Gesellschaft | Selbstmord

"Rund die Hälfte hat eine Depression"

Warum nehmen sich junge Menschen in Südtirol das Leben? Der Brunecker Psychiatrie-Primar Roger Pycha zu Ursachen und dem öffentlichen Umgang mit Selbsttötung.
Pycha, Roger
Foto: You Tube

salto.bz: Herr Pycha, die Schulleiterin und Notfallpsychologin Marlene Kranebitter fordert, das mediale Schweigen über Selbstmorde von Jugendlichen zu brechen und genauer hinzuschauen, warum sie zu wenig Mut zu leben haben. Was ist die Antwort des Psychiaters darauf?
Roger Pycha:
Wir müssen diese Diskussion sehr vorsichtig führen und sollten weder Hysterie noch eine globale Alarmstimmung hervorrufen. Aber es ist sicherlich so, dass sich die Situation mit dem Aufkommen der neuen Medien verändert hat.

Bisher haben Ärzte wie Sie uns empfohlen, möglichst nicht oder sehr zurückhaltend über Selbstmorde zu berichten...
Ja, doch nun werden die Nachrichten ohnehin über die neuen Medien gestreut. Jetzt brauchen wir die traditionellen Medien, um einen Aufruf an die Nutzer dieser sozialen Medien zu starten, verantwortungsvoll zu handeln und bestimmte schädliche Informationen zu stoppen und nicht weiterzuleiten. Denn wenn solche Nachrichten über Suizide in den sozialen Netzwerken kreisen, ist es ähnlich, wie wenn in einem Dorf zu einem Thema offiziell nichts gesagt wird, aber hinter vorgehaltener Hand dennoch jeder darüber redet.

Und das ist schädlich?
Das macht die Botschaft noch viel spektakulärer, damit wird die Sogkraft eines solchen Inhaltes noch viel größer. Und das heißt, Menschen in schweren Krisen könnten dann viel eher zu einer Nachahmung angestiftet werden. Deshalb ist es wichtig, Jugendlichen zu sagen, passt auf, was ihr da weiterleitet, und vor allem wenn es um Morde und Suizide geht, stoppt die Weiterleitung bitte, wo ihr könnt. Nur so können wir den sogenannten Werther-Effekt, also den Nachahmungseffekt eindämmen.

Ist dieser Werther-Effekt wissenschaftlich belegt, also sind wir sicher, dass Berichte über Selbstmorde immer noch zu weiteren Suiziden führen?
Daran ist nicht zu rütteln, das ist durch sechs bis sieben große internationale Studien belegt. Um nur eine zu zitieren: Schon in den Achtziger Jahren hat die Studie von Sonneck in Wien aufgezeigt, dass U-Bahn-Suizide fast auf die Hälfte gesunken sind, nachdem die Berichterstattung darüber eingestellt worden war.

Doch die Achtziger waren eben auch noch Prä-Internet-Zeitalter...
Klar. Und es ist genauso klar, dass wir die sozialen Medien nicht zensurieren können. Wir können uns nur an das Verantwortungsgefühl und das moralische Empfinden der jungen Leute wenden. Darüber hinaus sollten wir als Helfer auch in den sozialen Medien präsent sein. Die Beratungsstelle Young + Direct hat ja beispielsweise Chats, über die man sie immer erreichen kann.

"Wir wissen in Südtirol ganz genau, dass sich drei bis vier Mal so viele Männer wie Frauen das Leben nehmen. Doch das ist fast überall auf der Welt so."

Und Sie?
Um wirklich auf solchen interaktiven Kanälen präsent zu sein, bräuchten wir viel mehr Personal als wir haben. Wenn ich dem nachgehen würde, könnte ich 80 Prozent meiner Tätigkeit im Netz verbringen mit all den Hilfeschreien, die ich täglich bekomme. Deshalb braucht es andere Lösungen. Wir haben in Südtirol auch ein Netzwerk zu Suizidprävention, das hat nur einen Nachteil: es hat keinen Cent Budget.

Wie das?
Das Netzwerk wurde zwischen 2004 und 2008 mit EU-Geld aufgebaut, mit Hausärzten, Psychiatern, Telefonberatungsstelen und den Selbsthilfeorganisationen der psychisch Kranken und ihrer Angehörigen als Kern. Doch dann wurde es sich selbst überlassen, und seit kurzem wird es von der Sozialgenossenschaft  EOS koordiniert. Damit sind wir auch Teil eines europäischen Netzwerks und können so gesamteuropäische Erfahrungen für uns nutzbar machen. Wir tun, was wir tun können – aber eben in unserer Freizeit mit Freiwilligeneinsatz und da sind die Möglichkeiten doch eher beschränkt. Umos wichtiger bleibt die Schule  – als Ort, an dem der Umgang mit Krisen gelehrt wird.

Doch aus der Schule heißt es: Wir haben ohnehin schon so viel Stoff, wie sollen wir noch all die vielen Arten von Prävention unterkriegen?
In der Hinsicht kann man die Präventionsarten vielleicht nach ihrer Wichtigkeit abstufen, Und Suizid-Prävention ist wohl die wichtigste - hier geht es schließlich ums Überleben. Es gibt auch eine Reihe von Initiativen, die alle nicht neu sind. Die Schule selbst hat Material erarbeitet, wie man bei Suizid präventiv vorgeht. Unser letztes Buch diesbezüglich, das an Südtirols Oberschulen verteilt wurde, stammt aus dem Jahr 2005 und heißt: „Auf und ab. Krisen als Unterrichtsstoff.“ Darin geht es um vier Schulstunden, die man zum Thema Krise und Krisenbewältigung in den Unterricht einbauen kann, wann immer die Lehrperson das wünscht.

Wie dramatisch ist die Lage überhaupt in Ihren Augen? Es ist von acht Fällen junger Männer im Raum Eisacktal/Pustertal in nicht einmal eineinhalb Jahren die Rede.
Ich würde tendenziell Entwarnung geben Allerdings fehlt mir dazu eine wichtige Basis, die wir zehn Jahre lang hatten: unsere psychologische Autopsiestudie, dank der in den Jahren 2000 bis 2009 jeder Suizid in Südtirol untersucht wurde – auch indem man bei Hinterbliebenen, Hausärzten und weiteren Informanten nachfragte. Wenn dieses Projekt noch laufen würde, könnten wir viel nüchterner und klarer und wissenschaftlicher Auskunft darüber geben, was denn im Fall dieser acht Jugendlichen wirklich Mitauslöser war oder ob wir zum Beispiel einer neuen Risikogruppe auf der Spur sind.

"Wir müssen vom verbissenen Schweigen zum klugen Reden kommen."

Haben Sie eine Erklärung dafür, warum es sich in allen acht Fällen um junge Männer handelte?
Wir wissen in Südtirol ganz genau, dass sich drei bis vier Mal so viele Männer wie Frauen das Leben nehmen. Doch das ist fast überall auf der Welt so. Bis auf zwei Staaten, Indien und China, wo Frauen sozial fast gar nichts gelten und drastisch benachteiligt ist.

Doch warum ist das so?
Hier bewegen wir uns in das Reich der Spekulationen. Man kann zum Beispiel die Hypothese haben, dass es damit zusammenhängt, dass Männer viel mehr als Frauen zur Tat neigen. Also wenn ich eher im Handeln bin als im Reden, kann ich eventuell gefährdeter sein.

Hast die Autoposiestudie generelle Tendenzen aufgezeigt, warum es zu Selbsttötungen kommt?
Die Zahlen sprechen für sich: 70 Prozent alle Opfer hatten psychiatrische Symptome, waren als in irgendeiner Form psychisch krank. 50 % davon hatten Zeichen einer Depression und bei etwa 25 Prozent war eine Alkoholsucht mit im Spiel. Wenn man solche Daten hat, kann man dann zum Beispiel auch sagen: Wir müssen in Südtirol die Depression und den Alkoholismus bekämpfen, dann reduzieren wir auch die Suizidrate.

Warum wurde die Studie eingestellt?
Das müssen Sie an anderen Stellen fragen. Ich habe aber schon damals dafür gekämpft das wir weitermachen. Denn ich denke, wir sind es Südtirols Öffentlichkeit und Fachleuten schuldig, zu wissen, was vorgeht. Sonst wird wieder nur spekuliert, und diese grassierenden Spekulationen können möglicherweise wieder zu einem Werther-Effekt führen.

Welchen Leidensdruck beobachten Sie in Ihrer beruflichen Praxis besonders häufig bei Jugendlichen?
Ich denke, dass der schulischer Druck nicht zu unterschätzen ist. Bei der Vielzahl an Angeboten und Informationen gibt es für viele ganz große Orientierungsschwierigkeiten. Die heutigen Jugendlichen kämpfen mit anderen Problemen als meine Generation in ihrer Jugend und sie  brauchen dabei auch Hilfe und Führung. Wir wissen allerdings auch, dass sich junge Menschen am stärksten an Gleichaltrigen orientieren und nicht so sehr am Vorbild der älteren Generation. Da können wir schon versuchen, die Brücke besser zu schlagen. Aber ich denke, in Südtirol ist ja nicht ganz wenig geschehen, wir stehen mit Beratungsstellen auch für junge Leute nicht schlecht da.

"Wenn solche Nachrichten über Suizide in den sozialen Netzwerken kreisen, ist es ähnlich, wie wenn in einem Dorf zu einem Thema offiziell nichts gesagt wird, aber hinter vorgehaltener Hand dennoch jeder darüber redet."

Doch oft ist die Zugangsschwelle einfach zu hoch...
Ja, deshalb plädiere ich auch dafür, uns alle in seelische Erster Hilfe zu üben. Es gibt ja so etwas wie einen Kenntnisstand über die Erste Hilfe, also die meisten Menschen haben im Laufe ihres Lebens einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht. Und so ähnlich sollten wir auch für den Ernstfall üben, dass wir einem Menschen begegnen, der schwer in Krise ist und möglicherweise nicht mehr leben will. Da gibt es ganz einfache Verhaltensregeln.

Zum Beispiel?
Dass man betroffene Leute nicht mehr alleine lässt, dass man mit ihnen redet, sie fragt, was sie gerade empfinden. So wird klar, wie gefährdet sie sind und wie intensiv das ganze Erleben ist. Dann kann man im Ernstfall sofort die Helfer vom Dienst holen, also Weißes oder Rotes Kreuz und Polizei. Gut ist auch die betreffende Person mit ihren Familienangehörigen in Kontakt zu bringen oder nach Hause zu begleiten. Wenn weitere Menschen anwesend sind, sind selbstmordgefährdete Menschen meist gerettet, also nicht mehr bereit, irgendwelche suizidalen Handlungen zu begehen.

Was als wünschen Sie sich als Psychiater für die nun startende Diskussion?
Wir müssen einfach aufpassen, wie wir diskutieren. Wir sollten keine Alarmstimmung verbreiten, sondern nüchtern bleiben, und wie unlängst beim Vortrag von Viktor Staudt positive Geschichten verbreiten, wie Krisen überwunden werden können. Es braucht gezielte positive Information, die auch auf Hilfsangebote hinweist. So zu tun als gäbe es das Phänomen nicht, können wir uns dagegen nicht mehr leisten.

Wir müssen also aus dem Schweigen in eine positive Kommunikation finden? 
Ja, wir müssen vom verbissenen Schweigen zum klugen Reden kommen.