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Wir waren die Tschinggeli

Nach dem 2. Weltkrieg verließen Tausende Frauen, vor allem aus dem Trentino, ihre Täler und Dörfer. Der Filmemacher Gabriel Heim ist der Sache nachgegangen.

Für den Film „Wir waren die Tschinggeli“ (NZZ) fuhr Gabriel Heim ins Trentino. Dort hat er ältere Frauen besucht, deren Namen ihm vor wenigen Jahren im Polizeiarchiv Basel aufgefallen waren. Wer waren diese Frauen?

Salto.bz: Sie erlangten vor wenigen Jahren Zugang zum Polizeiarchiv in Basel. Wonach haben Sie gesucht?
Gabriel Heim: Ich habe im eigenen biografischen Zusammenhang vor Jahren eine sehr ausgedehnte Recherche in den Polizeiakten des Kantons Basel gemacht, weil dort alle Ausländer, die in die Schweiz gekommen sind, die also hier in Basel die Grenze überschritten oder hier gearbeitet haben, dokumentiert sind. Und in diesem Zusammenhang hab ich eine sehr umfangreiche Akte gefunden die mit dem Titel Dienstmädchen überschrieben war. In dieser Dienstmädchenakte war ein ansehnlicher Teil, einer sogenannten Trentiner Aktion.
Bei der Lektüre hab ich festgestellt, dass 1946/47, Zehntausende von jungen Italienerinnen in die Schweiz gekommen sind. Viele aus dem Trentino, auch aus Südtirol. Diese wurden in der Schweiz von Arbeitgebern angeworben, unter anderem von der Migros, einem großen Lebensmittelkonzern in der Schweiz.

Was war die "Trentiner Aktion"?
Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler hatte damals die Idee, dass er neben Obst, wie Trauben, Äpfeln und Zwetschgen eigentlich auch junge Italienerinnen importieren könnte, die er dann seinen Kunden und Hausfrauen als Dienstmädchen vermittelt.
Die Schweiz war nach dem Krieg zwar in ihrer Isolation unversehrt, brauchte aber Arbeitskräfte. Duttweiler hatte als Lebensmittelimporteur  bereits gute Kontakte nach Südtirol und ins Trentino. Nach 1945 wollte er den armen Menschen helfen und gleichzeitig den Schweizern ein Bedürfnis befriedigen.

Wie wurde die Trentiner Aktion praktisch umgesetzt?
Duttweiler hat Prokuristen und einige Angestellte nach Trento geschickt und sie dort im Grand Hotel Trento einlogiert. Und er hat Flugblätter drucken lassen. Die Leute sind zu Tausenden gekommen und sagten: Voglio lavorare in Svizzera. Und so ist das ins Rollen gekommen. Damals gab es noch keine zwischenstaatlichen Verabredungen über die Auswanderung von Gastarbeitern, wie man es damals nannte. Es war eigentlich eine Initiative, die auf persönlichem Engagement basierte.
Erst 1948 wurde ein zwischenstaatlicher Vertrag gemacht, um die ganze Sache zu regulieren. Aber die erste Welle ist losgefahren, ist in die Schweiz hineingeschnappt und brachte der Migros und Duttweiler viel Prestige und den jungen Frauen zum ersten Mal Geld.

Die jungen Frauen kamen vor allem aus den Großfamilien der kleinen Dörfer, die 1945 kaum etwas zu Essen und schon gar nicht Bargeld hatten. Man schickte beispielsweise zwei Schwestern in die Schweiz, oder eine Schwester und eine Cousine…

Woher kommt die Bezeichnung dieser Frauen als Tschinggeli?
Der Tschingg war eine abschätzige Bezeichnung für die italienischen Männer in der Schweiz. Die jungen Mädchen und Frauen hat man etwas niedlicher Tschinggeli genannt. Das Wort Tschingg kommt vom italienischen Spiel Morra, von der Zahl Fünf für Cinque.

Dieses Spiel wurde in der Schweiz um 1900 bekannt, als viele italienische Bauarbeiter am Gotthard-Tunnel und später den Simplon- Tunnel gebaut haben. Die Männer saßen am Abend im Gasthaus und spielten das traditionelle Spiel. Das Tschingg, Tschingg, Tschingg-Gerufe der Männer hat sich in der Namensgebung festgesetzt.

Sie haben, knapp 7 Jahrzehnte später, noch einige „Tschinggeli“ im Trentino besucht und befragen können…
Das Interessante ist, dass man über dieses Material aus den Polizeiakten, den Weg zurück in die Geschichte findet. Ich habe Hunderte von Namen herausgeschrieben, Geburtsdaten und Geburtsorte. Über das italienische Telefonbuch, habe ich dann noch ein halbes Dutzend an lebenden Frauen, die an ihre Wohnorte zurückgekehrt sind, besuchen können. Die Frauen hatten eine sehr bildhafte Erinnerungen: An die Schweiz, die Immigration, ihre Integrationsleistung, die neue Sprache, die Anpassungsfähigkeit, aber auch die Kritik am Gastland.
Das wesentlich interessante neben der Integrationsgeschichte, ist das Bild der Schweiz, dass diese Frauen in sich getragen haben.

Die Frauen haben in Schweizer Haushalten gearbeitet, waren also teilweise ins Schweizer Familienleben eingebettet. Sie haben die Sprache schneller gelernt, weil sie mit den Familien den Alltag lebten. Während die Männer nach der Arbeit, immer in Gruppen, im Dopolavoro oder in der Osteria waren. 

Wie stehen diese Frauen heute zur Schweiz?
Keine dieser Frauen ist jemals in die Schweiz zurückgekehrt. Das war ein abgeschlossenes Kapitel. Man kriegt über ihre Erzählungen einen Eindruck von einem Land und eine Erinnerung die in der schweizerischen Öffentlichkeit vollkommen in Vergessenheit geraten ist und die in der italienischen Öffentlichkeit eigentlich nie aufgearbeitet worden ist – obwohl diese Geschichte zu einem Wohlstand und zu einer Öffnung in den Herkunftsorten beigetragen hat.
Die Frauen waren damals 19 oder 20 Jahre und emanzipierten sich von ihren Vätern und Müttern, der Democrazia Cristiana und auch von den Überbleibseln einer Erziehung die im italienischen Faschismus stattgefunden hat. Sie kamen als emanzipierte Frauen zurück.

Wir waren die Tschinggeli – Italienerinnen in der Nachkriegsschweiz | Trailer, von NZZ Format