach ihrer Ressourcenlage und ihrer Fähigkeit, mit der Situation fertig zu werden. Wir sehen eine starke Zunahme der sozialen Ungleichheiten und Rückschritte im Bereich der Geschlechtergerechtigkeit. Daher ist es derzeit vorrangig, jene Menschen zu unterstützen, die die größten Schwierigkeiten haben. Einerseits durch soziale Sicherungsleistungen andererseits durch den Ausbau und die Anpassung sozialer Dienstleistungen. Hierfür sind Sozialarbeitende zentral und ich erwarte mir, auch in Südtirol, eine bessere Anerkennung und Nutzung des Potentials der Sozialarbeit und eine ernstgemeinte Diskussion bezüglich Arbeitsbedingungen und Entlohnung für diese gesellschaftlich wichtige Arbeit.

 Wie mit Menschen in Kontakt bleiben, wenn Dienste nicht offen sein können?

In Krisenzeiten sind Sozialarbeitende den Menschen eine wichtige Stütze, insbesondere jenen, die auch unter normalen Umständen auf Hilfe angewiesen sind. Wie können Menschen dieser Berufsklasse jetzt in der Krisenzeit Menschen auffangen?
U.N: Die Coronakrise hat auch Sozialarbeitende vor erhebliche Aufgaben gestellt. Wie mit Menschen in Kontakt bleiben, wenn Dienste nicht offen sein können? Wie Beziehung aufrechterhalten und Zugang zu Unterstützungsleistungen trotzdem möglich machen? Welche Dienste gewährleisten? Welche Sicherheitsmaßnahmen treffen und wie gleichzeitig fachlichen und ethischen Standards gerecht werden? Viele Kolleg*innen haben über große Schwierigkeiten und Unischerheiten berichtet, gleichzeitig aber auch von außergewöhnlichen Lösungen, der Nutzung von neuen Instrumenten und der Schaffung von alternativen Angeboten. In der Not entsteht auch Neues. Vielleicht kann diese Krise auch kreative Prozesse anstoßen, bestimmten Abläufen und Verfahren etwas an Schwerfälligkiet nehmen und, das hoffe ich besonders, eine falsche bürokratische Konnotation der Sozialarbeit überwinden helfen. Sozialarbeitende sind keine Bürokrat*innen. Sozialarbeit erfordert Professionalität, Kreativität, Freude und Offenheit in der Begegnung mit Menschen und einen wachen Blick darauf, was in unserer Gesellschaft abgeht, wenn ich das etwas salopp formulieren darf.

 

Zum Schluss noch einen Einblick in Ihren Berufsalltag, Frau A: Was sind die größten Herausforderungen, die Ihr Beruf mit sich bringt, was hingegen die größten Freuden?
A.: Als Sozialassistent*in verspürt man häufig eine große Verantwortung: man ist mit schwierigen Schicksalen konfrontiert und die betroffenen Personen oder andrere involvierte Institutionen und Einrichtungen haben einem gegenüber hohe Erwartungshaltungen. Gleichzeitig findet man oft schwierige Rahmenbedingungen vor, wie z.B. Ressoucenmagel, Zeitdruck, strukturelle/gesellschaftliche Probleme die individualisiert werden usw., welche es oft nicht ermöglicht so zu intervenieren, wie man es sich vorstellt. Ein gewisses Ohnmachtsgefühl und Frustration können die Folge sein.  Zu den guten Seiten gehört die direkte Arbeit mit den Personen, wenn man es schafft eine Vertrauensbeziehung aufzubauen und gut zusammenzuarbeiten. Es bereitet Freunde, wenn Personen oder Familien, welche man eine Weile in ihren schwierigen Lebenslagen begleitet hat, es wieder schaffen, eigenständig und autonom ihre Situation anzugehen.