Kultur | Salto Afternoon

Letzter Anker Hafenbecken II

Ein Gespräch mit dem Schweizer Filmemacher und Autor Gabriel Heim, zur faszinierenden Geschichte des in Basel gestrandeten Kapitäns Francesco Giuntini.
heim3.jpg
Foto: Foto: Agostino Fuscaldo (Minet, Rai Südtirol)

Salto.bz: Wie sind Sie zu dieser Geschichte gestoßen?
Gabriel Heim: Ich habe etwa drei Jahre im Staatsarchiv Basel viele Hundert Akten von Flüchtlingen und Zuzügern gelesen, die zwischen 1918 und 1960 in Basel angekommen sind. Diese Akten wurden von der sogenannten Fremdenpolizei geführt und enthalten sehr viele Dokumente aus allen Bereichen des Lebens: Arbeit, Beziehungen, Finanzen, politische Ansichten, Charakter. Damals wurde noch viel geschrieben. Deshalb finden sich in diesen Dossiers auch Briefe der Ausländerinnen und Ausländer an die Behörde. Darin kann man viel über die Lebensumstände und die Schicksale erfahren. Auf Kapitän Giuntini bin ich aus Zufall gestoßen - und seine Geschichte hat mich sofort fasziniert.
Link zum Radiobeitrag

All die Details, die wir in der Sendung hören, stammen aus recherchierten Texten oder auch aus Ihrer Fantasie?
Fast alles ist recherchiert, wobei ich auch andere Quellen genutzt habe. Zum Beispiel über Kriegsereignisse oder Expeditionstagebücher von Reisen auf dem Orinoco. Einzig zu Giuntinis Begleiterin, Leonore Bodenmann, hatte ich kaum Material. Ich kenne nur ihre Lebensdaten und ihre Herkunft und weiß, dass sie im Alter nach Locarno gezogen ist. Leider hatte sie keine Kinder, darum ist die Überlieferung ihres Lebens so spärlich. Was sie erzählt, habe ich aus dem Wenigen selbst nachempfunden.

Bildhaft wird es auch, wenn Sie von den Fotos und Aufzeichnungen eines Schülers sprechen, der ein Album zusammengestellt hat. Wie haben Sie das entdeckt?
Ich wusste, dass Giuntini 1943/44 als Navigationslehrer tätig war.  Ich habe lange nach den Namen seiner damaligen Schüler gesucht. In einer kleinen Publikation des Schiffer-Vereins Basel habe ich die Schulklasse dann gefunden. Als ich die Namen hatte, versuchte ich raus zu finden, wer davon noch am Leben sein könnte. Dabei bin ich auf den Nachruf von Männi Lagler gestoßen, der von seiner Tochter verfasst worden war. Die Tochter, Frau Ursula Kämpfer, habe ich dann schnell gefunden. Damit war ich am Ziel. Dass dabei noch ein Fotoalbum zu tage getreten ist, war der Lohn für die lange Suche.

Haben Sie noch Zeitzeugen gefunden?
Nein, leider gar nicht. Auch der Journalist ist längst verstorben.

Musik und Geräusche, sowie der klare Akzent des Sprechers für die Figur des Capitano Francesco Giuntini tragen viel dazu bei, diesen Audiobeitrag sehr visuell zu gestalten. Sie sind doch auch Filmemacher, wie sind Sie da vorgegangen, bei der Materialverarbeitung für die Radiosendung?
Es ist nicht mein erstes Hördokument. Für mich ist wichtig, dass alle akustischen Elemente absolut authentisch sind. Dazu habe ich viele alte Sendungen im Radio-Archiv abgehört. Wie waren die Schiffssirenen damals auf dem Rhein? Die Alarme müssen historisch richtig sein, auch der langgezogene Endalarm. Das Geräusch der Bombardierung oder die damaligen Nachrichten als emotionale Elemente gehören dazu. Wenn alle diese Elemente stimmen, kann man sich erlauben, mit den handelnden Personen auch freier umzugehen - sie bleiben dadurch dennoch in ihrer Zeit wahrhaftig. Es war mir schnell klar, dass der Kapitän eine italienische Sprachfärbung braucht - er hat wohl passabel Deutsch gesprochen - aber er war ja Italiener - eigentlich sogar Sizilianer.

Meines Erachtens ist gerade das, was die Geschichte rund um Capitano Giuntini lebendig macht, denn nur gelesen, wie z.B. in dem Aufsatz, der sich hierzu im Netz befindet, ist sie just eine von vielen…. Können Sie die Namen des Schauspielers nennen, der Giuntini spricht?
Er wird von Omar Gargantini gesprochen. Er ist Sportjournalist bei der Televisione Svizzera Italiana. Wir fanden, dass seine Stimme gut zu Giuntini passen würde.

Am Ende der Sendung Letzter Anker… wird das Staatsarchiv erwähnt, sind da die historischen Dokumente aufbewahrt?
Ja, das Staatsarchiv bewahrt alle Dossiers der Basler Fremdenpolizei auf. Wir wissen nicht genau, wieviele es sind, da nur ein Bruchteil erschlossen ist. Die Archivare vermuten etwa 350.000 (!) - wir wissen hingegen, dass diese Sammlung 954 Laufmeter Akten umfasst.

Existiert die Fremdenpolizei auch heute noch und womit beschäftigt sie sich?
Die Fremdenpolizei gibt es unter dieser Bezeichnung nicht mehr. Die Nachfolgestruktur heißt heute “Amt für Migration”, wobei die Verfahren stark genormt und formalisiert sind. Würde heute so einer wie Giuntini ankommen, der Vorgang wäre nur noch digital dokumentiert und es würde sich daraus kaum ein Rückschluss auf die handelnden Personen ergeben.

Gibt es das Hafenbecken II noch in Basel?
Ja, das gibt es noch - mittlerweile ist rund herum ein fröhliches Biotop mit viel freier Kultur und Gastronomie entstanden.  Die Rheinschifffahrt hat nicht mehr viel Bedeutung, aber der Fluss ist die “blaue Ader” der Stadt geblieben.

Können Sie uns noch kurz von Ihrer Arbeit als Filmemacher erzählen?
Ich habe an der Filmhochschule München Dokumentarfilm gelernt. Das war 1974 bis 1978. Danach habe ich eine kleine Filmproduktion gegründet und etwa 10 Jahre lang Dokumentationen produziert. Viele davon auch in Italien, vor allem im Mezzogiorno, in Apulien und in der Basilicata. Interessiert hat mich immer die Transformation einer Gesellschaft, die aus alten agrarischenen Strukturen in einem rasanten Wandel proletarisiert und urbanisiert worden ist. Das habe ich in Taranto, aber auch in Matera realisiert. Später bin ich als Reporter und dann als Programmverantwortlicher bei der ARD tätig gewesen. Zuletzt als Fernsehdirektor in Berlin. Nach meiner frühzeitigen Pensionierung habe ich meine Film- und Autorenarbeit wieder fortgesetzt. Jetzt rückte das Thema Migration in den Mittelpunkt. Ich habe wieder Filme gemacht. So zum Beispiel Wir waren die Tschinggeli, die vergessene Geschichte der jungen italienischen Frauen, die 1945/1946 in die Schweiz gekommen sind, um ihre Familien zu ernähren. Es war aber auch eine Zeit der Befreiung für die jungen Frauen, die aus sehr beengten und autoritären Strukturen in die Fremde gegangen waren. 2017 habe ich in Basel ein großes Ausstellungsprojekt zur regionalen Migrationsgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts realisiert.