Entwicklungshilfe ist kein schönes Wort

Es wäre eine Qual, jetzt nicht in einem klimatisierten Auto zu sitzen. Draußen schuften Frauen in bunten Saris in der prallen Sonne. Es hat über 40 Grad Celsius. Die Luftfeuchtigkeit ist hoch. In Indien werden Straßen auch im 21. Jahrhundert noch mit bloßen Händen gebaut – Wirtschaftsboom hin oder her. In großen Fässern wird Teer angerührt. Es soll ein neuer mehrspuriger Highway zwischen der Hauptstadt Delhi und der Sehenswürdigkeit Nummer eins, dem Taj Mahal in Agra, entstehen. Die von Hand gehauenen Steine zur Befestigung der Böschung werden von den Frauen in geflochtenen Körben auf dem Kopf zu ihrem Bestimmungsort transportiert. Trotz der Knochenarbeit wahren sie eine gewisse Eleganz. Ebenso elegant weicht unser Fahrer den tausenden und abertausenden Schlaglöchern aus, die derzeit noch die Straße zieren. Es ist Sommer 2006. Freie Fahrt wird es erst in ein paar Jahren geben. Noch brauchen wir für die rund 250 Kilometer nicht weniger als neun Stunden.
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„Es gibt zwei Kategorien von Menschen: Jene, die das Taj Mahal gesehen haben, und solche, die es nicht gesehen haben“, soll Mark Twain einmal in seiner typisch süffisanten Art bemerkt haben. Und tatsächlich war es jeden einzelnen der 13 Euros wert, die wir für die Besichtigung bezahlt hatten. 13 Euro sind viel in einem Land, in dem Millionen von Menschen von weniger als einem Euro pro Tag leben müssen. (Einheimische zahlen übrigens nur 35 Cent).
Dennoch war ich nach dem Pflichttermin für jeden Indienreisenden froh, als wir wieder im wohltemperierten Mietauto saßen. Zuvor hatte ich uns noch ein paar frische Musambis (süße Limetten) besorgt, die bestimmt maßlos überteuert waren, welche wir aber nun genüsslich verspeisten, als es an unserem Autofenster klopft. Zwei Kinder, schmutzig vom Staub der Straße, fixieren uns mit ihrem Blick, der nach Mitleid schreit. Sie betteln um Geld und deuten auf ihren Mund. Da war er wieder, dieser Moment, der einen so wütend macht, der einen aber auch verzweifeln lässt und zutiefst frustriert. Ich mache mit der Hand eine ablehnende Geste durch die geschlossene Scheibe, bemühe mich, möglichst neutral zu schauen und ignoriere die armen Kinder, bis sich unser Auto wieder in Bewegung setzt. Unser Fahrer nickt mir bestätigend zu. Für die kommenden paar Stunden fühle ich mich wieder einmal hundeelend.
Hatte ich mein Herz tatsächlich mit Erhalt des Indien-Visums am Flughafen abgegeben oder tat ich doch das Richtige? Vor eine Situation wie der oben beschriebenen gestellt, hat man zwei Möglichkeiten: Man kurbelt das Fenster runter und gibt den Kindern einen Euro. Das tut mir nicht weh, entspricht unserem christlichen Gebot, dem Nächsten in Not zu helfen, und die zwei armen Kinder freuen sich, behalten mich als sympathischen reichen Mann in Erinnerung, schenken wahrscheinlich sogar ein Lächeln. Oder man signalisiert eiskalt, dass man nichts geben wird und fährt fort das zu tun, was man eben gerade tut. Dabei riskiert man, vor den Bettelnden als arroganter weißer Geizhals dazustehen, denn die Kinder wissen genau, dass ich gerade 13 Euro Eintritt bezahlt habe, um so ein pompöses Grabmal aus Marmor zu sehen. Trotzdem scheint ihr Hunger dem Mann hinter der klimatisierten Scheibe keinen Euro wert. Blanker Hohn. Warum habe ich mich also für letztere Variante entschieden? Die Antwort ist sehr einfach und doch komplex zugleich. Ähnlich komplex wie die Situationen, die entstehen, wenn Kulturen aufeinandertreffen, wenn Wohlhabende und Arme sich begegnen.
Ein Fahrradrikschafahrer in Agra hat einen der härtesten Jobs der Welt. Vielleicht ist sogar der Vater der beiden bettelnden Kinder, die an mein Autofenster klopften, so ein Pedalritter, der sich für 50 Cent die Stunde abstrampelt und Fußlahme durch den mörderischen indischen Verkehr von A nach B bringt. Mit Glück ergattert der Rikschafahrer vier solcher Fuhren am Tag; macht am Ende zwei Euro. Die bettelnden mitleiderregenden Kinder schaffen an einem guten Platz in der Stadt diese zwei Euro in nur wenigen Minuten, wenn die tausenden Touristen aus Übersee, die das Taj Mahal besuchen, wieder einmal in Geberlaune sind.
Logische Schlussfolgerungen: Warum sollte der Vater Einheimische für nur 50 Cent die Stunde transportieren, wenn Touristen auch leicht das Zehnfache zahlen können? Warum sollte er sich überhaupt den ganzen Tag auf der Rikscha mühen und plagen, wenn seine Kinder durch Betteln ein Vielfaches an Ertrag einbringen? Wozu soll er die Kleinen für teures Geld in die Schule schicken, wenn sie doch für sich selbst, ja sogar für den Unterhalt der ganzen Familie, aufkommen können?
Fazit: Wenn Touristen in wirtschaftlich armen Ländern Almosen geben oder beim Erwerb von Produkten und Dienstleistungen nicht handeln und feilschen – ja vielleicht sogar aus gut gemeinter Großherzigkeit die vermeintlichen Bagatellbeträge großzügig aufrunden – bringt dies das Preis- und Sozialgefüge der besuchten Region durcheinander und schadet so nachhaltig der Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft. Diese Einschätzung wurde mir auch von unserem einheimischen Fahrer, der seit Jahren Touristen durch Indien kutschiert, bestätigt. Die beiläufig an Bettler verteilten Dollars und Euros sowie die im guten Glauben bezahlten überhöhten Preise sind mittlerweile ein riesiges Problem – vom Phänomen der „Bettlermeister“, die die Kinder den mittellosen Eltern „abkaufen“ und sie dann bisweilen sogar verstümmeln oder blenden, um höhere Bettelerträge zu erzielen, ganz zu schweigen.
Wenn dann die Kinder in ein paar Jahren – vorausgesetzt sie überleben den harten Alltag auf der Straße – nicht mehr so lieb, hilfsbedürftig oder mitleidserregend aussehen, stehen sie mehr denn je vor den Scherben ihrer Existenz. Sie haben nie etwas gelernt. Alles, was sie kennen, ist ein Leben als Bettler.
Das Fenster zu öffnen und diese meine Motivation den bettelnden Kindern zu erklären, wäre aber wahrscheinlich nicht bloß an der Sprachbarriere gescheitert: „Ich weiß, ihr leidet Not. Aber ich kann euch nichts geben, obwohl ich es mir locker leisten könnte. Es würde euch und eurem Land nämlich langfristig schlecht bekommen, obwohl mein Euro euch für heute kurzfristig große Freude bereiten würde“. Lediglich die unendliche Schicksalsergebenheit, wie sie den Asiaten im Allgemeinen und den Hindus im Speziellen anheim ist, hindert sie wohl, angesichts von so viel Ungerechtigkeit, gewalttätig zu werden. Und so brause ich davon; nur der grausige Geschmack unsäglicher europäischer Arroganz bleibt bei den Kindern zurück. Wenn es ein perfektes Dilemma gibt, dann ist es wohl dieses.
In ganz anderer Dimension als ich mich in dieser kleinen Episode sehen sich Mission und Entwicklungshilfe ständig mit diesem schier ausweglosen Teufelskreis konfrontiert. So paradox das klingen mag: Wie der Reisende, der dringend benötigte Devisen ins Land bringt, ist auch der Missionar, der Hoffnung schenkt, ja sogar der „Entwicklungshelfer“, der Leben rettet, stets Teil des Problems. Gleichzeitig können sie alle aber auch Teil der Lösung sein – vorausgesetzt, sie erkennen die Folgewirkungen ihres Tuns und handeln dementsprechend.
Der verbrecherische Imperialismus und die nicht weniger fatale Kolonialisierung der Welt durch die Europäer hat vor rund 130 Jahren Prozesse in Gang gesetzt, deren Auswirkungen wir noch heute spüren. Über Jahrtausende gewachsene Strukturen und Lebensweisen, die den Gesellschaften in Asien, Afrika, Australien und Amerika das Überleben sicherten, respektive das Zusammenleben regelten, wurden mit einem Schlag zerstört, nachdem sie zuvor für minderwertig erklärt worden waren. Manchmal, aus einem gut gemeinten Überlegenheitsgefühl heraus, oft aber auch aus reiner Habgier, glaubten die Europäer die „Wilden“ zivilisieren und beherrschen zu müssen. Obwohl die meisten der Kolonien im 20. Jahrhundert in die Unabhängigkeit entlassen wurden, bestehen aufgrund des zu einem gewissen Teil erbeuteten wirtschaftlichen Vorsprungs Europas immer noch lähmende Abhängigkeiten und die willkürlich mit dem Lineal gezogenen Grenzen sind nach wie vor prädestinierte Konfliktherde. Daran konnten auch viele Milliarden an Spendengeldern, die über die Jahrzehnte in die Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas flossen, nicht viel ändern. Die Wunden brechen immer wieder auf.
Der streitbare ehemalige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler, hat einmal gesagt: „Es kommt nicht darauf an, den Menschen der Dritten Welt mehr zu geben, sondern ihnen weniger zu stehlen“. Solange westliche Fischfangflotten mit Schleppnetzen die Weltmeere leer fischen und dem westafrikanischen Fischer daher nichts anderes übrig bleibt, als sein Boot an einen Schlepper zu verkaufen und sich gleich selbst hineinzusetzen, solange in den agrarisch dominierten Ländern des Südens hochsubventionierte spanische Tomaten und halbverdorbene holländische Tiefkühlhühner billiger sind als die wahrlich nicht hochpreisige Ware der einheimischen Produzenten, solange westliche Großkonzerne im Verein mit lokalen Despoten Rohstoffe und Bodenschätze rauben sowie Umwelt und Lebensraum der Menschen zerstören, so lange werden unsere Spenden immer nur ein beinahe zynischer Tropfen auf dem heißen Stein bleiben.
Sollten die reichen Länder des Nordens tatsächlich langfristig an einer Verbesserung der Notsituationen auf der südlichen Hemisphäre interessiert sein, so ist einmal mehr ein Paradigmenwechsel vonnöten. Freilich sind Spenden und konkrete Unterstützung in Krisenregionen (über)lebensnotwendig. Ziel muss es jedoch sein, die Ursache der Krise zu finden und nicht nur Symptome zu lindern. Auf lange Sicht müssen wir daher auch über Entwicklungshilfe im Sinne Laotses („Gib einem Hungernden einen Fisch, und er wird einmal satt, lehre ihn Fischen, und er wird nie wieder hungern“) hinausdenken. Diese „Entwicklungshilfe“ impliziert nämlich eine Hierarchie von Gebern und Hilfsbedürftigen. Ein derartiges Verhältnis ist auf Dauer kontraproduktiv und demotivierend. Es geht vielmehr darum, sich tatsächlich auf Augenhöhe zu begegnen und den Menschen einfach nur das zu geben, was ihnen zusteht, was sie verdienen:  Entwicklungszusammenarbeit – am besten ohne „Entwicklung“ und mit Betonung auf „Zusammenarbeit“. Dazu müssen wir uns aber von so mancher Gewohnheit verabschieden und unser Konsumverhalten grundlegend hinterfragen.  
Wir finden es nämlich offenbar nicht einmal mehr merkwürdig, dass der Apfel aus dem Vinschgau mehr kostet als die Banane aus Costa Rica. Wir haben uns daran gewöhnt, dass ein exotisches Getränk wie Kaffee billig sein muss, und rebellieren, wenn er mehr als einen Euro kostet (Zum Vergleich: Der durchschnittliche Lohn eines Kaffeepflückers in Kenia, Äthiopien oder Guatemala beträgt für einen 12-Stunden-Arbeitstag ungefähr einen Euro). Beispiele wie diese gibt es zuhauf – vom absurd billigen Urlaub in Ferndestinationen über die mit wertvollen aus Entwicklungsländern stammenden Rohstoffen vollgestopften Computer zu Spottpreisen bis hin zum 2-Euro-T-Shirt aus Bangladesch.
Zugegeben, es ist ein schwieriger Spagat, der einiges an Anstrengung, Disziplin und Flexibilität erfordert. Aber erinnern wir uns am besten einfach des siebten Gebots.