Kultur | Salto Afternoon

Sehnsucht Meer

Autor Alois Schöpf und Fotograf Erich Hörtnagl erleben seit ihrer Kindheit das Glück im Sommer an der Oberen Adria. Heute haben sie ihr Buch dazu in Bozen vorgestellt.
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Foto: Erich Hörtnagl

Das Buch „Sehnsucht Meer. Vom Glück in Jesolo“, erschienen in der Edition Raetia, ist ein eine Liebeserklärung an den besonderen Landstrich am Mittelmeer. Millionen Gäste aus dem Norden und dem italienischen Hinterland besuchen alljährlich die Obere Adria. Und hier vor allem Jesolo, jenen Sehnsuchtsort, der im Schatten Venedigs seit der Nachkriegszeit bis heute zum sommerlichen Paradies für breite Bevölkerungsschichten aufstieg.

Wie fing der Adria-Tourismus an? Was geschah damals in den 1950er-Jahren?

Während die ältere Generation noch mit den Geistern der zwei Weltkriege kämpfte, wollte die Jugend von diesem Erbe nichts mehr wissen. Für sie waren Sonnenbräune, Baden im Meer, lange Haare und die Popmusik angesagt. Jeder, der etwas auf sich hielt, fuhr an die Adria. Sexuelle Befreiung und der Körperkult wurden zum Massenphänomen.


Heute wird die Obere Adria von vielen verächtlich „die Mammutbadewanne“ genannt. Und Stammgäste, die seit Jahrzehnten denselben Urlaubsort besuchen, werden als langweilige Spießer verachtet.
Mit viel Hintergrundwissen, Ironie und Humor stellt sich Autor Alois Schöpf die Frage, wer lächerlicher ist: der durch die Welt hetzende Tourist oder der am Strand liegende Jesolo-Urlauber, der genügsam sein Buch zu Ende lesen will?


Textauszug:

Stammgäste, Reisende und der Ursprung der Sommerfrische

Ich bin seit meinem siebten Lebensjahr, also nunmehr seit sechzig Jahren, Stammgast. Ich weiß, einfallsloser geht es nicht mehr! Obwohl Stammgäste als verlässliche Stütze der Tourismusindustrie gelten, werden sie als langweilige Spießer verachtet, vor allem von Kabarettisten, die, statt über ihre mächtigen Medienchefs herzufallen, spätabends in Billigformaten auf dem kleinen Mann herumtrampeln. Denn das Ideal ist selbstverständlich auch für sie der Bildungsbürger, der Wert darauf legt, abseits der touristischen Trampelpfade zu reisen, der sich mit einem Schäufelchen ein Loch in den Sand gräbt, wenn ihn am einsamen Strand ein menschliches Bedürfnis überkommt. Oder der im Wohnwagen am Straßenrand parkt und die Konserven vertilgt, die er vom heimatlichen Supermarkt mitgenommen hat, und der nach seiner Rückkehr stolz verkündet, die vierwöchige Italientour inklusive Gattin, Fahrrad, Hund, Venedig, Florenz und Rom habe ihn nicht mehr als tausend Euro gekostet. Dass er also im bereisten Land nichts von seinem Wohlstand zurückgelassen hat!

Ich war in meinem Leben selbst oft genug Tourist, um zu wissen, wovon ich rede. Ich stand wie Millionen andere in einer Schlange vor dem Markusdom in Venedig. Einmal sogar hinter einer Gruppe oberösterreichischer Studentinnen, die langsam vorwärtstrippelten, über ihnen im goldenen Gewölbe der mit Mosaiken comicartig dargestellte christliche Heilsplan. Während sie hinaufschauten und zu staunen vorgaben, unterhielten sie sich beiläufig darüber, welche von ihnen nach einem Feuerwehrfest in Henndorf im benachbarten Salzburgerland gezeugt worden sei und welche ihre Existenz einem geplatzten Präservativ verdanke.

Ich bin auch schon vor dem Schloss Versailles gestanden, diesem seelenlosen Fiebertraum eines Egomanen, der mehr als die Hälfte des französischen Staatshaushalts benötigte, um seinen Größenwahn zu finanzieren. Und was ist anderes dabei herausgekommen als eine unerträgliche Protzerei, die alljährlich von Hundertausenden bestaunt wird, während sie ängstlich ihre Handtaschen an sich pressen, weil sie im Bus vor Taschendieben gewarnt worden sind. Was wissen Sie von Versailles? Was von Ludwig XIV.? Oder von seinem genialen Hofgärtner André Le Nôtre? Warum wird überall, wo schlecht bezahlte Reiseleiter mit ihrer aus Wikipedia zusammengestohlenen Halbbildung zum Mikrofon greifen, stets das Alte und Vergangene, das Museale, das Feudale und Klerikale bewundert und in höchsten Tönen gelobt?

Ist der Mensch, wenn er zum Touristen mutiert, tatsächlich so dumm, dass er nicht mehr begreift, wie oft er mit aufgerissenem Maul vor den  steinernen Mahnmalen gewissenloser Verbrecher steht und sein Staunen zugleich all jene, meist unsichtbaren, weil meist abstrakten Leistungen, die zu seiner Befreiung und zu seinem heutigen Wohlstand beigetragen haben, herabwürdigt?

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