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Deutscher Reporterpreis 2023

Am 4. April wurde in Berlin der Deutsche Reporterpreis überreicht. Erfolg für SZ mit Bester Essay und Beste Investigation. Die Zeit gewinnt Beste Reportage und Beste Kulturreportage. Doch die Qualität der Texte muss kritisch betrachtet werden.
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Deutscher Reporterpreis 2023
Foto: reporter-forum.de
  • Den Preis für den besten Essay gewann Tobias Haberl für das Magazin der Süddeutschen Zeitung.  Haberl bot in dem Text einen ironischen Blick auf seinen Kirchenbesuch:

    „Es ist tatsächlich so, dass ich mich, wenn ich nicht zu Hause hocken, aber niemandem begegnen will, an einem gewöhnlichen Dienstagabend in eine Kirche setze (…) Fast immer bin ich der Einzige, manchmal kniet ein Mütterchen mit Plastiktüte vor mir, manchmal spielt jemand Orgel. Meistens bleibe ich nur ein paar Minuten, mein Handy auf lautlos geschaltet, sauge die steinerne Kühle ein, die letzten Weihrauchreste, und kann nicht fassen, dass sich fast niemand nach dieser Pracht, nach dieser Atmosphäre sehnt, danach, für ein paar Minuten unbelästigt zu sein".

    Dafür wird Tobias Haberl verachtet, so behauptet er, von den Menschen seiner Branche, die „irgendwas mit Medien“ gemein hat: 
    „Dass ich sowohl in meiner Nachbarschaft (gentrifiziertes Bullerbü-Viertel) als auch in meiner Branche (irgendwas mit Medien) von Menschen umzingelt bin, die sich entweder nicht oder verächtlich über Religion äußern“.

    Immerhin gelangte Haberl bei seinem Kirchgang zur Erleuchtung: "Diesen Text traue ich mich nur zu schreiben, weil ihn sowieso niemand liest". Tatsächlich wurden Autoren vom österreichischen Politiker Ewald Stadler  schon scharf für Blasphemie verfolgt, im Vergleich wegen banaler Harmlosigkeiten, etwa der ehemalige katholische Priester Adolf Holl für "Gedanken zum Tag.  Dabei muss Holls "Jesus in schlechter Gesellschaft" wohl als tiefgründiger bewertet werden, als Haberls "Unter Heiden".

    Anmerken muss man, dass die Nominierungen in der Kategorie Essay insgesamt als katastrophal für die deutsche Publizistik betrachtet werden müssen. Dazu erschien bereits im Kulturmagazin Tabula Rasa der Beitrag:

    Zu den Nominierungen des deutschen Reporterpreises in der Kategorie Essay: Wird empfindlicher Erlebnisaufsatz gesucht oder reflektierte Sachlichkeit?
    Tabula Rasa Magazin, 5. 11. 2023
    www.tabularasamagazin.de/johannes-schuetz-zu-den-nominierungen-des-deutschen-reporterpreises-in-der-kategorie-essay
     

  • Beste Investigation

    Die Süddeutsche Zeitung gewann den Preis für die Beste Investigation. Lena Kampf, Kristiana Ludwig und Simon Sales Prado für "Das verlorene Boot".

    Es ist ein Bericht über Flüchtlinge, die mit einem Schiff von der Türkei nach Europa kommen wollten. Das Boot ging vor der italienischen Küste unter, 94 Menschen starben, 30 werden vermisst. Der Beitrag ist weitgehend eine Reportage, von der Küste in Kalabrien. Zwar wird auch die Frage nach der politischen Verantwortlichkeit gestellt, doch wird diese nur sehr fragmentarisch und subjektiviert analysiert.

    Der Text startet mit der Beschreibung des Badestrandes:
    "Noch sind die Parkplätze in Steccato di Cutro leer, die Eisdielen mit Brettern verbarrikadiert. Mitte März ist es noch kühl in Kalabrien, ganz im Süden Italiens. Nicht mehr lange, dann werden Urlauberinnen und Urlauber hier die kleine Freiheit suchen, mit Sonnencreme und Luftmatratze".
    (Lena Kampf, Kristiana Ludwig und Simon Sales Prado: "Das verlorene Boot", Süddeutsche Zeitung, 02.06.2023)

    Die politische Verantwortlichkeit wird dann insbesondere der deutschen Kanzlerin Angela Merkel zugeordnet:
    "hängt auch mit der unheilvollen Wirkung eines Deals zusammen, den die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel von der CDU im Jahr 2016 für die EU mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan aushandelte".

    Die italienische Ministerpräsidentin Meloni musste wenigstens weinen: "Ministerpräsidentin Georgia Meloni hatte knapp drei Wochen nach dem Schiffbruch die Überlebenden nach Rom eingeladen (...) Assad Almulqi erzählte ihr von seinem kleinen Bruder, wie er erfror. Meloni, erinnern sich Zeugen, kamen die Tränen".

    Merkel ist demnach die Schuldige. Ob diese Analyse hält, das müsste im Detail erörtert werden, immerhin wurde gerade Kanzlerin Merkel für ihre humane Flüchtlingspolitik schwer in die Kritik genommen.

    Als Investigation ist "Das verlorene Boot" jedenfalls eine Kategorienverfehlung. Als Reportage aber zu banal. Die Jury sollte erklären, weshalb Investigation im Stil eines Trivialromans geschrieben werden muss. 
     

  • Beste Reportage

    Moritz Aisslinger gewann den Preis für die beste Reportage für Die Zeit mit "Dem Sturm ausgeliefert".

    "Sag nichts der Mama aber unser Engine Control Raum hat sich soeben mit Wasser gefüllt und Motor ist jetzt ausgefallen. In der Neubauwohnung in Uerdingen nimmt Jens Orda sein Handy, liest. Er ist Anfang 30, die Nachricht hat ihm sein jüngerer Bruder Lukas geschickt. Jens Orda tippt sofort eine Antwort. Ist sowas schlimm?"
    (Moritz Aisslinger, "Dem Sturm ausgeliefert", Die Zeit, 10.11.2022)

    Der deutsche Leser versteht wohl nicht sofort die Bedeutung, wenn ein Schiff leck wird und mit Wasser sich füllt. "Ist sowas schlimm", das wollen die Leser endlich erfahren. 
    "Stunden später hat Jens Orda nichts mehr von seinem kleinen Bruder gehört. Er schreibt ihm: Sag mal was... werd schon ganz nervös".

    Bei Reportagen darf die Orientierung an Heftchenromanen wohl in Frage gestellt werden. Ob der Text überhaupt hält, das muss noch exakt überprüft werden. Mit Gruß von Claas Relotius, dessen Reportagen bereits für einen Skandal sorgten.

     

     

  • Beste Kulturreportage

    Für die beste Kulturreportage ausgezeichnet wurde Maja Beckers, die mit "Abgehoben" für Zeit Online gewann.

    Es ist ein Bericht von der größten Privatjet-Messe Europas, die European Business Aviation Convention and Exhibition in Genf.  Gleich zu Beginn der Reportage erzählt die Autorin von einem Mann, der für ein Unternehmen arbeitet, bei dem man Privatjets chartern kann:
    "der Mann erzählt gerne von den Herausforderungen seiner Branche, die irgendwie banal und gleichzeitig komplett surreal klingen".
    (Maja Beckers, "Abgehoben", Zeit Online, 29.05.2023)

    Bei ihrer Kulturreportage wurde Maja Beckers auch mit Demonstranten konfrontiert, die gegen Privatjets aus Gründen des Klimaschutzes protestierten. Dutzende Aktivisten stürmten den Platz. Deshalb muss Maja Beckers mit weiteren Besuchern noch warten: 
    "Wir stehen nun vor der Messehalle. Einige zünden sich Zigaretten an. Der  Sicherheitsmann sagt, es soll bitte nur hinter der gelben Linie geraucht werden, aber dafür ist der Ärger jetzt zu groß".

    Muss tatsächlich für die Beste Kulturreportage ein Text über den Trend zu Privatjets ausgezeichnet werden? Für einen kultursoziologischen Beitrag ist der Text zu schwach. Für die Nominierung als Reportage fehlen interessante Schauplatze, dafür hätte die Autorin zumindest die ORF-Intendantin Ingrid Thurnher in ihrem Privatjet auf dem Weg von Wien nach Zürich begleiten müssen. Der Text von Maja Beckers ist in diesem Jahr allenfalls als Gewinner für den Besten Essay geeignet.




     

  • Ausführlicher Bericht zum deutschen Reporterpreis 2023:

    Deutscher Reporterpreis 2023 für „Unter Heiden“
    Tabula Rasa Magazin, 5. 12. 2023
    www.tabularasamagazin.de/johannes-schuetz-deutscher-reporterpreis-2023-fuer-unter-heiden

     

     

  • Links

    Zu den Nominierungen des deutschen Reporterpreises in der Kategorie Essay
    Wird empfindlicher Erlebnisaufsatz gesucht oder reflektierte Sachlichkeit?
    Tabula Rasa Magazin, 5. 11. 2023
    Der deutsche Reporterpreis wird am 4. Dezember im Rahmen einer Gala in Berlin überreicht. Auch für Essay. Die Nominierungen wurden bereits präsentiert. Wie schon in den vergangenen Jahren dominierte Befindlichkeitsliteratur.
    www.tabularasamagazin.de/johannes-schuetz-zu-den-nominierungen-des-deutschen-reporterpreises-in-der-kategorie-essay
     

    Nobelpreis des Schmerzes – Peter Handke ausgezeichnet mit Literaturnobelpreis
    Tabula Rasa Magazin, 7. 12. 2019
    www.tabularasamagazin.de/nobelpreis-des-schmerzes-am-10-dezember-erhaelt-der-schriftsteller-peter-handke-den-literaturnobelpreis