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Eltern am Limit

Eltern- und Familienvertreter stemmen sich gegen einen erneuten Bildungs-Lockdown: “Wir können politische Planungsversäumnisse nicht mehr kompensieren.”
Schülerin
Foto: Pixabay

Schließen Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen wieder komplett? Die Entscheidung fällt im Laufe des Vormittags während der Sitzung der Landesregierung. Gesundheitslandesrat Thomas Widmann, aber auch Zivilschutzlandesrat Arnold Schuler sind dafür, ab Mittwoch (11. November) – zwei Tage nach der Wiederaufnahme des Unterrichts nach den Allerheiligenferien – auf Fernunterricht für alle Schulstufen umzustellen. Das sei nötig, um die Infektionszahlen weiter zu senken und einen Kollaps des Gesundheitssystems zu verhindern, argumentiert Widmann. Aktuell gilt Fernunterricht ab der 2. Klasse Mittelschule. Die drei Bildungslandesräte und auch Soziallandesrätin Waltraud Deeg sind gegen eine erneute Schließung.

Doch nicht nur sie. Elternvertreter schlagen Alarm.

 

Lösungen für Lockdown

 

Zum einen gebe es noch keine Informationen zu einem eventuellen Betreuungs-Notdienst und keine Lösungsansätze für arbeitsätige Eltern, zeigt die Elterninitiative Südtirol auf. Zum anderen “leisten viele Familien seit dem Frühjahr fast Übermenschliches, jetzt sind wir am Limit, auch unsere Gesundheit ist in Gefahr”, gibt die Vorsitzende Sigrid Mairhofer zu bedenken. Sie kritisiert: “Eltern können politische Planungsversäumnisse nicht mehr kompensieren. Einfach zu Hause zu bleiben ist vielfach nicht möglich, denn es gibt kein Recht auf Freistellung von der Arbeit (nur wenn das Kind in offizieller Quarantäne ist), vor allem keine bezahlte, und dies weder für Angestellte und noch weniger für Freiberufler und Selbstständige! Und wer bitte arbeitet dann in Medizin und Pflege, im Sozialen, in der Lehre, im Lebensmittelgewerbe, wer in der Reinigung  der Räumlichkeiten usw., wenn alle Eltern zu Hause bleiben?”

Gemeinsam mit der Allianz für Familie fordert die Elterninitiative von der Politik:

  • eine Vorlaufzeit von einigen Tagen zu einer eventuellen Schließung (“Sollte diese beschlossen  werden, dann muss sie nachvollziehbar begründet werden und darf erst in der  darauffolgenden Woche beginnen.”)
  • die Organisation eines Notbetreuungsdienstes, “der jedoch nicht aufgrund realitätsfremder Kriterien einen Großteil der erwerbstätigen Familien ausschließt”
  • die Gewährleistung einer Notbetreuung bei sozialem Unterstützungsbedarf oder für Kinder mit Beeinträchtigung
  • eine unbürokratische Möglichkeit für alle erwerbstätigen Eltern, sich von der Arbeit freistellen zu lassen, um Betreuung und Bildung der Kinder selbst übernehmen zu können, die angemessen vergütet wird

Außerdem pochen die beiden Verbände darauf, eine interdisziplinäre Task Force “Familie” einzurichten, wie sie bereits seit März gefordert wird: “Ein rein medizinischer Blick auf die aktuelle Lage kann keine Option mehr sein. Familien brauchen dringend Unterstützung, lasst uns nicht wieder allein, wir können nicht mehr!”

 

“Eltern können Schule nicht ersetzen”

 

Die Forderung nach einem interdisziplinären Krisenstab kommt auch vom Landesbeirat der Eltern der deutschen Schulen. Deren Vorsitzende Heidrun Goller hat am Montag einen Brief an Landeshauptmann Arno Kompatscher, Schullandesrat Philipp Achammer und Gesundheitslandesrat Widmann verschickt. Darin heißt es unter anderem:

“(...) Wir wissen, dass glücklicherweise die Zahlen und Statistiken deutlich gemacht haben, dass die in den Schulen umgesetzten Sicherheitsmaßnahmen sehr gut gegriffen haben. Somit hat es in den deutschen Schulen keinen einzigen Fall eines Schulclusters gegeben. In den Kindergärten und Schulen der Unterstufe liegen die Ansteckungszahlen  sogar signifikant unter jenen im öffentlichen Bereich. 
Wir wissen und verstehen, dass die Situation im Sanitäts-Department sehr angespannt ist und die operativen Hinweise des Sanitätsbereiches aufgrund der aktuellen Entwicklungen und Veränderungen rund um Quarantäne und Testungen ausgelaugt sind und überarbeitet werden müssen
Darum verstehen wir Ihre Sorge um das Gemeinwohl und möchten ergänzend unsere Sorge, nämlich das Gemeinwohl der Kinder und Schüler ins Licht rücken.
Es ist aus entwicklungspsychologisch-relevanter Sicht zu beachten, dass vor allem für die Schüler der Unterstufe der Präsenzunterricht wichtig ist. Ein Fernunterricht in dieser Altersstufe ist auch aus methodisch-didaktischer Sicht nicht  sinnvoll und zielführend. Gerade in dieser Entwicklungsstufe läuft Bildung über die Beziehungsebene. Wir Eltern sind natürlicherweise mit unseren Kindern auf einer anderen Beziehungsebene verbunden und können die wertvolle Arbeit der Schulpädagogen nicht ersetzen. Bildung ist für unsere Kinder ein Grundrecht, somit verfassungsrechtlich verankert  und darf nicht schon wieder von der sozialen Herkunft der Eltern abhängen.
Darum bitten wir Sie eindringlich, die Bildungseinrichtungen der unteren Schulstufen mit Präsenzunterricht aufrecht zu erhalten. Sollten Sie sich dennoch für eine KURZE Schulschließung entscheiden, dann bitten wir Sie diese mit wissenschaftlichen Daten zu begründen. Eine Vorlaufzeit von 3-5 Arbeitstagen wäre insofern empfehlenswert, damit wir Eltern Zeit haben, uns organisatorisch und arbeitstechnisch auf die neue Situation einzustellen. (...)”

 

Nein zur Schließung, ja zur Maske

 

Auch der Katholische Familienverband Südtirol spricht sich “ganz entschieden gegen die Schließung von Kindergärten und Schulen” aus, “weil die Belastung für alle Betroffenen enorm ist. Das haben die Kinder im vergangenen Frühjahr schon einmal alles durchgemacht und es ging dabei fallweise wirklich an die Grenzen und hat Spuren hinterlassen”, sagt KFS-Präsidentin Angelika Weichsel-Mitterrutzner.

Keinesfalls aber spreche man sich gegen die Maskenpflicht aus. “Wir sind der Meinung, die Kindergärten und Grundschulen bis zur 1. Mittelschule sollen unter Einhaltung der Maskenpflicht geöffnet bleiben. Dies ist fundamental für die sozialen Kontakte der Kinder, die ansonsten seelisch verarmen. Dabei denke ich vor allem an Kinder aus instabilen, problematischen Familienverhältnissen und an jene mit Beeinträchtigung. Besonders für diese Zielgruppe muss unbedingt ein Alternativmodell entwickelt und angeboten werden”, ist Weichsel-Mitterrutzner überzeugt.

Landesrat Widmann dürfte von seinem Vorschlag für einen neuerlichen Bildungs-Lockdown nicht abrücken. Der Corriere dell’Alto Adige zitiert ihn in der Dienstags-Ausgabe mit folgenden Worten: “Den Eltern sage ich: Die Situation ist schlimmer als während der ersten Welle im Frühjahr. Ich verstehe die Schwierigkeiten, aber was wäre die Alternative? Sollte mein Vorschlag nicht durchgehen, übernehme ich keine Verantwortung mehr.” 

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Peter Liensberger Di., 10.11.2020 - 10:54

Sehr geehrter Herr Landesrat! Ja, es "brennt" wieder. Deshalb erlauben Sie mir die Frage: "Welche Verantwortung übernehmen Sie dann nicht mehr? Was haben Sie in den letzten Monaten präventiv unternommen, dass es nicht wieder soweit kommt?" Treten Sie doch zurück - und viele andere mit Ihnen - und überlassen die Verantwortung anderen Menschen, welche ihr besser gerecht werden.

Di., 10.11.2020 - 10:54 Permalink