Gesellschaft | Achtsamkeit

“Ihr Kind ist zu dick”

Vor den Auswirkungen dieses Satzes warnt Raffaela Vanzetta eindringlich: Übergewicht bei Kindern muss kein Grund für Alarmismus sein und verursacht unnötigen Stress.
Waage
Foto: Screenshot/Youtube

“Mama, darf ich auch ein Eis haben?” Wie gerne würde die Mutter ja sagen. Doch im Hinterkopf hört sie die mahnende Stimme des Kinderarztes: “Ihr Kind ist zu dick.” Den flehenden Blick ihrer Tochter hält die Mutter kaum aus, doch sie bleibt hart und sagt: “Nein.” Traurig wendet sich die 7-Jährige ab und sieht ihrem Bruder hinterher, der sich ein Eis holen geht.
Später wird die Mutter diese Szene Raffaela Vanzetta erzählen, an die sie sich gewandt hat, weil sie keinen Rat mehr weiß. Vor zwei Jahren hat sie der Kinderarzt gewarnt. Ihre Tochter müsse auf ihr Gewicht achten. Da war das Mädchen fünf Jahre alt. Inzwischen hat sie viel an Lebenslust verloren, zieht sich immer mehr zurück, trifft sich nur mehr selten mit Freundinnen. “Sie hat das Gefühl, nicht dazu zu passen, so, wie sie ist, nicht in Ordnung zu sein”, erklärt Vanzetta, die die Fachstelle für Essstörungen INFES leitet. Sie warnt vor falschem Alarmismus bei als übergewichtig eingestuften Kindern – denn die Folgen sind “alles andere als gesundheitsfördernd”.

Anlässlich des “obesity day”, dem “Tag des Übergewichts”, der diese Woche anstand, wurde erneut auf die Gefahren der zu vielen Kilos, die immer mehr Menschen weltweit auf die Waage bringen, hingewiesen. Auch hierzulande. “In Südtirol sind mehr als 36.000 Erwachsene fettleibig, davon 3.600 schwer adipös. Fast 2.000 Kinder zwischen 6 und 10 Jahren sind davon betroffen und die Anzahl steigt ständig”, hieß es aus dem Dienst für Diätetik und Klinische Ernährung am Krankenhaus Bozen.
Dass Übergewicht weltweit zunimmt und eine schwere und schwer therapiebare Krankheit ist, bestreitet Raffaela Vanzetta nicht. “Aber ich möchte auf einen kleinen Trost hinweisen: In Südtirol ist Übergewicht kein brennendes Problem.” Speziell bei Kindern sei die Situation “unterdurchschnittlich” im europäischen Vergleich, betont die INFES-Leiterin. So klage auch das Trentino über mehr übergewichtige Kinder und bei den Nordtirolern sei die Lage “noch schlimmer”.

Vanzetta werden immer mehr Fälle bekannt, in denen Kinderärzte den Eltern auftragen, das Gewicht ihrer Kinder zu senken, sie auf Diät zu setzen. “Ihr Kind ist zu dick.” Diesen Satz bekommen schon Mütter und Väter von 4- oder 5-Jährigen zu hören. “Das löst enormen Stress aus”, mahnt Vanzetta. Sowohl bei den Eltern, die ihrem Nachwuchs die Lieblingssüßigkeit verwehren (müssen), als auch bei den Kindern, die ständig den Eindruck bekommen, so, wie sie sind, nicht in Ordnung zu sein. Dabei sind Gewichtsschwankungen und leichtes Übergewicht vor allem bei Heranwachsenden nichts Ungewöhnliches. Das hat Raffaela Vanzetta selbst bei ihren Kindern erlebt: “Sie sind zuerst in die Breite gegangen, dann in die Höhe, dann wieder in die Breite und wieder in die Höhe.” Dazu kommt, dass nicht alle Kinder, ebensowenig wie Erwachsene, denselben Körperbau haben. “Manche sind eben etwas pummeliger. Diese Tatsache sollte man ein Stück weit einfach annehmen”, rät Vanzetta. Und anstatt auf Diäten und Verbote zu setzen, sollten Eltern auf mehr Bewegung für ihr Kind achten, “am Sonntag auch mal einen gemeinsamen Spaziergang machen” – und notfalls den Kinderarzt wechseln. Wirklichen Handlungsbedarf sieht sie erst bei Kindern, die sehr schweres Übergewicht aufweisen: “In diesen Fällen sind meist auch die Eltern schwer übergewichtig. Da gilt es, den Lebensstil der gesamten Familie zu ändern.”

“Essstörungen entstehen dann, wenn Menschen unter Druck sind, weil sie glauben, so wie sie sind, nicht in Ordnung zu sein. Ein leichtes Übergewicht kann in der Wachstumsphase eines Kindes oder während einer Schwangerschaft durchaus auch normal sein.”
(Raffaela Vanzetta)

Stress und Druck, der von Medizinern ausgeübt wird, wenn es um das Gewicht geht, bekommen immer häufiger auch Schwangere zu spüren, weiß Vanzetta. “Frauenärzte verwenden Tabellen, auf denen steht, dass eine Schwangere im Monat nicht mehr als x Kilogramm zunehmen darf. Doch wer bestimmt diese Zahlen?” Tabellen, Kurven, Diagramme – wenn es um das Gewicht geht, sind viele Mittel recht, um eine Normierung der Gesellschaft vorzunehmen. Doch weder Kinder noch Jugendliche noch Erwachsene lassen sich auf Zahlen reduzieren. Daher warnt auch Raffaela Vanzetta eindringlich davor, die Wirkung von gut gemeinten Ratschlägen im Hinblick auf das Gewicht bei den Jüngsten nicht zu unterschätzen. Nicht zuletzt deshalb, weil dadurch auch gestörte Essverhalten bis hin zu Essstörungen entstehen können: “Essen, Gewicht und Körper werden immer früher zum Thema gemacht. Wir müssen aufpassen, dass der Alarmismus nicht überhand nimmt.”