Gesellschaft | Tierhaltung

Ein Hahn als Haustier

Die Geschichte des Haushahns Pisolo zeigt, warum wir die Psychologie von „Nutztieren“ nicht ignorieren, und unsere industrielle Tierhaltung überdenken sollten.
Der Haushahn Pisolo
Foto: Julia Tappeiner

Letzen Freitag zeigte die Dolomiten auf Seite zwei einen Boris Johnson mit einem Huhn in der Hand. Mit seinem Besuch in der Hühnerfarm im landwirtschaftlich geprägten Newport in Südwales wollte der neue britische Premier die Bauern dort beruhigen, die seinem Brexit Kurs nur wenig abgewinnen können. Sie sind nämlich angewiesen auf EU-Fördergelder. Das Foto des Huhns stand also sinnbildhaft für eine Landwirtschaft, die um ihre Existenz fürchtet. Es scheint, das Huhn gewinne mehr und mehr Beliebtheit als Symbol- und Pressetier im Agrarsektor. Auch kürzlich warb der landwirtschaftliche Online Markt landwirt.com auf Facebook mit einer Leine für Hühner. Unter dem Produkt-Post stand: Wer braucht so was? Es war wohl ein Gag, ein Aufhänger, um Aufmerksamkeit zu generieren für eine Seite, die normalerweise Traktoren und ähnliches bewirbt. Doch es gibt jemanden, der eine Hühnerleine tatsächlich brauchen könnte. Und diese Geschichte steht sinnbildhaft für unsere moderne Tierhaltung, die es vielleicht zu überdenken gilt, wenn man einen etwas anderen Blickwinkel auf Henne, Hahn und Co. werfen würde. 

David C. hatte schon immer ein Faible für außergewöhnliche Tiere: Aus dem Urlaub schickte er seinen Freunden ein Foto von einem Spatzen, den er im Garten verletzt gefunden und an sich genommen hatte. Dazu die verzweifelte Sprachnachricht, ob er ihn zum Tierheim bringen solle. Auf Facebook kursiert noch ein altes Foto aus Studienzeiten, darauf ist eine Maus zu sehen, die auf seinen Jurabüchern herumkrabbelt: Aus einem Loch gekrochen, blieb die kleine Maus das Haustier der Studenten-WG für einige Wochen. Und letztens erst, als er eine Eidechse in der Dusche fand, legte er sie nicht etwa wieder hinaus in die Wiese, sondern packte sie in eine Schachtel und legte eine Blaubeere hinein. Erwartungsgemäß aß die Eidechse die Blaubeere nicht. Nach aktuellem Wissensstand, wurde noch keine Eidechse erfolgreich vom vegetarischen Lebensstil überzeugt. Aber kommen wir zum eigentlichen Protagonisten dieses Artikels. Das ist Pisolo, das sechste Mitglied der Familie von David C.

 

 

Die Mutter war verwundert, als David eines Abends mit einem Ei nach Hause kam. Es dauerte dann nicht lange, bis Pisolo das Gesicht der Welt erblickte. Von da an wurde das männliche Küken von seiner neuen Pflegefamilie liebevoll großgezogen. Als Teenager war er ein wilder Bursche. Kaum hatten seine kleinen Flügel die Grundlagen der Aerodynamik begriffen, flatterte Pisolo überall hin, wo er konnte. Manches Mal musste ein Familienmitglied das verängstigte Küken von einem Ast runterholen, oder aus einer Wohnungsecke, in die er sich eingeklemmt hatte. Pisolo hatte eine sehr glückliche Kindheit und Jugend, doch ist er sich seines außergewöhnlichen Glücks wohl kaum bewusst.

Pisolo gehört zu einem der wenigen männlichen Küken, die nicht sofort bei ihrer Geburt sterben müssen. Es ist in Brütereien nämlich üblich, dass männliche Küken sofort aussortiert und geschreddert werden. Manchmal werden sie auch erstickt. Denn männliche Küken haben weniger Fleisch, als weibliche, und legen außerdem keine Eier. Von einem ökonomischen Standpunkt aus also wertlos. Laut Statistik werden pro Jahr sechs Milliarden männliche Küken getötet. Pisolo hingegen hatte Glück, dass David C. in diesem Jahr an der Mongolrally teilnahm.

 

 

Die Mongolrally ist ein Autorennen, bei dem Zweier- oder Dreier-Teams mit dem Auto zwei Monate lang von London in die Mongolei fahren. Die Reise, das Fortbewegungsmittel und die Unterkünfte organisieren die Teilnehmer selbst. Meist wird im Zelt, in Hostels, im Auto geschlafen. Für dieses abenteuerliche Verfangen brauchen die Teams Sponsoren. Und am besten bekommt man Sponsoren, wenn man genug Öffentlichkeit hat. Das wusste David, der sich daraufhin ein Maskottchen suchte. Pisolo sollte ihn und seine beiden Freunde bei ihrer Reise in die Mongolei als also begleiten. Dafür dokumentierte David die Geburt des Kükens und seine ersten Monate auf Facebook, und erhielt dadurch viele Likes und Aufmerksamkeit, was ihm wiederum Sponsoren für die Autorally einbrachte. Pisolo muss ein Glückshahn sein, denn ein zweites Mal bewahrte ihn das Schicksal vor einer langen, einem Hahn eher unbekömmlichen Reise. Den jungen Hahn retteten diesmal zwei Freunde von David und begnadete Tierschützer. Als sie von dem Plan erfuhren, entführten sie den mittlerweile jugendlichen Pisolo und versteckten ihn, sodass David ohne Pisolo auf die Abenteuerfahrt in die Mongolei starten musste. Als er im Herbst zurück nach Hause kam, war Pisolo wohlauf und ein ausgewachsenes Prachtexemplar

Ab wann hat der Mensch beschlossen, gewisse Lebewesen als „Haustiere“ zu betrachten, sie in fast menschenähnlichen Zuständen zu halten, und gleichzeitig andere Kreaturen als „Nutztiere“ zu sehen, und ihnen jegliche Rechte abzusprechen

Mittlerweile hat Pisolo seinen ganz eigenen Charakter entwickelt. Er ist ein sehr lieber und kuschelbedürftiger Hahn. Er lässt sich gerne von jedem auf den Schoß nehmen und streicheln. Am liebsten hat er es, am Kamm massiert zu werden, was er durch genüssliches Schließen der Augen zum Ausdruck bringt. Was Pisolo hingegen nicht ausstehen kann, sind Plastiktaschen (er ist also auch noch umweltbewusst). Hält man ihm die Tüte vor den Schnabel, plustert er seine Federn auf und geht auf Attacke. Was er aber noch weniger mag, ist es, alleine gelassen zu werden. Gibt sich David mit ihm im Garten ab, und steht dann auf, um ins Haus zu gehen, läuft Pisolo ihm meistens nach, stellt sich ihm mit einem empörten „gock-gock-gock“ in den Weg, um ihn daran zu hindern, ihn alleine zurück zu lassen. Unter Gruppen von Menschen kommt es häufiger auch vor, dass er den Ein- oder Anderen zärtlich am Arm peckt, um zu sagen: „Hey, ich bin auch hier. Schenke mir gefälligst deine Aufmerksamkeit“. Er kann zwar nicht sprechen, doch hat er seine eigene Art der Kommunikation. Immer wenn eine Person einen Raum verlässt, spürt es dies, und verabschiedet den Menschen mit einer kurzen Abfolge an „hähnlichem Gegluckse“.

 

Das alles klingt sehr nach einem Hund, oder einer Katze. Doch man sollte sich fragen, worin genau der Unterschied zwischen einem Hauskaninchen und einer Kuh im Mastbetrieb liegt. Ab wann hat der Mensch beschlossen, gewisse Lebewesen als „Haustiere“ zu betrachten, sie in fast menschenähnlichen Zuständen zu halten, und gleichzeitig andere Kreaturen als „Nutztiere“ zu sehen, und ihnen jegliche Rechte abzusprechen, sie ihrer natürlichen Lebensweise und ihren Bedürfnissen zu entreißen und gänzlich der Nachfrage menschlicher Konsumenten zu unterwerfen? Wir wissen, dass Hunde sehrt treue Säugetiere sind, die Zuneigung zum Menschen empfinden, während Katzen eher eigensinnig sind, und ihre Zuneigung stärker ihrer gewohnten Umgebung gilt. Bei Schweinen, Kühen oder Hühnern ist es den meisten Menschen zwar nicht klar, doch auch diese Tiere besitzen nachweislich bestimmte artsübliche Verhaltensweisen und Impulse. Hühner zum Beispiel sind von einem starken Impuls getrieben, ihre Umgebung auf Suche nach Futter zu erkunden, den Boden zu pecken und mit ihrem Schnabel durch ihre Federn zu streifen. 

Auch wenn Pisolo ein besonderer Hahn in vielerlei Hinsicht ist- er frisst für sein Leben gerne Jogurt und hat Angst im Dunkeln- so widerspiegelt er diese Verhaltensweisen der Spezies Vogel. Er streunt oft peckend im Garten herum und fährt sich regelmäßig mit seinem Schnabel durch die rot-grünen Federn. Einem Durchschnittshuhn bleibt jedoch selbst das Putzen des eigenen Gefieders verwehrt, da die kleinen Käfige diese Bewegung in den Legebetrieben nicht erlauben. Werden einem Huhn diese Grundimpulse verwehrt, leiden sie, wie etliche Experimente zeigen. Eine Episode, die Pisolo traumatisierte, verdeutlicht die Verletzlichkeit von Tieren. Als Pisolo einst von einem Hund verfolgt und attackiert wurde, schockierte ihn dieses Erlebnis so tief, dass er über eine Woche lang apathisch in einer Ecke kauerte und nicht mehr krähte. Als dann endlich wieder das frühmorgendliche „Kickeri-kiiiee“ ertönte, war seine Familie nicht wie üblich vom frühen Weckruf genervt, sondern dankbar. Pisolos Gemüt hatte das traumatische Erlebnis überstanden, er flackerte tagsüber wieder gackernd vom Garten ins Haus und kuschelte Abends auf dem Schoß der Mutter, wenn sie auf dem Sofa Fern sah. 

Einem Durchschnittshuhn bleibt jedoch selbst das Putzen des eigenen Gefieders verwehrt, da die kleinen Käfige diese Bewegung in den Legebetrieben nicht erlauben.

Es ist interessant, dass es bei uns als verwerflich gilt, einen Hund zu essen, sich die Empörung über Massentierhaltung von Hennen oder Schweinen aber in Grenzen hält. Solange ein Hahn aber nicht als „Freund des Menschen“ gilt, wird sich wohl auch nichts am Schicksal der Milliarden von Legehennen und männlichen Küken ändern. Man weiß nicht, was im Kopf von Pisolo so vor sich geht, denn leider haben Tiere noch keine Möglichkeit gefunden, mit uns Menschen zu kommunizieren. Ob Pisolo also sein Glück in seiner Pflegefamilie bewusst ist, darüber kann man nur spekulieren. Fest steht, aber, dass er nirgendwo anders hinmöchte. Als David versuchte, seinen Hahn an einen Bauernhof unter Artgenossen abzugeben, weil Pisolo womöglich Sehnsucht nach einer weiblichen Partnerin verspüren könnte, gab dieser deutlich zur Kenntnis, dass er wieder mit David zurück nach Hause fahren wollte. Vielleicht wusste Pisolo vom Schicksal der meisten Hühner, die in großen Hühnerkäfigen aufwachsen und einige heiße Nächte mit einer flotten Henne waren ihm dann ein Leben in Gefangenschaft doch nicht wert.