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„Kindheit in Armut“

Die Politologin Margherita Zander ist in sehr armen Verhältnissen im Südtirol der 1950er aufgewachsen. Heute ist das Thema Kinderarmut einer ihrer Forschnungsschwerpunkte
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Foto: Foto: Privat

Salto.bz: Sie sind in Lana geboren, ihre leibliche Mutter ist schon bald nach der Geburt an einer offenen Tuberkulose erkrankt und hat danach ihr Leben nur noch in Kliniken und Sanatorien verbracht. Ihr Vater, schwer verwundet aus dem Krieg zurückgekehrt, sah sich nicht in der Lage, sie und ihre Schwester zu versorgen. Wie hat Sie diese Kindheitsgeschichte geprägt?
Margherita Zander:
Als Pflegekind aufzuwachsen bedeutet, sich immer – mal mehr, mal weniger – bewusst zu sein, dass man nur „aufgenommen“ wurde und nicht wirklich zur Familie gehört. Das verlangt nach ständiger Dankbarkeit und entsprechend angepasstem Verhalten. Das ist so, auch wenn man – wie in meinem Fall – auf eine sehr liebevolle und zugewandte Pflegemutter trifft. Mein Vater ließ sich bald schon, nachdem er mich bei der Pflegemutter abgegeben hatte, nicht mehr blicken und kam seiner finanziellen Verpflichtung nicht nach. Die Pflegemutter hat mich aber trotzdem – auch ohne Entgelt – bei sich behalten. Sie hat mich auch dann nicht in ein Heim gegeben, als sich ihr eine solche Möglichkeit mit der Gründung des SOS-Kinderdorfs in Brixen bot, wo meine leibliche Schwester untergebracht wurde.

Schon im Kindergarten spürte ich, dass ich aufgrund meiner Herkunft anders behandelt wurde, z.B. bei „Fehlverhalten“ entschiedener und härter bestraft wurde. 

Die Tatsache, als Pflegekind groß geworden zu sein, hinterlässt unweigerlich Spuren, die sich nur schwer verwischen lassen. Geblieben ist eine ständige Unsicherheit hinsichtlich der Zugehörigkeit. Das gilt für Freundschaftsbeziehungen ebenso wie z.B. für den beruflichen Kontext. So war es für mich etwa nie selbstverständlich, dass ich zur akademischen Schicht und zur Professorenschaft zählte. Da war immer eine gewisse, wenn auch so weit wie möglich, versteckte Unsicherheit in meinem Auftreten. 

Sie sind in Lana und Meran zur Schule gegangen. Als Pflegekind waren Sie Außenseiterin. Wie haben sie das die Südtiroler Mitschülerinnen und Mitschüler spüren lassen?
Schon im Kindergarten spürte ich, dass ich aufgrund meiner Herkunft anders behandelt wurde, z.B. bei „Fehlverhalten“ entschiedener und härter bestraft wurde. Bereits dort mokierten sich manche Kinder über meine abgetragene Kleidung. In der Grundschule fühlte ich mich dann häufiger zurückgesetzt, vor allem durch das Lehrpersonal, mehrheitlich durch Nonnen. Ich wurde seltener gelobt und ausgezeichnet, auch wenn meine Leistungen diejenigen der anderen Kinder übertroffen haben und wurde auch – ich erinnere mich noch zu gut daran – bei der Notengebung benachteiligt.  Mit zunehmendem Alter wurde mir bewusst, dass dies mit meiner Herkunft zu tun hatte als von seinen Eltern weggegebenes Kind. Hinzu kam der soziale Status meiner Ziehmutter: Sie war „nur“ eine Witwe, die als Zugeh- und Putzfrau ihren kärglichen Lebensunterhalt bestreiten musste. Im Dorf und auch in der Schule zählte nur, wer Besitz hatte und etwas darstellte.
Das Verhalten der Lehrpersonen färbte auf die Mitschülerinnen ab. Ich wurde eher gemieden und hatte wenige Freundinnen. Nur eine beste Freundin, die trotz allem offen zu mir stand und zu der ich heute noch guten Kontakt habe.
Es gab viele demütigende Situationen, und an eine solche erinnere ich mich noch haargenau: Es war nach Weihnachten und ich trug stolz einen neuen Pullover, den ich vom Christkind erhalten hatte. Da kam eine Mitschülerin auf mich zu und deutete auf den Pullover: „Das ist doch mein alter Pullover, den meine Mama beim Vinzenz-Verein als Altwäsche abgegeben hat…“
Später, auf der Mittelschule in Meran, spielte die soziale Herkunft dann eine geringere Rolle. Dort zählte vor allem die Leistung. Ich hatte dennoch wenige Freundinnen, weil ich mich selbst eher zurückgezogen habe: Zum einen, weil ich in vielen Dingen nicht mithalten konnte, zum anderen weil ich mich stärker als andere auf das Lernen konzentrieren musste, um einen herausragenden Notendurchschnitt zu erhalten. Ein solcher war nämlich Voraussetzung für die jährliche Prämie des Landes zur Förderung von Schülerinnen und Schülern, worauf ich angewiesen war.

Sie haben Armut früh kennenlernen müssen. Wie sind Sie damit umgegangen? 
Die Familie meiner Pflegemutter war arm, auch wenn die gute Frau sich nach Kräften mühte, für das Nötigste zu sorgen. Sie hat ihre eigenen vier Kinder zunächst – als sie noch klein waren – durch die Annahme und Versorgung von Pflegekindern durchgebracht. Später – als ihre Kinder schon erwachsen waren – hat sie als Wasch- und Putzfrau ihren Lebensunterhalt bestritten und dabei auch mich mit durchgefüttert. Sie nahm mich überallhin mit, in die Privathaushalte und in die Büros, wo sie abends als Reinemachfrau tätig war. Ich wusste, dass ich mich dabei ruhig verhalten und unauffällig zu beschäftigen hatte – so als ob ich nicht anwesend wäre, um nicht zu stören. Später, als ich etwas größer war, erledigte ich dabei kleinere „Aufträge“, um ihr zu helfen.
Armut, d.h. sehr eingeschränkte Lebensverhältnisse, war das, was ich kannte, und ich versuchte mich darin einzufinden und nach der Decke zu strecken, so gut ich konnte. Allerdings litt ich schon unter den gesellschaftlichen Ausgrenzungsmechanismen im Dorf und vor allem in der Schule.

Was hat Sie stark gemacht?
Die bedingungslose Liebe meiner Pflegemutter, die immer zu mir gehalten und mich nach Kräften unterstützt hat, auch als ich sie damit konfrontierte, dass ich auf die Mittelschule und anschließend auf die LBA, die Lehrerbildungsanstalt, in Meran gehen wollte. Keines ihrer Kinder hat eine höhere Schule besucht, und auch im Dorf schüttelte man den Kopf: Was will die bloß? Worauf will sie hinaus? Geholfen hat mir auch mein ungebrochener Wille, mich durch eigene Leistung aus der Armut herauszuarbeiten, mein Durchhaltevermögen und meine innere Gewissheit, dass ich es schaffen würde. Später dann bin ich in der LBA auf einzelne Lehrerinnen getroffen, die mich gezielt gefördert haben. Eine positive Rolle spielte auch die Meraner Pastorsfrau, die erst kürzlich verstorbene Dr. Hildburg Brauer, die mich als Freundin ihrer Tochter in ihr Haus aufgenommen und darin bestärkt hat, meinen Weg zu gehen.

Nach dem Abschluss meines Studiums mit einer Doktorarbeit über die italienische Gewerkschaftsbewegung habe ich zunächst als Referentin für Sozialpolitik in der seit 1983 im Bundestag vertretenen Grünen Fraktion (1985 – 1990) gearbeitet.

Trotz allem haben Sie eine akademische Laufbahn eingeschlagen. Unüblich für eine Frau im Südtirol Ende der 1960er Jahre...
Ja, mein Ehrgeiz und mein tiefes Bedürfnis, aus mir etwas zu machen, haben mich nach der Matura, die mich als Volksschullehrerin entlassen hätte, darin bestärkt, nach „Höherem“ zu streben. Ein Studium an einer ausländischen Universität schien mir das richtige Ziel zu sein. Wieder war ich auf ein Stipendium angewiesen und den Nachweis entsprechender Studienerfolge.
Das war damals für eine Südtirolerin in der Tat eine ungewöhnliche Entscheidung. Im Kreis der Studenten aus Südtirol, auf den ich in Bonn bald schon stieß, war ich jedenfalls die einzige Frau. Aber das Außergewöhnliche daran war mir gar nicht so richtig bewusst, denn an der Uni – und vor allem im Germanistikstudium – traf ich durchaus auf andere Frauen. Im Laufe meines Studiums habe ich dann meinen Schwerpunkt verlagert und habe im Hauptfach Politik studiert. Da waren die Genderverhältnisse schon etwas anders. Frauen waren da noch stark unterrepräsentiert.

Meine weitere akademische Laufbahn habe ich dann – nach dem Magister und dem Doktorat – auf Umwegen eingeschlagen. Nach dem Abschluss meines Studiums mit einer Doktorarbeit über die italienische Gewerkschaftsbewegung habe ich zunächst als Referentin für Sozialpolitik in der seit 1983 im Bundestag vertretenen Grünen Fraktion (1985 – 1990) gearbeitet und danach als Referatsleiterin im hessischen Familienministerium in Wiesbaden – nota bene: die erste rotgrüne Koalition auf Landesebene. Die Arbeit dort fand ich dann weniger befriedigend als gedacht: Ich machte die Erfahrung, dass nur recht wenig von dem umgesetzt werden konnte, was man sich vorgenommen hatte. So habe ich mich eines Besseren besonnen und mich für die Lehre an einer Hochschule entschieden, die Sozialarbeiter_innen und Sozialpädagog_innen ausbildet und mir auf diese Weise mehr Einfluss auf das soziale Leben zu haben schien. Außerdem reizte mich auch die damit verbundene Möglichkeit der Forschung, die ich bald schon für mein Lebensthema „Kindheit in Armut“ zu nutzen wusste. Über die FH Jena, wo ich vier Jahre gelehrt habe (1994 – 1997), bin ich dann an die FH Münster berufen worden.
Meine akademische Laufbahn erscheint mir im Nachhinein als eine Art Selbstläufer: Für die Lehrtätigkeit an der FH war neben der fachlichen Qualifikation eine mehrjährige praktische Berufstätigkeit Voraussetzung, und die konnte ich an Hand meiner mehrjährigen Zuständigkeit für sozialpolitische Themen (sowohl in der Bundestagsfraktion als auch im Ministerium) leicht nachweisen. Da damals schon bei Berufungsverfahren auch auf die Gleichstellung der Geschlechter geachtet wurde, legte ein männlicher Mitbewerber eine Klage ein. Seine Klage wurde jedoch zurückgewiesen: Ich wurde – so der Richterspruch – eindeutig auf Grund meiner besseren Qualifikation berufen und nicht mit Rücksicht auf die Gleichstellungsquote.

LESEN SIE MORGEN (14.1.) IN TEIL II DES GESPRÄCHS:
Wie Margherita Zander die "68er" erlebte, wie sie das reiche Südtirol der Jetztzeit wahrnimmt, und was sie zu ihren wissenschaftlichen Schwerpunkten „Kinderarmut“ und die Fragestellung der Resilienzförderung erzählt...