Kultur | Salto Afternoon

Entschleunigte Lebensweise

Auf der vom Massentourismus verschont gebliebenen Insel Ikaria in Griechenland werden die Menschen sehr alt. Vielleicht weil sie dafür keine Zeit haben.
ikaria3
Foto: Salto.bz

Von nimmersatten Wachstumsprognosen gestärkt, von 0815-Architektur und füglichem Bezahljournalismus begleitet, hat sich Südtirol zu einer touristischen Top-Destination entwickelt. Seit Jahren werden Wellnesstempel aus dem Boden gestampft. „Ich hab gesehen, wie sich meine Lands­leute immer mehr für den Tourismus prostituieren“, kritisierte bereits die Dichterin Maridl Innerhofer (1921-2013) und fügte in dem für ihr Buch Zukunftserinnerungen (2011) geführten Gespräch hinzu: „Viele waren imstande, alles für den Fremdenverkehr aufzugeben. Ich hab bemerkt wie schwach das Selbstbewusstsein dieser Personen ist, wenn sie aus einem Stadel ein Hotel entstehen lassen und dann aus Profitgier noch eines daneben. Warum können die Leute, insbesondere im Tourismus, nie genug bekommen?“
In Zeiten in denen nun die Tourismuswirtschaft brach liegt, wo neue Rekordnächtigungszahlen utopisch sind, reicht vielleicht ein unaufgeregter Blick auf die Geschichte und Lebensweise einer Insel, die nicht nur in Sachen Tourismus ganz anders tickt als Südtirol.

 

Ikaria, in der östlichen Ägäis Griechenlands hat sich zum Wohle der Bewohner und der Landschaft in vielen Dingen eine feine Ursprünglichkeit erhalten. Auch wenn viele Insulaner im Lauf der Geschichte die Insel verlassen mussten – als Flüchtlinge vor dem italienischen und deutschen Faschismus oder aus Armut –, ihre Nachkommen verbringen mittlerweile wieder sehr gerne ihre Urlaubstage auf der Insel ihrer Vorfahren, da sie auf Ikaria eine milde und zeitlose Brise einatmen, die sie glücklich macht und alt werden lässt. Ein Faszinosum ist zudem, dass die Menschen auf Ikaria ihren Alltag ohne Zeit gestalten, indem sie sie liebevoll verabscheuen und dafür einem persönlich angepassten, naturnahen Rhythmus folgen. Eine Uhren-Installation in einem Restaurant der kleinen Stadt Agios Kirykos verbildlicht die zeitlose Lebensweise mit einem Ziffenblatt ohne Zeiger.

 

„Die Leute leben genügsam und zufrieden mit dem, was ihnen zur Verfügung steht. Sie müssen nicht mehr haben, als sie brauchen“, erklärt Christodoulos Xenakis, der sich nicht nur als Veranstalter einer internationalen Seniorenregatta auf Ikaria einen Namen gemacht hat. Er hat für die Insel auch einen Wanderweg erdacht, der von einem Ende der Insel, stets mittig, bis ans andere Ende führt. Die Einheimischen und wenigen Touristen können entlang eines mehrtägigen Fußmarschs nachempfinden, wie und wo sich die Ikarioten in frühen Zeiten vor den Piraten verstecken mussten, die die Insel einst belagerten. Im notdürftigen Rückzug lebten die Inselbewohner unter erschwerenden Umständen und selbst zusammengebastelten Regeln eine solidarische Gesellschaft – lange bevor der Begriff Sozialismus erfunden wurde. Ob ihre vorsozialistische Lebensweise Ideengeber für das in Vergessenheit geratene und von Étienne Cabet verfasste literarische Werk Reise nach Ikarien aus dem Jahr 1840 war? Die fiktive Geschichte eines englischen Lords erzählt über ein utopisches Gefüge, in dem jeder nach seinen Kräften arbeitet und die Menschen in Solidarität, Gleichheit, Freiheit, Einigkeit und Friede zusammenleben.


Die heute von knapp 8.000 Einwohnern bewohnte Insel war 1912 sogar für einen kurzen Zeitraum offiziell ein Freistaat. Offenbar gab es damals von anderer Seite kaum Interesse an der Insel. Sogar eine italienische Besetzung Ikarias wäre von den Insulanern begrüßt worden, wurde allerdings von italienischer Seite ausgeschlossen. Auch auf ein offizielles Eingreifen des griechischen Staates hofften die Inselbewohner vergeblich. Erst im Zuge des Ersten Balkankrieges wurde Ikaria mit Griechenland vereinigt.


Das Zusammenleben auf der Insel wurde zudem von einer kuriosen Nachkriegsgeschichte mitgeprägt, denn mit Ende des griechischen Bürgerkriegs zwischen Nationalisten und Kommunisten wurden von den siegreichen Nationalisten rund 13.000 Kommunisten nach Ikaria verbannt. Die neuen Mitbürger haben gemeinsam mit den freigeistigen Insulanern nicht nur Straßen und Häuser, sondern auch ein spezielles gesellschaftliches Gefüge entstehen lassen, welches das gesellige Beisammensein in den Vordergrund stellt.

Arbeit und Stress sind auf der Insel nicht wichtig, to-do-Listen unbekannt, größenwahnsinnige Bettenburgen ebenfalls. Vielleicht sind es die vielen zeitlosen Anekdoten die neben der gesunden Ernährung die Menschen auf Ikaria im globalen Durchschnitt zehn Jahre älter werden lassen. Jedenfalls gelingt es ihnen lästige Arbeitsmüh und angenehme Erholung in Einklang zu bringen – stets mittig, um ja nicht wie ein übermütiger Ikarus ins Meer zu stürzen.

Bild
Profil für Benutzer alfred frei
alfred frei Mi., 08.04.2020 - 16:22

wahnsinn, Kommunisten leben auf der Insel 10 Jahre länger; eine gelebte Partnerschaft Ikaria - Südtirol: ein Zukunftsmodell nach dem Coronavirus ?
(Die Waffengeschäfte bleiben bis aufs weitere geschlossen ....)

Mi., 08.04.2020 - 16:22 Permalink
Bild
Profil für Benutzer Klaus Hartmann
Klaus Hartmann Mi., 08.04.2020 - 18:27

Ich war das erste Mal vor 30 Jahren dort. Kann mich an ein Schild im kleinen Gemischtwarenladen von Evdilos erinnern: "Sauber genug um nicht krank zu werden und schmutzig genug um noch glücklich zu sein." Gute Einstellung finde ich. Könnte man auf alles anwenden.

Mi., 08.04.2020 - 18:27 Permalink
Bild
Profil für Benutzer kurt duschek
kurt duschek Do., 09.04.2020 - 22:59

.... der Fremdenverkehr ist wichtig, ist eine Bereicherung, aber er sollte nicht zum Mittelpunkt der Gesellschaft hoch gejubelt werden. Der natűrliche Widerstand der in der Bevölkerung entsteht fűhrt zu Spannungen und Streit.

Do., 09.04.2020 - 22:59 Permalink