Kultur | Salto Afternoon

Public Historian

Auszüge aus der Rede von Kurt Gritsch, anlässlich der Verleihung des Förderpreises "Walther von der Vogelweide 2017".
kurt_gritsch.jpg
Foto: Foto: Privat

Von der Verantwortung des Historikers gegenüber der Gesellschaft

Es gilt das gesprochene Wort!

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde, ich danke euch, dass ihr heute hier seid, um mit mir diesen außergewöhnlichen Moment zu feiern. Man hat mir 15 Minuten für eine Rede zugesagt, die ich im Sinne von Kurt Tucholsky zu verwenden gedenke: „Wenn einer spricht, müssen die anderen zuhören – das ist deine Gelegenheit. Missbrauche sie.“ In diesem Sinne werde ich Ihnen nun etwas über mein berufliches Selbstverständnis als Historiker sagen.
[…]
Vor einiger Zeit wurde ich von Hans Heiss mit einem besonderen Lob bedacht: Er beglückwünschte mich zu meiner regen Vortragstätigkeit im öffentlichen Raum als Public Historian. Ich habe darüber nachgedacht und mir überlegt, wie ich diese Rolle für mich definiere. Ich bin ja einerseits Historiker und andererseits auch Konflikt- und Friedensforscher. […] Und deshalb möchte ich nun über die Verantwortung des Historikers gegenüber der Gesellschaft sprechen. Was ist darunter zu verstehen?
[…]

Denn ohne das Wissen um die Vergangenheit ist ein Verständnis der Gegenwart, das auf Konfliktlösung, auf Frieden abzielt, gar nicht möglich.

Das Leben bietet immer wieder neues Konfliktpotenzial. Doch Konflikte, die nicht gelöst werden – und sie zu lösen, heißt, sie zu befrieden –, führen zur Eskalation und gefährden den Frieden. Wohin das führen kann, sehen wir, wenn wir nur schon drei Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit betrachten: Libyen, Syrien und die Ukraine. Noch 2010 stand Libyen auf Rang 53 im Human Development Index, der anhand von Faktoren wie Zugang zu medizinischer Grundversorgung, Bildung und Lebenserwartung die Entwicklung und den Wohlstand von Ländern misst. Libyen war das am besten platzierte afrikanische Land, vor dem EU-Mitgliedsstaat Bulgarien. In Syrien konnten Menschen noch ihrer Arbeit und Ausbildung nachgehen, und die Ukraine war trotz aller inneren und äußeren Spannungen ein Staat mit Brückenfunktion zwischen Ost und West.

Inzwischen ist Libyen auf Rang 102 abgestürzt, der Staat ist zerfallen, er wurde mit Hilfe der NATO zerstört, lokale Warlords haben die Kontrolle übernommen. Der UNHCR, das Flüchtlingswerk der UNO, hat in zahlreichen Berichten dokumentiert, was auch die nach Südtirol Geflohenen immer wieder sagen: Libya is hell. Folter, Vergewaltigung, Mord – das sind einige der Folgen des Krieges. Deshalb ist auch die Forderung, die EU müsse die im Mittelmeer geretteten Menschen nach Libyen zurückschicken – zuletzt hat Südtirols Landeshauptmann Arno Kompatscher dies im August 2017 getan – entschieden zurückzuweisen. Sie basiert angesichts der von verschiedenen Seiten bestätigten gravierenden Menschenrechtsverletzungen nämlich entweder auf Ignoranz der Fakten oder auf Zynismus.

Syrien wiederum ist in weiten Teilen zerstört, rund 400.000 Menschen sind tot, elf Millionen – die Hälfte der Bevölkerung! – geflohen, geschätzte fünf Millionen ins Ausland, rund sechs Millionen innerhalb des Landes. Und die Ukraine hat nicht nur ihre Brückenfunktion eingebüßt, sie ist inzwischen sogar selbst gespalten. Über 6.000 Menschen – das ist mehr als meine Heimatgemeinde Naturns! – haben ihr Leben verloren, knapp eine Million musste fliehen. West und Ost, EU, NATO und Russland, stehen sich heute angesichts von Sanktionen und wechselseitigen militärischen Großmanövern so unversöhnlich gegenüber wie seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr.

Im Lichte dieser Katastrophen gilt das Diktum der ersten Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner ungebrochen: „Die Waffen nieder!“ Oder, wie es Willy Brandt formuliert hat: „Frieden ist nicht alles, aber alles ist nichts ohne Frieden.“

Ist Historie also Friedensarbeit?

Sie kann es sein, wenn die Erkenntnisse aus der Vergangenheit dazu dienen, eine bessere, gewaltfreie, friedliche Zukunft zu schaffen. Hier ist in gewissem Sinn der Public Historian gefragt: Wissenschaftler*innen, die sich einmischen, die sich aufdrängen, über Vorträge, Diskussionen und in Medienbeiträgen. Denn ohne das Wissen um die Vergangenheit ist ein Verständnis der Gegenwart, das auf Konfliktlösung, auf Frieden abzielt, gar nicht möglich. Wenn man beispielsweise weiß, dass bis in die 1970er Jahre hinein jährlich über tausend Südtiroler*innen auf der Suche nach besseren Arbeitsperspektiven ausgewandert sind und heute noch viele auswandern, kann man auch die aktuelle Einwanderung besser verstehen.

Aus der Kenntnis der Vergangenheit erwächst also auch eine Verantwortung für Vermittlung und Frieden. Anhand von vier zentralen Aufgaben habe ich hier deshalb mein Selbstverständnis als Friedens- und Konfliktforscher und als Historiker der Öffentlichkeit formuliert. Die erste der vier lautet „sine ira et studio“: ohne Zorn und Eifer.

Fleiß, Präzision und Durchhaltevermögen sind gewiss wichtige Tugenden der Geschichtsforscher*innen. Ebenso wichtig ist es aber, dabei ohne Zorn und Eifer, also ohne Revanchismus und Fanatismus, zu Werk zu gehen. Denn mitunter kann das Studium der Vergangenheit große Empörung oder Wut wecken, wenn man sich z. B. mit Ungerechtigkeit, Zynismus oder Gewalt beschäftigen muss. Doch starke Emotionen sind selten gute Ratgeber.
[…]
Damit Historiker*innen ihrer selbstgewählten Rolle als Friedensforscher und Friedensarbeiter aber gerecht werden können, sollten sie sich neben dem Leitgedanken „sine ira et studio“ noch an einen weiteren halten: zu reflektieren, also zu überdenken, und zu überarbeiten.

Im Stich gelassen von einer Gesellschaft, die zu den wohlhabendsten in Europa gehört, gegen Gesetze und Menschenrechte. Und nun ist ein 13jähriges Kind, das unter Muskelschwund litt, tot. 

Man kann dabei das Überdenken auch mit be-denken ersetzen. Geschichte erschließt sich ja nicht von sich aus dem Betrachter. Damit lässt sich Geschichte auch nicht lernen, zumindest nicht im Sinne eines Auswendig-Lernens. Was wir aber aus Geschichte lernen können, was wir daraus erkennen können, sind Ähnlichkeiten in den Abläufen, Muster in den Handlungssträngen, Emotionen bei den Entscheidungsträgern ebenso wie bei den Betroffenen.

Wer aus der Beschäftigung mit dem Südtirol-Konflikt gelernt hat, dass ein ethnisch motivierter Streit entweder zum Bürgerkrieg eskalieren oder durch Autonomie befriedet werden kann, der kann diese Erkenntnis auch auf andere Konflikte übertragen. Das bedeutet nicht, dass alle ethnischen Konflikte gleich ablaufen, aber es gibt grundlegende Parameter, die fast den Charakter von naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten besitzen.

Dass der Besitzende der Mächtigere ist als der Besitzlose, ist eine weitere Grunderkenntnis. Sie kann dazu genutzt werden zu verstehen, dass in der gegenwärtigen Migrationsdebatte die Asyl, Schutz und Perspektiven suchenden Menschen gegenüber den bereits ansässigen Menschen in der schwächeren Position sind. Die Familie des 13jährigen Adan musste dies vor wenigen Tagen schmerzhaft erfahren: Im Stich gelassen von einer Gesellschaft, die zu den wohlhabendsten in Europa gehört, gegen Gesetze und Menschenrechte. Und nun ist ein 13jähriges Kind, das unter Muskelschwund litt, tot. Und es gibt Leute, die darauf mit dem Satz „Er wäre ja ohnehin gestorben“ reagieren und dem Anderen selbst im Tod sein Mensch-Sein absprechen. Hier zeigt sich auf furchtbare Weise, welche Seite im Migrationsdiskurs tatsächlich bedroht ist.

Der Stärkere muss sich nämlich vor dem Schwächeren weniger fürchten als umgekehrt – oder anders formuliert: Der Besitzende ist nicht so arm dran wie der Nichtshabende. Entsprechend kann er auch aus einer Position der Stärke heraus agieren. Er kann es sich leisten, dem Anderen entgegenzukommen. Er kann sich Humanität leisten. Doch die Humanität wird aktuell vor allem den Freiwilligen überlassen, während Landesdienste fragwürdige Direktiven wie das „Critelli-Rundschreiben“ exekutieren und die Polizei in Bozen Obdachlosen ihre Decken wegnimmt und entsorgt. Eine Stadt mit über 600.000 Nächtigungen im Jahr und mehreren Tausend Tagestouristen mobbt die Armen regelrecht aus ihrem Stadtgebiet hinaus.

Es ist höchste Zeit, dass ein Land wie Südtirol sich der Nothilfe besinnt. „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40) – dieses Jesuswort sollten sich alle zu Herzen nehmen, zumal jene, die sich gerne auf die christlichen Werte unseres Landes berufen. Wir haben 2016 mehr als 31 Millionen Nächtigungen in Südtirol gehabt. Und was sagen die verantwortlichen Touristiker dazu? Es gebe, zumindest für manche Gebiete und/oder saisonal bedingt, durchaus noch „Luft nach oben“. Zugleich verwehrt man sich aber gegen die temporäre Aufnahme von Flüchtlingen, von Menschen in Not, mit der Begründung, man könne nicht jeden unterbringen. Hätten sie Geld, würde diese Diskussion gar nicht erst geführt.

Dass die Beschäftigung mit Vergangenheit spannend, interessant, ja gar lustvoll sein kann, war und ist für viele Menschen bis heute nur schwer vorstellbar.

Nachzudenken, zu be-denken und zu überarbeiten führt dazu, solche und weitere Grunderkenntnisse aus der Geschichte abzuleiten und sie in gegenwärtigen Debatten als geistiges Rüstzeug zu verwenden, immer im Bewusstsein der Relativität der beanspruchten Wahrheit sowie der Gleichwertigkeit der Diskursteilnehmer. Dies führt mich zur dritten Grundregel: Über Interpretationen darf man, soll man streiten.
[…]
Historiker*innen sind keine Richter*innen, und sie sollten sich auch in der öffentlichen Debatte der Relativität ihrer Position immer bewusst sein. Gerade weil der Historiker durch seine Forschung zur Versachlichung der Diskussion beitragen möchte, muss ihm alles daran liegen, seine Position auf eine Weise zu vertreten, dass sie annehmbar ist. Arroganz, Belehrung, Präpotenz oder hierarchisches Denken schaden dem selbstgestellten Anliegen.
[…]
Dies führt mich zur letzten meiner vier Grundregeln: prodesse et delectare: Wissenschaft kann lehrreich und unterhaltsam zugleich sein. Dass die Beschäftigung mit Vergangenheit spannend, interessant, ja gar lustvoll sein kann, war und ist für viele Menschen bis heute nur schwer vorstellbar. Diesem Phänomen versucht der Public Historian entgegenzuwirken, indem er sich nicht nur um eine herausragende und auf dem aktuellsten Erkenntnisstand befindliche Forschung bemüht, sondern auch um eine ebenso professionelle Vermittlung seiner Ergebnisse.
[…]
Dass meine Arbeit so viel Aufmerksamkeit erhalten hat, dafür danke ich allen Veranstaltern, die bisher ein offenes Ohr für Vorträge und Workshops hatten. Dies gilt ganz besonders für das Amt für Film und Medien, das gesellschaftskritischen und Zeitgeist reflektierenden Ansätzen bemerkenswert aufgeschlossen gegenübersteht. Aber auch die Südtiroler Bibliotheken leisten hervorragende Arbeit. Dasselbe gilt für meine engagierten Lehrerkolleg*innen, die allem bürokratischen Wahn der Provinz zum Trotz unverdrossen am Wert von Bildung festhalten. Danken möchte ich aber auch den Journalist*innen, die sich für meine Themen interessieren und damit einen unschätzbaren Beitrag für den Anspruch des öffentlichkeitswirksamen Historikers leisten.
[…]
Zu guter Letzt danke ich natürlich ganz besonders Ihnen, der Stiftung „Walther-von-der-Vogelweide-Preis“, die mir diese Auszeichnung überreicht. Damit haben Sie in Kauf genommen, dass ich mich hier 15 Minuten mit all meinen Gedanken ausbreite. Allerdings war von einem Public Historian nichts anderes zu erwarten. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.