Gesellschaft | Mordfall Capovani

Die Toten ohne Namen

Das Wissen der behandelnden Profis ist nur die halbe Wahrheit ... hier die Stimme der Behandelten
Hinweis: Dieser Artikel ist ein Beitrag der Community und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.

Was unser Gefährte Gianluca Paul Seung an einem Freitag vor einigen Wochen getan hat, hat uns andere zutiefst bestürzt.

Er hat seinem Hass und seiner zornigen Rebellion den ultimativen und unverzeihlichen Ausdruck gegeben, indem er seine ehemalige Psychiaterin Barbara Capovani getötet hat.
Es war, allem Anschein nach, sein Vorsatz. 
Er wollte es tun, denn er musste es vermutlich.

Es ist immer schrecklich, wenn Menschen auf so grausame Weise aus der Welt scheiden müssen. Barbara Capovani ist nicht mehr. Sie ist tot und sie kann nicht mehr mit ihrer Familie, mit uns, hier leben. 
Sie ist tot, wie viele unserer Freunde. 
Barbara Capovani ist unschuldig einem Mord zum Opfer gefallen. Ihr Mörder war ein Rächer vieler namenloser Toter. Sie ist, genau wie diese, eine Leidtragende der Unmenschlichkeit in einem gestörten System.
Im Gegensatz zu ihnen ist sie jedoch nicht, aus lauter Verzweiflung, durch ihre eigene Hand gestorben und auch nicht an Organversagen aufgrund jahrelanger falscher Behandlung mit schädlichsten Substanzen.
Dies soll ihr Opfer nicht mindern, es soll aber aufzeigen, dass die Psychiatrie in ihrer Geschichte bis heute, auf Patientenseite weit mehr Tote gefordert hat, als die Allgemeinheit wissen möchte.

Einsichtige Psychiater fordern unter anderem mehr finanzielle Mittel und Reformen für die Betreuung von Menschen mit psychischen Problemen. 

Es stimmt, die Behandlung von Menschen mit psychischen Problemen bedarf einer Reform.
Diese Reform war schon 1978 beschlossen, doch wie sie umgesetzt wurde, war bestimmt nicht im Sinne derer, die sie erdacht haben.

Tatsächlich würde sich Franco Basaglia im Grab umdrehen, wüsste er, was heute, nach fast einem halben Jahrhundert in der psychiatrischen Behandlung immer noch normal ist. Handgreiflichkeiten, Fixierung, Zwangsbehandlung, Kerker... Das sind lediglich die offensichtlichen Gewalttaten, von denen allerdings auch nur jene wissen, die außerhalb der Besuchszeiten hinter die geschlossenen Türen gelangen. Das letztendlich wirklich problematische, nämlich das, was die Patienten krank und kränker macht und manchmal tatsächlich auch umbringt, ist die arrogante, demütigende Bevormundung, häufig gewaltsame Entmündigung, die durch die "betreuende" Autorität passiert.

Das Problem ist uralt und wenn man seinen Geist auch nur ein klein wenig öffnet, wird es klar, wie ein Frühlingsmorgen.
Menschen mit psychischen Problemen sind und waren immer die Symptomträger für kollektive Störungen. Sei es im kleinsten familiären System oder auf globaler Ebene.
Die Depression, die Manie, die Schizophrenie, das Burnout, Borderline, ADHS, Suchterkrankungen, Demenzen... sie alle befallen nur die Zartesten von uns. An ihrem Schmerz können wir die Fehler unseres Denkens und Handelns ablesen. Sie sind die Kanarienvögel in der Kohlemine.

Derzeit steckt die Menschheit in der tiefsten Krise seit ihrem Bestehen auf dem Planeten Erde. Wir stehen buchstäblich am Rande unserer, selbst beschworenen Zerstörung. Wenn ein Mensch mit einer psychiatrischen Diagnose versehen wird, bedeutet dies in der Regel nichts anderes, als dass sein Körper-Psyche-System gegen diese, momentan allgegenwärtigen, Verbrechen gegen die Natur auf allen Ebenen, rebelliert. Alles ist, mehr denn je, aus dem Lot und wir alle spüren das. 
Kann nun jemand, mit welchen Symptomen auch immer, nicht oder nicht mehr alltagstauglich funktionieren, macht das den anderen Angst.
Und diese Angst ist es auch, welche derzeit nach noch mehr Isolation und Strafe für die "gefährlichen Irren" schreit.
Die Menschen verzehren sich, gerade in Krisenzeiten nach überschaubarer Sicherheit. 
Doch diese Sicherheit ist in Wahrheit nur das feige Verschließen der eigenen Augen vor der Realität.

Ja, es braucht mehr Mittel zur Hilfe von Menschen in existenziellen Krisensituationen, jedoch ist keines dieser Mittel mit Geld zu kaufen.
Was ein kranker Mensch braucht, ist in erster Linie echtes, ehrliches Mitgefühl und im besten Fall sogar Verständnis für seine oder ihre extreme Wahrnehmung der Wirklichkeit. Ist dieses Verständnis nicht gegeben, da die eigene Erfahrung dazu fehlt, dann braucht er oder sie zumindest die Akzeptanz und die Erlaubnis, diese Wahrnehmung haben zu dürfen, auch wenn sie von der Norm abweicht.
Weiters braucht der Mensch ein angemessenes, freundliches Umfeld, angenehme Räumlichkeiten, noch besser freies Sein in der Natur.
Dem Körper muss es gut gehen, denn sehr häufig sind schlicht Mangel an essenziellen Mikronährstoffen und hormonelle Störungen Auslöser für dieses Unwohlsein, welches eines Tages das Fass zum Überlaufen bringt.
Die familiären Konflikte müssen liebevolle Auflösung finden. Die Familienmitglieder müssen zusammenfinden und das Leiden ihres kranken Angehörigen als die Manifestation eines gemeinsamen Problems anerkennen.

All diese Dinge sind durch die Schulpsychiatrie in den allermeisten Fällen nicht gegeben.
Im Gegenteil, geschlossene Anstalten und Zwangsmedikation verschlimmern in der Regel die Probleme und vertiefen die bereits vorhandenen Traumata.

Ich bin sicher, dass die meisten Ärzte es gut meinen und nach bestem Wissen und Gewissen, ihrer Ausbildung gemäß handeln, obwohl ich viele Jahre sehr mit diesem Gedanken gehadert habe. Und doch werfe ich ihnen vor, dass sie ihrer Rolle als Ärzte nicht gerecht werden, wenn sie den Körpern und Seelen ihrer Patienten durch ihre Methoden zuweilen mehr Schaden als Heilung bringen.

Nicht jeder Arzt ist ein Heiler und nicht jeder Heiler ist ein Arzt. Denn, es GIBT ausgezeichnete Methoden zur Traumabewältigung aus verschiedenen Disziplinen. Es gibt zum Beispiel die, durch Psychologen entwickelte Methode des Open Dialogue, welche in Finnland angewandt wird und bei 85% der Behandelten, die meisten mit Schizophrenie diagnostiziert, totale Rekonvaleszenz herbeiführt. Mutige Vinschger Sozialarbeiter setzen sich derzeit schon für die Verbreitung dieser wunderbaren Methode ein. Aber auch aus anderen, von Schulmedizinern häufig als unwirksam weil unwissenschaftlich, abgetanen Heilmethoden gibt es vielversprechende Ansätze. Die seit Urzeiten bekannte und hilfreiche, rituelle Behandlung mit Psychedelika bei verschiedenen Störungen wird seit einer Weile klinisch erforscht.
Doch die Mühlen der Wissenschaft mahlen langsam und in der Zwischenzeit müssen viele immer noch großes Leid ertragen.

Ich möchte betonen, dass meine Anklage den Zweck der Versöhnung haben soll, denn ich glaube fest an die Menschlichkeit in uns allen.

Es möge sich die Ärzteschaft ermutigt fühlen, sich selbst als Teil des zu heilenden Systems wahrzunehmen, ihre Methoden endlich und immer wieder kritisch zu hinterfragen und sich anderen Experten und Disziplinen vorurteilsfrei zu öffnen. Im Sinne der seelischen Gesundheit aller und der Menschlichkeit in der Welt.

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Martin Tarshito Fr., 19.05.2023 - 13:33

Hut ab für diese klaren und besonnenen Worte!

Ein schwieriges Thema, zu dem sicherlich viele Menschen- ob direkt oder indirekt betroffen- etwas sagen könnten.
Und müssten.
#metoo

Allein, die Zeit scheint nicht reif zu sein.

Denn die gesellschaftlich politischen Hintergründe (bzw. Motive), die zu den teils unmenschlichen Methoden geführt haben, wie sie hier beschrieben sind, und die bis heute (hinter verschlossenen Türen) die Zeit überdauert haben (nicht von ungefähr), bleiben bestehen.

Als ich Roy Porters Medizingeschichte las, musste ich an dem Punkt aufhören, als u.a. die Psychiatrie des 20. JHs an die Reihe kam.
Darin könnte ich nichts mehr vom wohlklingenden Titel des Buches "the greatest benefit to mankind" erkennen. Es las sich wie ein Horror.

Auch ich kenne Menschen, die betroffen sind. Und mindestens eine Person, die nach jahrelanger Behandlung qualvoll gestorben ist. Ja, in all den Jahren wollte er immer wieder Mal sterben, aber nicht so.

Fr., 19.05.2023 - 13:33 Permalink
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herbert Schönegger Mi., 24.05.2023 - 09:23

Frau Pfeifer,
vielen Dank für diesen außergewöhnlich einfühlsamen Text.
Ich habe ihn öfters durchgelesen und jedesmal durchlief mich eine Welle des tiefen Mitgefühls und der Trauer.
Besonders die Formulierung, „ ..sie alle befallen nur die Zartesten von uns“, löste diese Empfindungen aus, in der für einen kurzen Moment keine Selbstverurteilung mehr möglich schien, bin ich doch sehr geprägt von der internalisierten Haltung, zu empfindlich, zu sensibel zu sein.
Auch schreiben Sie von Gefährten und nicht von“ gefährlichen Verrückten“, ohne die Taten dieser verzweifelten Menschen zu entschuldigen.
Und ja, ich denke jeder von uns kennt mindestens einen Menschen, der seine Wut und Aggression nicht gegen andere, sondern gegen sich selbst gerichtet hat.
Auch schreiben sie von Gefährten, welche jedoch in der allgemeinen Wahrnehmung als"gefährliche Verrückte" bezeichnet werden.
Nicht der Mensch ist verrückt, vielmehr hat er verrückte Situationen erlebt bzw. überlebt, als er am zartesten und verletzbarsten war.

Mi., 24.05.2023 - 09:23 Permalink
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Astrid Pfeifer Fr., 26.05.2023 - 20:53

Antwort auf von herbert Schönegger

Vielen Dank, Herr Schönegger, für das positive Feedback und das gefühlvolle Teilen Ihres Erlebens.
Mir gefällt besonders gut, wie Sie schreiben, dass das "Verrückte" etwas ist, das unabhängig von der Persönlichkeit existiert. Es kann also jedem Menschen passieren, dass er oder sie in eine Situation kommt, in der seine/ihre Reaktion für Außenstehende unpassend erscheinen mag. Das ist tatsächlich eine weitere Ungerechtigkeit, die, meiner Meinung nach, durch die Psychiatrie gerechtfertigt wird: Menschen werden aufgrund minimalster Aspekte ihres Erlebens und Verhaltens in ihrer ganzen Person verurteilt und in der Folge häufig lebenslänglich stigmatisiert und marginalisiert.
Dabei ist gerade diese Unsicherheit und der Zweifel am Alltäglichen, an den gesellschaftlichen Normen, das, was uns als lebendige Wesen an der Evolution des Bewusstseins teilhaben lässt. Was sind wir als Menschen für mangelhafte Geschöpfe, wenn unsere intrinsischsten Impulse genormt und kontrolliert werden müssen?
Sensibilität, feine Wahrnehmung, Zweifel, sie alle sind Zeichen von Gesundheit und Stärke und sollten als solche geschätzt sein.

Fr., 26.05.2023 - 20:53 Permalink
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Simonetta Lucchi Do., 25.05.2023 - 12:43

Io non credo affatto nella bontà di tutti noi. Non se ci sono madri e sorelle che soffrono senza che nessuno intervenga, lasciate sole anche da parenti e amici "per paura". Non quando vedo persone dormire all'aperto "perché tanto non vogliono farsi curare".. Non se si mettono persone evidentemente disturbate a insegnare a bambini e queste poi ammazzano i genitori. C'è qualcosa che decisamente non va.

Do., 25.05.2023 - 12:43 Permalink
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Astrid Pfeifer Fr., 26.05.2023 - 23:01

Antwort auf von Simonetta Lucchi

Sono d'accordo con Lei, c'è qualcosa che non va.
Non so, se Lei si sia mai dedicata alla pensiero sistemico, argomento teorico che si estende oramai su tutte discipline scientifiche.

Il Suo esempio della violenza in famiglia è spiegabile sia con la psicologia che con la genetica. Un genitore che nella sua infanzia ha subito delle violenze o traumi di altri tipi è più portato a trasmettere gli stessi sui propri figli (o un insegnante o persona di cura sui suoi protetti) se non è stato in grado di elaborare il vissuto a sua volta.
Si parla proprio di traumi generazionali di cui ne siamo tutti affetti, che però possono e devono essere risolti tramite le decisioni distinte di ogni singolo individuo nel distanziarsi con coraggio da modelli di comportamenti nocivi ereditati. Cordiali saluti!

Fr., 26.05.2023 - 23:01 Permalink
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Astrid Pfeifer Sa., 27.05.2023 - 00:23

Antwort auf von Simonetta Lucchi

Versione con meno errori (perdoni, ma l'italiano non è la mia prima lingua)

Sono d'accordo con Lei, c'è qualcosa che non va.
Non so se Lei si sia mai dedicata al pensiero sistemico, argomento teorico che si estende oramai su tutte le discipline scientifiche.

Il Suo esempio della violenza in famiglia è spiegabile, per esempio sia con la psicologia che con la genetica. Un genitore che nella sua infanzia ha subito delle violenze o traumi di altri tipi è più portato a trasmettere gli stessi sui propri figli (o un insegnante o figura di cura sui suoi protetti) se non è stato in grado di elaborare il vissuto a sua volta.
Si parla proprio di traumi generazionali di cui ognuno di noi è affetto. Questi traumi però possono e devono essere risolti tramite le decisioni distinte di ogni singolo individuo nel distanziarsi con coraggio da modelli di comportamenti nocivi ereditati. Cordiali saluti!

Sa., 27.05.2023 - 00:23 Permalink