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Milchmädchenrechnung

Anmerkungen zu Mathematik und Kino - Ein "Kulturelemente"-Gastbeitrag von Christoph Huber.
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Foto: Wikipedia

Die Mathematik hinter den Hollywood-Blockbustern ist endlich gelöst! So triumphierte im Jahr 2010 eine Schlagzeile, als James Cutting – Psychologieprofessor an der Universität Cornell – und Kollegen eine Studie publizierten. Was hält die Zuseher bei der Stange, selbst wenn sie die Handlung des Films nur mäßig mitreißend finden? Die Antwort fanden die Wissenschaftler im Konzept des „Rosa Rauschens“, das in vielen physikalischen und anderen Prozessen beobachtet wird: Die Stärke des Signals ist umgekehrt proportional zu seiner Frequenz („1/f-Rauschen“). Die Studie belegte anhand von 150 Filmbeispielen aus den Jahren 1935 bis 2005, dass sich die Schnittfrequenz im Kino immer mehr dieser Formel angeglichen hatte.

Was hält die Zuseher bei der Stange, selbst wenn sie die Handlung des Films nur mäßig mitreißend finden? 

Cutting wies jedoch selbst auf zwei Schönheitsfehler seiner Entdeckung hin: Zwar habe er mit seinem Team die generelle Entwicklung nachweisen können, aber Beispiele für „nahezu perfekten 1/f-Rhythmus“ gab es immer schon – etwa bereits 1935 Alfred Hitchcocks Thriller The 39 Steps. Zudem war der eigentliche Ansatz nicht zu belegen: Dass den Zusehern die Filme tatsächlich besser gefallen würden, bloß weil sich ihre Geschwindigkeit mit einer wissenschaftlichen Konstante deckte.

Aussagekräftig ist das Beispiel dennoch: Der technische Fortschritt – nicht zuletzt rasante Rechenleistungszunahme im Computer-Zeitalter – hat solche statistischen Untersuchungen beschleunigt, so wie er das Kino selbst radikal verändert hat. Quantität regiert über Qualität: Mathematische Logarithmen und technologische Zauberei liefern Handlungs-Hintergrund wie Basis heutiger Blockbuster: Computereffekte dominieren das Bild, selbst wo erstaunlicher Realismus produziert wird. Man denke an Sandra Bullocks Weltraum-Odyssee vom Hubble-Teleskop zur Internationalen Raumstation im Oscar-Preisträger Gravity (2012), physikalisch überzeugend dank superber (3-D-)Tricks, selbst für echte Astronauten. Etwa Michael J. Massimo, der am Hubble-Teleskop Wartungsarbeiten durchgeführt hatte: Im Interview mit der New York Times meinte er aber auch, leider sei die Ausgangsbasis des Films völlig unglaubwürdig: dass Bullock mit ihrem Jet-Pack die Distanz bewältige, sei „als würde ein in der Karibik über Bord geworfener Pirat bis London schwimmen.“

Gravity Trailer / Quelle Youtube

„Es ist kein Dokumentarfilm, sondern ein Stück Fiktion“; verteidigte sich Gravity-Regisseur Alfonso Cuarón. Dass (Spiel-)Filme wahrheitsgetreu sein müssten, ist eben eine Milchmädchenrechnung, die nicht aufgeht. Bester Beleg sind die biografischen und historischen Verzerrungen vieler rezenter Erfolgsfilme über Mathematiker (wenn auch nicht notwendigerweise über Mathematik) wie The Imitation Game (2014) über Alan Turing oder A Beautiful Mind (2001) über Nobelpreisträger John Forbes Nash. Dessen Spieltheorie-Erkenntnisse bleiben Beiwerk zum Drama, das der deutsche Untertitel auf den Punkt bringt – Genie und Wahnsinn.

Natürlich: Gerade in Hollywood-Filmbiografien war der menschliche Aspekt stets wichtiger als theoretische Neugier. Vielleicht auch, weil sich Mathematik eher als Strukturprinzip für Film denn als darstellbares Subjekt eignet: Schon in Hitchcocks 39 Steps ging es um eine mathematische Formel – aber bloß als „MacGuffin“, wie der Regisseur seine für die Geschichte irrelevanten Suspense-Aufhänger nannte. Später inszenierte er in Torn Curtain (1966) ein Wissenschaftler-Duell um mathematische Formeln an einer Tafel: Packend daran ist aber eine andere Erkenntnis – wie Paul Newmans Physiker den Kollegen austrickst.

Trotzdem ist Hitchcock nicht der einzige Regisseur, der Spannung „mathematisch“ erzeugte. Filmwissenschaftler David Bordwell hat etwa in The Birds (1963) exakt berechnete Schnittmuster gefunden: Eine brennende Tankstelle wird erst 20 Filmkader lang gezeigt, dann 18, 16 usw. bis zum drittelsekundenlangen 8-Kader-Flash. Ähnliche Ansätze verfolgte die Avantgarde: Revolutionär etwa die exakt auf Kaderlänge komponierten „metrischen Filme“ der Österreicher Kurt Kren und Peter Kubelka in den Sechzigerjahren, parallel zu den Versuchen von Schriftsteller William S. Burroughs, seine Cut-Up-Technik ins Kino zu übertragen. Solche strukturalistischen Ideen kulminierten in Arbeiten wie Zorn‘s Lemma (1970) von Hollis Frampton, der aus dem gleichnamigen Mengenlehren-Theorem eine eigene Filmsprache entwickelt.

Diese Ansätze waren freilich wenig breitenwirksam: Eher wirkte die Mathematik in Science-Fiction-Filmen als wissenschaftliche Sprache eines Fortschrittsgedankens, gefeiert in utopischen Entwürfen, die in die Welt zurückstrahlten. Fritz Lang engagierte Raketenforschungspionier Hermann Oberth als Berater für Frau im Mond (1928) und erfand den Countdown: Weil zum Raketenstart rückwärts gezählt wurde statt vorwärts, verstand das Publikum, „wann es losgeht“ – bei den wirklichen Mondflügen machte man es Jahrzehnte später genauso. Da war das Kino-Verhältnis zur Mathematik aber schon wesentlich pessimistischer geworden: Der logische „Amoklauf“ von Supercomputer HAL in Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey (1968) ist das bekannteste Beispiel.

Das positive Interesse an der Wissenschaft demonstrierten eher ungewöhnliche Lehrfilme: Walt Disney schickte in Donald in Mathmagic Land (1959) seine berühmte Ente trotz anfänglicher Skepsis gegen „eggheads“ auf animierte Entdeckungsreise zu den Schönheiten der Mathematik, und das Meisterwerk Powers of Ten (1977) von Charles und Ray Eames erklärte Größenordnungen anhand eines Zehnerpotenzen-Zooms, der alle zehn Sekunden um den Größenfaktor zehn zunimmt – in neun Minuten von der Aufnahme einer Familie auf einer Picknickwiese (Größenfaktor: 10¹) hinaus an den Rand des Universums (Größenfaktor: 1024) und retour bis ins mikrokosmische Innere des Körpers (Größenfaktor: 10-16), der Kontext via Erzählstimme erklärt. Das vor allem als Designer berühmte Ehepaar Eames wollte einen Film machen, der „10-jährige wie Nuklearphysiker anspricht“, überhaupt verdanken ihre Kurzfilme zur Erklärung mathematischer Konzepte (etwa Symmetry oder Topology, beide 1961) die universale Durchschlagskraft dem „unfilmischen“ Ansatz: „Es sind keine Experimentalfilme, es sind eigentlich gar keine Filme. Es sind nur Versuche, eine Idee verständlich zu machen.“

Diese Formulierung trifft auch auf die Low-Budget-Filme zu, die um die Jahrtausendwende Mathematik zur Erforschung neuer, doch unheimlicher Welten in eigener Bildsprache nutzten. Der argentinische Film Moebius (1996) ließ eine U-Bahn nach topologischem Möbiusband-Prinzip verschwinden – M.C. Escher-Phantastik als Politparabel; in Darren Aronofskys Pi (1998) verfällt ein Mathematik-Genie über kabbalistische Zahlenspekulationen in paranoiden Wahn; Primzahlen-Gebilde werden zu ausgefeilten Horrorfilm-Fallen (Cube, 1996) oder Zeitreise-Rätseln (Primer, 2004 – Regisseur Shane Carruth, ausgebildeter Mathematiker, meinte übrigens, Drehbuchschreiben sei für ihn wie Rechnen.)

Diese von millenialer Dystopie gespeiste mathematische Welle scheint aber im geglätteten Gegenwartskino verpufft, obwohl dessen Grundlagen ironischerweise immaterielle Mathematik ist: Digitale Einen und Nullen haben das analoge Filmmaterial abgelöst und übermalen, gerade in den grassierenden Fantasy-Großproduktionen, zunehmend alle menschlichen Faktoren: Noch die kleinste Gesichtsfalte wird ausgiebig im Computer nachbearbeitet. Vielleicht erklärt der Verlust an Humanität und Wirklichkeit die Unfähigkeit des Kinos, mit Mathematik jenseits von Milchmädchenrechnungen umzugehen: Entweder dem Geniekult untergeordnet, als könnte so die Oberhoheit des Menschen gerettet werden – oder protziger Leerlauf, Demonstration eines technischen Fortschritts, dessen Funktionieren eigentlich gar nicht mehr zu begreifen ist (außer eben für Genies). Auf den Punkt gebracht hat den Verdrängungsprozess ausgerechnet ein faktenbasierter Hollywood-Sportfilm: Bennett Millers Moneyball (2011) handelt vom Sieg abstrakter Statistik über altbewährten menschlichen Instinkt.

 

 

SALTO in Kooperation mit:
Kulturelemente, Zeitschrift für aktuelle Fragen.