Kultur | Feldforschung

Hacking the Alps!

Die Alpen sind nicht „Natur pur“, sondern eine „operative Landschaft“, die auf der Basis von Infrastrukturen entsteht. Infrastrukturen formen den emblematischen Raum.
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
Archivierte Zukunft
Foto: Stadtmuseum Bruneck

Gastbeitrag von Peter Volgger

In Zusammenarbeit mit der Architekturstiftung Südtirol / in collaborazione con la Fondazione Architettura Alto Adige.

Ganzer Text unter: gestaltung1.eu

 

Veranstaltung: ALPINE SPACE | The Future

Ausstellung: Archivierte Zukunft im Stadtmuseum Bruneck

 

 

Die Alpen sind nicht „Natur pur“, sondern eine „operative Landschaft“, die auf der Basis von Infrastrukturen entsteht. Infrastrukturen formen den emblematischen Raum unserer Zeit. Rem Koolhaas meint sogar, sie seien wichtiger wie die Architektur. Der Klimawandel bringt ihre Fundamente ins Wanken und macht aus dem vermeintlich passiven Hintergrund der Bergwelt einen mächtigen Akteur. Zu den Infrastrukturen gehören nicht nur Straßen und Rohrleitungen, sondern auch die zwischen unseren Smartphones zirkulierenden Wellen. Auf der Basis dieses erweiterten Begriffs der Infrastruktur fordert die Architekturtheoretikerin Keller Easterling Architekt*innen dazu auf, nicht ausschließlich „Objekt-Formen“ in die Landschaft zu setzen, sondern das infrastrukturelle Betriebssystem kreativ zu manipulieren. Im Kontext des Klimawandels könnten sich daraus neue Potentiale für den alpinen Raum ergeben …

Obwohl die Freizeitindustrie „Natur pur“ verspricht, sind die Alpen kein Refugium romantischer Fortschrittskompensation mehr

Die Alpen waren schon immer ein »Labor der Moderne«, in dem verschiedene Konzepte der Natur erprobt wurden. Wer heute allerdings von der »reinen Natur« fantasiert, wird die Frage erlauben müssen, welche vom Menschen gemachte Natur damit gemeint sein könnte. Obwohl die Freizeitindustrie „Natur pur“ verspricht, sind die Alpen kein Refugium romantischer Fortschrittskompensation mehr, sondern ein Labor in situ für den globalen Klimawandel. Galten sie lange Zeit als Kontrapart der Großstadt, so sind die Alpen im 20. Jhrt. im globalen „urbanen Gewebe“ (Lefebvre et. al.) aufgegangen, das zur Erosion der Unterscheidung von Stadt und Land geführt hat.i Rem Koolhaas hat in seiner Ausstellung »Countryside. The Future« (2020)ii mit seinem Postulat vom ländlichen Raum als der »neuen Frontlinie der Transformation« auf die Dynamik im ländlichen Raum hingewiesen und dazu angeregt, die Stadt vom Land aus zu betrachten. Strukturell gesehen teilt sich die operative Landschaft in den Alpen in zwei Zonen auf: Dem „Frontstage-Bereich“ des Entertainments in den Höhenlagen steht der „Backstage-Bereich“ gegenüber, eine logistische Landschaft, die sich entlang der Haupttäler ausbreitet. Die Frontstage-Zone ist die repräsentative Schauseite, der zugetraut wird, sie könne sich ständig erneuern. Der permanente Umbau der Skigebiete ist ein Indiz dafür. Der Tourismus stilisiert diese Zone gleichzeitig zu einer »posturbanen Wildnis“ hoch, die Freiheit und Abenteuer beinhaltet, also paradoxerweise infrastrukturfrei sein müsste. Im Unterschied dazu spricht man der eher vernachlässigten Backstage-Zone ästhetische Qualitäten ab und sieht sie als „Wegwerflandschaft“, die allenfalls den touristischen Blick auf die Berge verstellt.

 

 

 

Die Alpen als Park

Eine unkonventionelle Perspektive auf die Alpen entwarf Stefano Boeri zusammen mit der Künstlergruppe „Multiplicity“. Aus Satellitenbildern entstand im Jahr 2002 »All Europe Key“iii, die Karte eines mit Tausenden kleinen und mittleren Städten überzogenen Europa. Das Bild zeigt eine Megacity mit wenigen grünen Flecken. Die Alpen sind darin ein von Millionen von Menschen frequentierter „Stadtpark“iv. So wie die New Yorker in den Central Park fahren, um Natur zu erleben, drängeln sich die Bewohner der Megacity nicht mehr nach »draußen«, sondern in die Natur »hinein“. Wer die Bilder der Touristenströme in den Dolomiten während der Pandemie kennt, weiß, welche Bedeutung der „leere Raum“ für die Bewohner der Megacity hat. Die Alpen sind aber weder leer noch reine Natur, noch eignen sie sich als Gegenpart zur Stadt. Wer durch die Alpen fährt, durchquert eine hybride Landschaft aus Einfamilienhäusern, Siedlungen, Shopping Malls, alten Dorfkernen und vielem anderen mehr. Zwei Drittel der alpinen Bevölkerung leben im Mix des „Rural-urbanen“. vDie Tatsache, dass wir das Adjektiv „urban“ wie selbstverständlich auf die Alpen beziehen (Innsbruck bezeichnet sich zB. als „urban-alpine Stadt“), veranlasste die Schweizer Stararchitekten Herzog & de Meuron zur provokanten Frage: Ist das Matterhorn ein urbaner Ort? »Es wird [...] kaum noch anders benutzt, begangen oder erlebt als ein städtisches Monument, ein Sportparcours oder ein Naturmuseum«vi, stellten die Architekten fest. Damit ist die Unterscheidung von Wildnis „oben“ und Zivilisation „unten“ überflüssig. Die von Boeri leichtfüßig aufgespannte Megacity kennt weder Wildnis noch kann sie allein vom Grün ihrer Stadtparks leben. Die Megacity ist ein totalisierter Kulturraum und Natur wird lediglich noch als das »grenzenlos belastbare Außen“ vorausgesetzt.

teilt sich die Landschaft in den Alpen in zwei Zonen auf: Dem „Frontstage-Bereich“ steht der „Backstage-Bereich“ gegenüber

Architektur, Infrastruktur und Medium

Wer durch die Haupttäler in den Alpen fährt, nimmt die direkt an der Autobahn stehenden Gebäude häufig kaum wahr. Raststätten und Tankstellen, Bahnhöfe und Bushaltestellen, Lagerhallen, Service-, Distributions- und Datencenter gehören zu den »Servicearchitekturen«. Das sind Gebäude, die aus den neuen Bedingungen der Produktion, dem großen Flächenbedarf für den Transport, der Bereitstellung und Lieferung von Waren und Gütern heraus entstehen. Sie gehören zur »logistischen Landschaft“ und sind eigentlich nicht neu. Bereits der Bahnhof der 1860er Jahre „prozessierte“ in einem Setting von Räumen (Warteräume, Fahrkarten- und Gepäcksschalter usw.) die Reisenden. Damit ist gemeint, dass die Architektur Abläufe in ihre einzelnen Schritte zerlegt und sie in ein „Schema“ übersetzt.vii Im 19. Jhrt ist der emblematische Raum dafür die Fabrik. Mit der gleichen Logik, mit der die Moderne aus der Küche eine kleine Fabrik machte, übertrug sie das »Prinzip des Gleichstroms« auf das Territorium: Die Menschenströme sollen reibungslos in Bewegung gehalten werden.viii

 

Die Architekturtheoretikerin Keller Easterling schließt daran an. Sie verlegt aber den Schwerpunkt von der „Objektform“ der Architektur zur „Aktivform“ der Infrastruktur und verknüpft Architektur, Infrastruktur und Medien. Servicearchitektur wird zur Medientechnik, sobald sie »nicht mehr vom Gebäude als Basiseinheit ausgeht, sondern von medialen Operationen, zB. „verbinden/unterbrechen“, „öffnen/schließen“. Architektur schafft ein »operatives Gefüge«, so wie die Infrastrukturen eine „operative Landschaft“ erzeugen. Infrastrukturen sind für Easterling »aktive Agenten«, die den Raum mit ihren Verknüpfungen erst erzeugen. Zu ihnen gehören Praktiken und Patente, Verträge, Baugesetze, rechtliche und ökonomische Standards oder kulturelle Erzählungen und »Felder von Mikrowellen“, Geldautomaten, Frachtencontainer oder Freihandelszonen. Dem alpinen Raum liegt also eine „infrastrukturelle Matrix“ zugrunde, die darüber entscheidet, wie Objekte und Inhalte in Umlauf gesetzt werden. Betrachtet man einzelne Gebäude als den „Inhalt“, so gilt es herauszufinden, was mit dem »spatial operating system« der Alpen gemeint sein könnte.ix

 

 

Wie „hackt“ man die Alpen?

»[W]ir bauen Städte nicht mehr, indem wir einzelne architektonische Meisterwerke nebeneinanderstellen. Vielmehr erlaubt es die maßgebliche Formel, Städte wie Shenzhen oder Dubai mit einem Sperrfeuer gleichförmiger Wolkenkratzer an jedem beliebigen Ort der Welt zu replizieren«x, schreibt Easterling. Das gilt auch für die Alpen. Zwar denken Architekt*innen noch immer zuerst an ihre Meisterwerke, der überwiegende Teil des Gebauten formt aber eine »diffuse [...] Matrix aus Details und wiederholbaren Formeln“. Dem alpinen Raum liegt ein machtvolles Netzwerk zugrunde, das von Skripten durchdrungen ist, die den Konsum organisieren. Der weltweite Export alpiner Skiresorts, sind ein Beleg dafür, wie diese Formeln in den Weltmarkt vordringen. Waren es zB. früher noch die „Tiroler Skihütten“, die von österreichischen Skilehrern in den amerikanischen Skiresorts errichtet wurden, so geht es heute darum, mit »Österreich Häusern« dafür zu sorgen, dass die Chinesen nicht »Schifahren lernen nach US-Plänen«. Das Ziel ist aber nicht das neue „Österreich-Haus“, sondern das Knacken dieser Formel, denn der »Medien-Designer« entwirft gar keine Objekte mehr, sondern stellt neue Beziehungen zwischen ihnen her. Als Beispiel dafür könnten die am Fließband produzierten Reihenhausanlagen fungieren, die allerorts das Landschaftsbild formen. Denn Architekt*innen der Zukunft achten nicht mehr auf das Design der Gebäude, sondern darauf, die »Multiplikatoren« zu ändern, also zB. Verhältnis von Auto und Garage. Easterling sieht darin ein »magisches Moment«, in dem sich die Vision des Designers in der alltäglichen Welt zu verwirklichen beginnt. Aber, wie „hackt“ man die Alpen?

 

Zuerst sollte man nach »Markern« in der Landschaft suchen, die einen Hinweis liefern auf Dispositionen in ihr. In der alpinen Landschaft sind verschiedene kodierte Raumprodukte und Formeln gespeichert, zB. Resorts, Golfplätze, Zonen, Skipisten usw. Um sie zu »hacken«, braucht es Formen, die in den gleichen Registern arbeiten wie das Betriebssystem selbst. Beim »Active Form Design« werden »Multiplikatoren« oder »Schalter« (switcher) erzeugt, um neue Dispositionen in die Landschaft einzuführen oder bestehende zu aktivieren. Die Idee der »Porta Alpina«, eine Umsteigestation für einen 800m hohen Personenlift im Gotthardbasistunnel, ist ein Beispiel für einen solchen »Schalter«. Mit einem Lift, der für die Baustelle eingerichtet wurde, sollte man in Zukunft den Tourismusort Sedrun erreichen können. Das »switchen« erlaubt es Passagieren, zwischen verschiedenen Maßstäben zu wechseln. Ein anderes Beispiel für einen bereits vorhandenen „Marker“ sind Skigebiete. Viele von ihnen werden mit dem Klimawandel ihre Funktion verlieren, also geht es darum, sie zu adaptieren. So könnte man in Zukunft zB. Liftstationen zu „Farmen“ umcodieren und aus den Liften „Erntemaschinen“ machen. Man hackt die alpine Landschaft zB., indem man das Skigebiet mit einem »Wachstumsprotokoll« für Landgetreide versieht und auf Pisten seltenes Getreide anbaut. Kritiker haben darauf hingewiesen, die Haltung des »medium designers« bei Easterling sei konflikt- und geschichtslos. Alles sei so, als hätte es davor nichts gegeben. Nur so könne sich das vorgefundene Territorium als Spielwiese der „Superbugs“, „Switch“, „Multiplikator“ entfalten. Easterling behandle die Frage von Besitz und Eigentum gar nicht und tue so, als entscheide der Besitzer gar nicht mit. Das Getreide wächst bekanntlich nicht im politikfreien Raum. Verknüpft man aber das Hacking mit dem Allmende-Modell, das im Alpenraum eine lange Tradition hat, so gelangt man zu einer neuen Bewältigungsstrategie für die ökologischen Krise, in der wir stecken.xi

 

Vielleicht sollten sich Architekt*innen in Zukunft damit auseinandersetzen, in welchem Ausmaß der Umbau des alpinen Raums zu einer operativen Landschaft bereits stattgefunden hat und wie eine zukünftige Generation kreativer mit dieser Tatsache umgehen könnte.

 

 

 

i Brenner, Neil and Nikos Katsikis: »Operational landscapes: hinterlands of the Capitalocene«, in: Architectural Design, 90, 3 (2020), pp. 22-31/ Allen, Stan: »Infrastructure Urbanism«, in: Allen, Stan: Points + Lines. Diagrams and Projects for the City, New York 1999, pp. 46 – 89, p. 52.

 

ii Koolhaas, Rem: Countryside. The Future, Exhibition Guggenheim Museum 2020.

 

iii Boeri, Stefano und Maddalena De Ferrari (Multiplicity): »All Europe Key«, für die Ausstellung USE Uncertain States of Europe auf der XX Triennale in Mailand 2002. Vgl. dazu: Boeri, Stefano: »All Europe Key«, in: The Tomorrow and New Narratives For Europe. URL: https://www.you- tube. com/watch?v=hVDBvUCcXow [12.05.2015].

 

iv Vgl. dazu auch die Arbeit des deutschen Architekten Theo Deutinger

 

v Borsdorf, Axel et al.: »Das Stadt-Land-Kontinuum im Alpenraum. Methodenvergleich zur Abgrenzung von Stadtregionen in verfingerten Raumsystemen«, in: Borsdorf, A. und Paal M. (Hrsg.): Die Alpinen Stadt zwischen lokaler Verankerung und globaler Vernetzung, ISR-Forschungsberichte Nr. 20, Wien 2000, S. 59-76.

 

vi Herzog, Jacques; De Meuron, Pierre; Meili, Marcel; Diener, Roger; Schmid, Christian: Die Schweiz, ein städtebauliches Portrait, [Bd. 1: Einführung; Bd. 2: Grenzen, Gemeinden – eine kurze Geschichte des Territoriums; Bd. 3: Materialien], ETH Studio Basel – Institut Stadt der Gegenwart (Hersg.), Basel 2005.

 

vii Jany, Susanne: »Operative Räume. Prozessarchitekturen im späten 19. Jahrhundert«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft. Heft 12: Medien / Architekturen, Jg. 7 (2015), Nr. 1, S. 33–43.

 

viii Leigh Star, Susan and Geoffrey Bowker: »How to Infrastructure«, in: Leah A. Liewvroux, Sonia Livingston (Hg.): The Handbook of New Media. Updated Student Edition, London 2009, pp. 230 – 245.

 

ix Easterling, Keller: »Die infrastrukturelle Matrix«. in: Zeitschrift für Medienwissenschaft. Heft 12: Medien / Architekturen,Jg. 7 (2015), Nr. 1, S. 68–78.

 

x Ebd.

 

xi Vgl. Vogt, Günther: Die Alpen als «Common Ground» , NSL (Netzwerk Stadt und Landschaft) Institut für Landschaftsarchitektur, ETH Zürich 2015. URL: https://www.nsl.ethz.ch/die-alpen-als-common-ground [15.10.2016].