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Tbilisi Diaries (Part I)

Philipp Kieser ist in Tbilisi, Georgien, und berichtet von der internationalen Konferenz „Next Generation Of Cultural Spaces”, die Ende September in Schlanders gastierte.
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Foto: Philipp Kieser
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Nach ihrem Stopp in Schlanders, macht die Konferenzreihe „Next Generation Of Cultural Spaces” zur Zeit in Tiflis Halt: Philipp Kieser wird von Tiflis und von dieser Tagung auf salto.music berichten. Foto: Philipp Kieser

 

Freitag 07. Oktober 2022: Ankunft und erster Tag / erste Nacht, oder: Khinkali Tour und Techno Marathon

Wie die meisten europäischen Flüge erreicht unser Flugvogel den georgischen Hauptstadt-Flughafen sehr früh morgens, Ortszeit 05:00 Uhr. Einmal durch die Passkontrolle durch, sind wir bereit für 10 Tage volle Ladung Tbilisi. Und das ist auch was uns gleich erwartet: Unsere Freunde Naja und Giorgi packen uns in ihren Jeep und karren uns zur nächsten Taverne in der Innenstadt zum Frühstück mit Hühnersuppe, Khinkali (georgische Teigtaschen mit Suchtpotenzial) und verschiedenen Gemüseaufstrichen inklusive Brot in allen Varianten. Ein klassisches Frühstück wie wir es kennen, gibt’s es hier nicht wirklich, meinen unsere Gastgeber vom Bassiani Club, einem der vielversprechendsten Techno-Tempel Europas.

Weiter geht’s in Richtung House Of Reconnexion im Chugureti Viertel, wo uns ein anderer alter Bekannter, David von Act4Culture, bereits erwartet. Das Haus der Wiederverbindung ist eine Art Kulturbasis, Kreativbüro, Label-Headquarter und Kunstraum, bespielt und belebt von mehreren Kollektiven wie Act4Culture, Horoom, Bassiani, Creative Collective Spectrum und dem queeren Fungus Project. Entstanden ist die Idee dazu in den Lockdown-Perioden, da die meisten der Kreativräume geschlossen waren und die Menschen dieser Kollektive einen Raum für Arbeit und Austausch suchten. Gleich vis-a-vis hat die Kreativgruppe die Klara Bar eröffnet, daneben soll ein Restaurant entstehen. Gleich einem Mycelium, organisch wachsend, verschaffen sich Menschen mit Vision hier Zugang zu einem Viertel, das lange als verrufen und konservativ galt und versuchen sich in Co-Existenz mit den Alteingesessenen.

In Tbilisi wird die Musik nur gestoppt, wenn das Tanzvolk stoppt.

Nach ein paar Stunden Schlafladen, gefühlten 100 Khinkalis und einem Abstecher in der Klara Bar, machen wir uns so langsam bereit für die Clubnacht im Bassiani, es wird das 8. Anniversarium des Techno Clubs sein. Neben den Lokalmatadoren spielen an diesem Abend Rodhad und die deutsche Legende Efdemin. Letzterer verwaltet die Frequenzen im Horoom Floor, der mich irgendwie an ATRACT erinnert, sehr kompakt, gemütlich, aber dennoch einengend.

Efedemin überzeugt mich an diesem Abend bzw. Morgen am meisten durch einen sehr treibenden, schwungvollen Acid House-Sound mit viel Atmosphäre in der Grundsonorität. Sehr angenehm für die frühen Stunden, denn trotz wenig Schlaf und den Reisestrapazen in den Knochen, halten wir bis 07:00 durch. Wir hören, dass die Party im Club im ehemaligen Schwimmbadareal unter der Dinamo Arena, aber noch lange bis in den Nachmittag hinein lief. In Tbilisi wird die Musik nur gestoppt, wenn das Tanzvolk stoppt. Und das kann sich auch gut und gerne bis in die Nachmittagsstunden ziehen. 

 

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Die georgische Hauptstadt beherbergt einen der wichtigsten europäischen Techno-Clubs der letzten Jahre: Tbilisi besticht aber auch durch einen eigenen Mix an kulturellen und architektonischen eurasischen Eigenheiten, wie hier eine Statue im Zentrum aus der ehemaligen Sowjetzeit. Foto: Philipp Kieser

 

Apropos Tanzvolk: Die Leute an diesem Abend sind zumeist georgischer Herkunft und trudeln erst so gegen 03:00 Uhr morgens ein, also dann, wenn wir bei uns zuhause zusperren.H­ier und da höre ich englische und auch deutsche Sprachfetzen. Russen, von denen es aufgrund der geopolitischen Situation aktuell in Georgien bis zu 300.000 gibt (10% der Bevölkerung Georgiens), habe ich kaum gesehen. Die Stimmung ist angenehm entspannt und keineswegs hektisch, trotz der 2.000 Anwesenden, dies dank auch der gut kuratierten Selektion am Eingang durch Anmelde- und Ticketverfahren.

Im Gespräch mit den Leuten von Horoom erfahren wir aber, dass man die door policiy generell sehr kulant hält, der Dancefloor wird als Begegnungsort verstanden, die Tore stehen auch für Menschen mit konservativen oder homophoben Ansichten offen, gerade um Begegnung zu ermöglichen und bestenfalls direkte Transformation auf dem Tanzparkett zu fördern. In Zeiten wo cancel culture überhand nimmt, ein sehr mutiger, aber nachvollziehbarer und vertretbarer Ansatz.

Generell fühle ich, dass die Nacht- und Subkultur in Tbilisi sehr politisch aufgeladen ist.

Generell fühle ich, dass die Nacht- und Subkultur in Tbilisi sehr politisch aufgeladen ist. Die Menschen sind hier mehrheitlich aktivistisch veranlagt, auch weil es ob der harten Repression ums Überleben geht, etwas, das wir zuhause im bequemen Südtirol, so (noch) nicht kennen. Einzig der kollektive Aufschrei und die Solidaritätswelle rund um die nächtliche Abrissaktion in der BASIS Vinschgau, kann als erfolgreicher Versuch von Aktivismus im Kulturbereich verzeichnet werden.

 

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Blick über die Dächer der georgischen Hauptstadt hinweg: Im Hintergrund die Arena, unter der sich der Bassiani Club befindet. Foto: Philipp Kieser

 

Von den GeorgierInnen können wir uns jedoch in puncto Selbstwirksamkeit einiges abschauen. Vor allem die Generation 20-40, die auch die „Rave-o-lution“ – siehe nachfolgende BBC-Dokumentation von 2018 – erlebt hat, übt auf mich eine Art ansteckende Faszination aus: Es wird viel aus der Notwendigkeit mit begrenzten Mitteln heraus erschaffen, an allen Ecken und Enden entstehen seit mehreren Jahren kleine und große Clubs, Kreativräume und Treffpunkte für nicht dominante Gesellschaftsschichten, trotz des übermächtig scheinenden Widerstandes der konservativen Gesellschaftsteile, unübersichtlichen politischen Situation, rechtsradikalen Gruppierungen und der orthodoxen Kirche.

 

BBC News: „Georgia's rave revolution” (2018), von BBC News

 

Die Stadt am äußersten Rande Europas ist mit ihren 18 Clubs in den letzten Jahren zu einem Protagonisten der weltweiten Clubkultur geworden und hat das Bild der 1,1 Millionen Einwohner Stadt maßgeblich mitverändert. Ich beobachte das auch auf meinen Erkundungstouren in den verschiedenen Vierteln: Es sind mehrheitlich junge Menschen auf den Straßen und Plätzen unterwegs. Aktuell eben auch viele junge kreative Köpfe aus Russland, die vor ihrem eigenen Regime flüchten, was den Einheimischen – vorsichtig formuliert - nicht ganz geheuer ist.

Es ist dies nichts anderes als ein Kulturwandel, ein Versuch der Gesellschaftstransformation im wahrsten Sinne, mit dem Instrument der Kultur und Kunst. 

Man sieht es diesen Menschen hier irgendwie auch an, dass dieses stolze Volk an den südlichen Ausläufern des Kaukasus, immer mal wieder von Eroberungsversuchen aus allen Himmelsrichtungen heimgesucht wurde. Doch das hat die GeorgierInnen zu mutigen KämpferInnen geformt: Auch wenn die Gesichter einem manchmal auch etwas zermürbt und gezeichnet erscheinen, werden die Menschen hier aber niemals müde, sich für die eigenen Ideale und Werte einzusetzen. Vor allem die junge Generation will den Wandel: Eine inklusivere, gerechtere, solidarische, integrale Zukunft und Freiheit ist das Ziel. Es ist dies nichts anderes als ein Kulturwandel, ein Versuch der Gesellschaftstransformation im wahrsten Sinne, mit dem Instrument der Kultur und Kunst. 

 

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Philipp Kieser über Tiflis: „Die Stadt am äußersten Rande Europas ist mit ihren 18 Clubs in den letzten Jahren zu einem Protagonisten der weltweiten Clubkultur geworden”. Foto: Philipp Kieser

 

Deshalb sind diese spaces of culture, die kulturellen Räume, auch so wichtig, und deshalb ist es umso wichtiger, dass wir genau in dieser Zeit der großen Unsicherheit und des Umbruchs an die Zukunft denken, lokal sowie auch international.

Konkret müssen wir die next generation of cultures spaces konzipieren und umsetzen: Das ist das Thema der Konferenzreihe, die vor etwas weniger als einem Monat in der BASIS Vinschgau begonnen hat und über die ich im zweiten Teil meiner Tbilisi Diaries erzählen werde.

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Ticket für das Jubiläumsevent 8 Jahre Bassiani Club in Tiflis: Bemerkenswert ist zudem das Logo des Bassiani Club und seine Ähnlichkeit zum Logo von Philipp Kiesers Label Culture Assault. Grafik: Bassiani Club