Gesellschaft | Jugendchancen

„Kann ich morgen in die Schule gehen?“

Ein Erfahrungsbericht über einen verpatzten Schulstart.
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
Jungendlicher blickt in die Zukunft
Foto: netz | Offene Jugendarbeit
  • Das Dilemma mit der Inklusion

    In den Medien werden wir oft mit Schulabsentismus konfrontiert und es steht im Raum, dass Eltern zukünftig bestraft werden, wenn ihre Kinder nicht in die Schule gehen. Wir hören oft: „Die Jugend von heute weiß nicht, was sie will, sie ist bindungslos“. Oder ein anderer Klassiker, den Sie, liebe Leser*innen, bestimmt auch schon gehört haben: „Wenn du wirklich arbeiten willst, dann findest du auch eine Arbeit oder eine Lehrstelle!“ Ist das wirklich so? Tatsächlich ist dies eher eine Sichtweise von Menschen, die sich noch nie damit auseinandersetzen mussten und von solchen, die auf ein unterstützendes Familiensystem als Ressource zurückgreifen konnten. 

    Weit weniger oft hören wir „Kann ich morgen in die Schule gehen?“. Doch auch das kommt vor. Die Jugendlichen kommen meistens aus sozial und ökonomisch benachteiligten Milieus, wo diese Stimme leise ist bzw. ungehört bleibt. Deniz bekommt von uns – dem JugendCoachingGiovani und netz | Offene Jugendarbeit – hier eine Stimme. Es ist sein Weg und er weiß, dass er sich anstrengen muss, mehr als der*die eine oder andere Mitschüler*in. Er leistet seinen Teil, aber Inklusion ist keine „Einbahnstraße“, auch wenn es noch Menschen gibt, die so denken. Inklusion stellt auch eine Anforderung an die Aufnahmegesellschaft dar, um gerechte Chancen für den Zugang zu Bildung, Ausbildung und Berufstätigkeit zu schaffen.

  • Die Geschichte eines 16jährigen:

    Der 16jährige Deniz wollte schon seit Beginn der Mittelschule, die er in der Türkei besuchte, Damenfriseur werden. Sein Onkel hat einen Friseursalon, den er oft in seiner Freizeit aufsuchte. Für Deniz war sonnenklar, dass er in diesem Salon seinen Traumberuf ausführen wird. Doch dann passierte das Leben und vor einem halben Jahr musste er mit seiner volljährigen Schwester nach Südtirol auswandern. Der Einstieg in den Orientierungslehrgang 16+ (*) gelang im Mai 2023 – Dank der Südtiroler Vinzenzgemeinschaft. Im Zuge des Gruppen- und Einzelcoachings lernte ich Deniz interessiert und fröhlich kennen. Durch seine angenehme, freundliche Art fand er schnell Kontakt zum Lehrerteam und zu seinen Mitschüler*innen, die besonders was das sprachliche Niveau betrifft schon fortgeschritten waren. Den Kontext muss man*frau sich so vorstellen, dass die meisten Schüler*innen bereits ein A1-A2 Level in den Sprachen Deutsch, Italienisch und Englisch hatten und er fing gerade erst an drei Fremdsprachen gleichzeitig zu lernen. Trotz dieser sprachlichen Barriere nahm er aktiv am Unterricht und an den Gruppenaktivitäten teil. 

    Um Friseur*in zu werden gibt es nach dem Abschluss der Mittelschule die einjährige Berufsgrundstufe für Schönheitspflege und Friseur in einer Landesberufsschule. Anschließend startet die 4-jährige Lehrausbildung. Voraussetzung für die Lehre ist eine Anstellung in einem Betrieb. Da sein Berufswunsch sehr klar war, organisierten wir ein Vorstellungsgespräch in einer Landesberufsschule. Das Gespräch verlief positiv, ihm wurden auch die Räumlichkeiten gezeigt und Deniz lernte den Schulsozialpädagogen kennen. Er bekam das Einschreibeformular, welches wir sofort ausfüllten und seinem Sozialassistenten zum Unterschreiben schickten. Deniz hatte ein Ziel vor Augen. Er war glücklich, ich war glücklich. Wir beendeten das Coaching. 

    „Morgen ist der erste Schultag. Bin ich zugelassen? Kann ich zur Schule gehen?“

    Happy End - so könnte ein Schritt in Richtung erfolgreicher Inklusion aussehen, wenn mir da nicht Deniz einen Tag vor Schulbeginn geschrieben hätte: „Morgen ist der erste Schultag. Bin ich zugelassen? Kann ich zur Schule gehen?“. Im Zuge unseres Gesprächs stellte sich heraus, dass er keine Informationen von der Schule zum Schulbeginn erhalten hat. Der Sozialassistent war für uns beide nicht erreichbar. Ich kontaktierte das Schulsekretariat, welches hilfsbereit war und uns die Informationen umgehend zukommen ließ. 

    Auch wenn Deniz gerade noch rechtzeitig die notwendigen Informationen für den Schulstart erhalten hat, war er sichtlich angespannt. Seine Vorfreude, Offenheit und auch sein Berufswunsch wurden überschattet von Unsicherheit und Überforderung. In den ersten Schultagen fühlte er sich fehl am Platz und allein. In dieser Anspannung fiel es ihm noch schwerer in den Fremdsprachen Deutsch und Italienisch zu reden, obwohl er im Sommer einen weiteren Sprachkurs und ein Sommercamp besucht hat. Er verstummte regelrecht, wenn ihn ein*e Lehrer*in etwas fragte. Deniz dachte sich: „Ich glaube, ich langweile die Lehrer*innen.“ Seine natürliche Neugier war verschwunden und er wollte nur noch raus aus diesem Dilemma. Am 2. Schultag stand sogar im Raum, dass er wieder in den Orientierungslehrgang 16+ zurückkehrt. Verständlich, dass sich Deniz wieder an den Ort zurücksehnt, wo er sich willkommen und kompetent fühlte. In diesem inneren Stresszustand eine solch wichtige Entscheidung für die berufliche Zukunft zu fällen, hielten die Projektleiterin des OLG 16+ und ich nicht für eine angemessene Lösung des Problems. Es wäre eine schnelle und reaktive Antwort darauf, aber keine reflektierte.

    Bei einem Coachingtermin nach der ersten Schulwoche, wo auch eine interkulturelle Mediatorin und seine Schwester anwesend waren, war er zu Beginn sehr entmutigt und sogar bereit seinen Traumberuf aufzugeben. Er sagte mit gesenktem Blick: „Ok, dann mach ich halt etwas mit Computer.“ Seine Schwester schüttelte traurig den Kopf. Er erzählte, dass er sich schämt, weil er noch keine Arbeitskleidung für den Praxisunterricht hat und ohne nicht mitmachen darf. Das bedeutet zwei von fünf Tagen ist er von der Klassengemeinschaft ausgeschlossen. Zudem konnte er nicht in der Schulmensa essen gehen, da er kein Geld hatte und die Öffnungszeiten der Mensa, wo er gratis essen konnte, nicht vereinbar mit den Schulzeiten waren. Was für ein Schulstart! 

    Obwohl das Bedürfnis, alles hinzuschmeißen, groß war, konnten wir trotzdem noch einmal den Blick auf seine Fähigkeiten schärfen. Wir haben Plan A (Berufsgrundstufe der Schönheitspflege und Friseur noch eine Chance geben) und Plan B (Orientierungslehrgang 16+ und Lehrstellensuche) erarbeitet. Bei der Verabschiedung sagte er, dass er seine Entscheidung per WhatsApp mitteilen werde.

     „Keine Sorge, Vollgas“, schickte er mir und machte mir damit vermutlich mehr Mut als sich selbst.

    Noch am selben Tag schrieb er, dass er seine Ansprechperson bei der Südtiroler Vinzenzgemeinschaft kontaktiert hat und sie zusammen seine Arbeitskleidung besorgt haben. Somit konnte er nach einem holprigen Start endlich loslegen. „Keine Sorge, Vollgas“, schickte er mir und machte mir damit vermutlich mehr Mut als sich selbst. In der Zwischenzeit hat er die neue Schulsozialpädagogin kennengelernt und die Berufsgrundstufe gefällt ihm. 

    Jugendliche brauchen Menschen, die ihnen zuhören und Unterstützung in der Bewältigung von Krisen und ihren Ängsten. Sie müssen Mitgestalter ihrer Lebenswelt bleiben und brauchen Raum für Mut, Vorstellungsvermögen und das Erkennen von Möglichkeiten. Eine Portion Optimismus darf in der Jugendzeit nicht fehlen!

    Diese Schulstartschwierigkeiten in einen „Re-School-Start“ umzuwandeln, gelang, weil er handlungsfähig und mutig geblieben ist und allen Widrigkeiten zum Trotz seinem Berufswunsch treu geblieben ist - und das mit 16 Jahren. 

    *Name des Jugendlichen wurde geändert

  • Was ist das JugendCoachingGiovani?

    JugendCoachingGiovani ist ein Unterstützungsangebot. Dabei werden Jugendliche begleitet, eine Arbeit, eine Lehrstelle oder einen passenden, alternativen Weg für sich zu finden. Durch individuelle Gespräche unterstützen die Jugendcoachs die Jugendlichen, ihre Stärken und Fähigkeiten aufzuzeigen und darauf aufbauend ihre Ziele Schritt für Schritt umzusetzen. Es ist kostenlos und die Teilnahme ist freiwillig. JugendCoachingGiovani richtet sich an Jugendliche im Alter von 15-25 Jahren. Mehr Infos hier:

  • Was ist der Orientierungslehrgang (OLG) 16+?

    Das Projekt wurde 2021 in Bozen ins Leben gerufen. Es handelt sich um eine Maßnahme zur sozialen und beruflichen Eingliederung für junge Menschen (ab 16 Jahren), die erst seit kurzem in Südtirol leben. Der Orientierungs- und Ausbildungsprozess der Projektgruppe dauert ein Schuljahr lang mit der Aufgabe die Teilnehmer*innen zu einem gemeinsam definierten Ziel zu führen. Die Ziele können sein: weiterführende Schule, Ausbildungspraktikum, Lehre oder Arbeitsstelle. Das JugendCoachingGiovani stellt den Schüler*innen während des gesamten Schuljahres einen Coach zur Seite. Der OLG 16+ ist sozusagen eine Brücke bzw. ein erster Schritt in Richtung Inklusion. Mehr Infos:

  • Sandra Scherz JugendCoachingGiovani netz | Offene Jugendarbeit Foto: netz | Offene Jugendarbeit