Gesellschaft | Femizid

Heikle Beziehung, systemische Lösungen

Gastkommentar von Roger Pycha, der hinter vielen Femiziden einen extremen Ausdruck traumatischer Beziehungsbeendigungen zwischen Paaren sieht und auf Lösungen verweist.
Streit Paar
Foto: cottonbro studio / Pexels
Systemische Psychotherapeuten sehen Schwierigkeiten und Lösungen weniger im Inneren einzelner Menschen, als vielmehr in den Beziehungen zwischen den Menschen und in ihrer Entwicklung im Laufe der Zeit.  Denn selbstverständlich ist es fast unmöglich, zum Beispiel eine Paarbeziehung gleichförmig über Jahrzehnte zu halten. Häufig werden Veränderungen wahrgenommen und von beiden Partnern konstruktiv verwendet. In einer Phase erster Verliebtheit wollen beide möglichst viele Erlebnisse symbiotisch sammeln. Sie wollen überraschende Erotik und sich spontan beschenken. Später entdecken sie ruhigere Zusammengehörigkeit, Verlässlichkeit und Treue. Sie investieren in gut abgesprochene soziale Spielregeln und Kontakte zu befreundeten Paaren. Später noch entwickeln sie eine Ausrichtung, in der gemeinsame große Projekte, Kinder, soziales Engagement oder Anreichern von Besitz, im Vordergrund stehen. Zuletzt wohl gegenseitige gesundheitliche Fürsorge und das frohe Betrachten des Erreichten, einschließlich der Enkel und Urenkel.
 
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Roger Pycha: Für den Primar des Psychiatrischen Dienstes ist eine systemischer Blick auf dysfunktionale Beziehungsmuster hilfreich, sowohl bei der Pflege einer Beziehung, als auch bei deren einvernehmlicher Trennung. | Foto: Privat
 
Aber nicht immer gelingt so großartiges Wachstum in Anpassung. Ein großes Hindernis kann das unterschiedliche Verständnis der Intimität zwischen Mann und Frau sein, die andersartige Problemlösungsstrategie und die verschiedenen Kommunikationsstile. In seinem Buch „Emotionale Intelligenz“ hat Daniel Goleman (Goleman, Daniel: Emotionale Intelligenz. Deutscher Taschenbuch Verlag München 1997, S. 170 ff) diese Zusammenhänge meisterhaft beschrieben.
Er geht vom Fakt aus, dass Frauen Intimität vor allem dann erleben, wenn sie mit ihrem Partner sprechen können, am liebsten über die eigene Beziehung. Männer erleben Intimität, wenn sie mit ihrer Partnerin zusammen etwas tun können, am liebsten Sex. Frauen lösen Probleme bevorzugt, indem sie Freundinnen anrufen und sich mit ihnen beraten, nach deren Vorerfahrungen fragen und möglichst präzise Pläne erarbeiten können. Sie lassen sich in gefährlichen Situationen gern begleiten. Schutz erscheint ihnen als Stärke. Männer verlassen sich da eher auf sich selbst und auf die spontane eigene Kraftentfaltung. Sie lösen Schwierigkeiten lieber im Alleingang und hoffen auf spätere Bewunderung. Sie freuen sich, wenn sie mögliche Konkurrenten damit beeindruckt haben, dass sie die Lösung ohne fremde Hilfe gefunden haben. Frauen gehen häufiger davon aus, dass gerade auch unangenehme Gefühle ausgedrückt, ausgesprochen und geklärt werden sollen. Notfalls auch schimpfend und weinend, aber jedenfalls authentisch. Männer sind häufiger bedacht, eine friedliche Neutralität und Entspannung zu erreichen, indem sie gegenüber Anschuldigungen selbstbeherrscht bis trotzig schweigen und der verbalen Überlegenheit der Frauen äußere Ruhe bei innerer Aufgeregtheit entgegensetzen.
 
Aus all dem kann Verbissenheit resultieren, wenn beide Seiten das Problem dauernd nach dem Muster „mehr desselben“ lösen wollen. (...) Dieses symmetrische Muster kann am leichtesten durchbrochen werden, wenn beide Partner gleichzeitig ihr Verhalten ändern.
 
Der Psychologe John Gottman spricht dabei vom „Mauern“. Bei scharfen Vorwürfen steigt der männliche Ruhepuls, der durchschnittlich bei 72 liegt, um 10 bis 30 Schläge. Durch das Mauern schafft der Mann eine vorübergehende Senkung um 10 Schläge pro Minute, beruhigt sich also vor allem selbst etwas. Sein Schweigen treibt allerdings den weiblichen Ruhepuls, der bei durchschnittlich 82 liegt, dramatisch in die Höhe. Die Frau fühlt sich dann in ihren Gefühlen und Anliegen nicht ernst genommen. Das reizt Frauen zu immer heftigeren Ausbrüchen und Männer zu immer deutlicherem Rückzug. Aus all dem kann Verbissenheit resultieren, wenn beide Seiten das Problem dauernd nach dem Muster „mehr desselben“ lösen wollen. Damit verstärken Lösungsversuche die Schwierigkeiten, verursachen auf die Dauer beidseitige Erschöpfung und ergeben eine „depressive Beziehung“. Sie wird kraftlos in immer gleichen Anpassungsversuchen, die nicht gelingen. Die Beziehung wird auch empfindlich durch viele alte Verletzungen, sodass neue Angriffe und Abwehrhaltungen übermäßig traumatisch erlebt werden. Gottman spricht dann von „Überflutung“ durch lang dauernde negative Gefühle.
Dieses symmetrische Muster kann am leichtesten durchbrochen werden, wenn beide Partner gleichzeitig ihr Verhalten ändern. Am ehesten geschieht dies, wenn beide begreifen, wie der jeweils andere reagiert. Im günstigsten Fall beginnt der Mann seinen schwierigen Emotionen nachzuspüren. Er benennt sie und teilt sie höflich mit. „Ich habe gar nicht geahnt, dass es mir so viel ausmacht, wenn du dich über meine dauernde Vergesslichkeit beklagst. In meinen Augen bemühe ich mich nämlich.“ Die Partnerin übt sich in ruhigem Beisammensein ohne große Kommentare, und kommt damit dem Beruhigungsbedürfnis ihres Mannes entgegen: „Ich musste mir nur kurz etwas Luft machen. Mich stören nur einige deiner Verhaltensweisen, nicht du als Person. Ich möchte deine Bemühungen respektieren.“
Selbstverständlich klappt so etwas leichter in einer Paartherapie. Dann kann der Therapeut vorbereitend fragen: Wenn Sie ihren Mann zur Weißglut reizen möchten, was müssten Sie dann tun? Wenn Sie Ihre Frau loswerden möchten, was würden Sie dann machen? Die Besprechung des schlimmsten möglichen Verlaufes ist häufig etwas sehr Hilfreiches. Auch weil die Partner sich dann oft dagegen wehren: Ich will ihn ja gar nicht reizen, oder: ich will sie auf keinen Fall verlieren. Ganz wesentlich ist die Rückkehr zur Stunde Null der Beziehung: Was hat Sie damals so sehr an Ihrer Frau fasziniert, dass Sie sich für sie entschieden haben? Aufgrund welcher Eigenschaften haben Sie Ihren Mann aus all den möglichen Aspiranten ausgewählt? Genauso hilfreich ist der Ausblick in die Zukunft. In welchem Zustand wird Ihre Beziehung in drei Jahren sein? Werden Sie weiter zusammenleben, und wenn ja, wie?
 

Vom Ende einer Beziehung

 
Vor Jahren erklärte mir ein Sozialpolitiker, Scheidungen verursachten immer wieder schwere Sozialfälle unter den ehemaligen Partnern. Frauen hätten danach kaum das Geld, ihre Kinder zu versorgen, Männer stürzten sich in die Arbeit und trieben in Alkoholismus und ins Burnout ab. Und die Arbeit der Familienberatungsstellen sei unzureichend. Das seien viel eher Trennungsberatungen als Familienberatungen. Ich glaube, er unterschätzte den Umstand, dass Paare meist erst dann Hilfe holen, wenn alles bereits zu spät ist, also eher um zehn nach zwölf als um fünf vor zwölf.
Dann geht es tatsächlich oft nur mehr um Schadensbegrenzung im Sinne einer akzeptablen Trennung. Sogar ein solcher Schritt ist, wenn er denn erfolgen muss, laut systemischem Verständnis nicht Folge vom schuldhaften Verhalten eines einzelnen Partners, sondern das Ergebnis von angewachsenen Spannungen in der Beziehung, die sich zuletzt nicht mehr anders lösen lassen, als durch die Lösung der Beziehung. Diese Sichtweise entlastet die einzelnen Beteiligten und ermöglicht ihnen, nach ihren jeweils eigenen inneren Regeln auf das schwierige Ereignis zu reagieren.