Gesellschaft | Mehrsprachigkeit

„Sie verlieren überhaupt nichts“

Mit einer Tagung holt der Landesbeirat der Eltern das Thema Mehrsprachigkeit ein Stück mehr aus dem Defensivraum heraus.
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Foto: Landesbeirat der Eltern

Es fühlte sich ein wenig so an, als würde etwas weiter werden im bis auf den letzten Platz besetzten Tagungsraum der Eurac, als am Samstag Vormittag ein Film über die Arbeit in der Sprachenklasse an der Bunecker Grundschule Josef Bachlechner gezeigt wurde. „Sprachen beflügeln“ heißt das 2011 gestartete Pilotprojekt, das Kindern ermöglicht, bereits ab dem Schuleintritt Italienisch und Englisch zu lernen. Und tatsächlich schien die Leichtigkeit, mit der selbst Erstklässler in dem Video in drei Sprachen erzählen, singen und Verbindungen zwischen ihrer Muttersprache und Italienisch und Englisch schlagen, die sprichwörtlichen Flügel zu verleihen.  „In English it is a zebra“, sagt die Englischlehrerin in einem Gesprächskreis. „Come si chiama in italiano?, fragt die Italienischlehrerin. „Und auf Deutsch?“ „È quasi uguale“, lernen die Erstklässler.

 

Es ist ein landesweites Vorzeigeprojekt, das der Landesbeirat der Eltern in seiner Wintertagung von Schuldirektorin Elisabeth Brugger und der wissenschaftlichen Begleiterin des Projekts Oriana Primucci vorstellen ließ.  Und zugleich der Traum vieler Eltern von Schülerinnen und Schülern an deutschsprachigen Schulen im Land. Zwischen 70 und 80 Prozent der befragten Eltern hatten sich in der vieldiskutierten Umfrage des Landesbeirates vor zwei Jahren bessere Italienischkompetenzen ihrer Kinder gewünscht; ein etwas geringerer Prozentsatz war auch mit den Englischkenntnissen nicht zufrieden. Doch was ist überhaupt möglich an Mehrsprachigkeit in einem Land, in dem dem Reichtum von Sprachen seit jeher Verlustängste hinsichtlich der eigenen kulturellen Identität entgegenstehen?

„Das wirft natürlich viele Fragen auf, was das Schulsystem betrifft und zeigt Handlungsbedarf auf.“

Das Grundproblem manifestierte sich auch bei der Wintertagung des Landesbeirates bereits im Publikum des Saals. Auf der einen Seite meldete sich dort zum Beispiel ein Vater und Unternehmer zu Wort, der laut diagnostizierte, dass Schulabgänger in Südtirol auch nach mehr als zehn Jahren Italienischunterricht oft nicht einmal imstande sind, italienische Zeitungsartikel zu verstehen oder einen Brief zu schreiben – und seine Tochter in Österreich Italienisch lernen musste, um die Zweisprachigkeitsprüfung  bestehen zu können. Andererseits hatten sich auch die „Sprachschützen“ im Raum verteilt, um die alten Bremsen gegen Mehrsprachigkeit an Südtirols Schulen vorzubringen.. Wie soll eine Minderheit von 320.000 deutsch- und ladinischsprachigen Menschen gegenüber 60 Millionen Italienern bestehen, wurde da gefragt.  Wir drohen unsere Sprache und somit auch unsere Kultur zu verlieren – noch dazu, wenn aufgrund von immer mehr fremdsprachigen Kindern an deutschen Schulen teils nicht einmal mehr ein richtiger Deutschunterricht möglich sei, warnte eine Lehrerin im Publikum.

 

Dem wurden am Samstag nicht nur Evaluierungsergebnisse aus Bruneck entgegengesetzt, laut denen die Volksschüler der Sprachenklasse in allen drei Sprachen bessere Kompetenzen aufweisen als Vergleichsgruppen mit herkömmlichem Sprachunterricht. Noch weit fundierter waren die wissenschaftlichen Impulse die Mehrsprachigkeits-Expertin Ulrike Jessner-Schmid zur Tagung beisteuerte. „Sie verlieren überhaupt nichts, sie gewinnen in jeder Hinsicht“, beruhigte die Professorin an der Universität Innsbruck und Mitbegründerin der International School of Multilingualism  an der Pannonischen Universität in Ungarn. Denn aus ihrer gesamten Forschungstätigkeit, zu der auch diverse Studien in Südtirol zählen, zeige sich klar: Mehrsprachigkeit präge das Denken, mache es offener, flexibler und kreativer in der Lösungsfindung. Das geschieht laut Jessner-Schmid auch durch ein kognitives Reservoir, das sie mit der nicht sichtbaren Masse eines Eisberges verglich. Dort würden sich unabhängig von den einzelnen Sprachen Fähigkeiten und Mechanismen bilden, auf die dann sowohl beim Gebrauch oder Erlernen von Sprachen, aber auch bei sonstigen Aufgabenstellungen zurückgegriffen werden kann.  Genauer studiert hat die Universitätsprofessorin diesen Mechanismus unter anderem im Rahmen ihrer Habilitation, in der sie die Sprachlernstrategien Südtiroler Anglistikstudierenden mit zweisprachiger Ausgangsbasis dokumentierte.

 

 

 „Vielsprachigkeit ist nicht Mehrsprachigkeit“

So wie die Erkenntnisse der Mehrsprachigkeitsforschung frühere Annahmen widerlegt haben, dass Sprachen mehr oder weniger unabhängig voneinander in Containern gespeichert und abgerufen werden, sollten sich jedoch auch die Lehrmethoden ändern, legte die Universitätsprofessorin nahe. „Vielsprachigkeit ist nicht Mehrsprachigkeit“, warnte sie. In anderen Worten: Um zu Mehrsprachigkeit und ihren Vorteilen zu kommen, braucht es auch eine qualitative und professionelle Begleitung sowie viel Miteinander der Sprachlehrenden. „Im Mittelpunkt steht, mit mehreren Sprachen hantieren und sie gebrauchen zu lernen“, sagt Jessner-Schmid. „Wichtig ist den Kindern dabei auch bewusst zu machen, dass sie mit Sprache handeln, indem man zum Beispiel Vergleiche zieht.“ 

In den Sprachklassen der Grundschule Josef Bachlechner wird das sehr ernst genommen: Zwei Jahre intensiver Vorbereitung waren für das Projekt nötig. Zwei mal die Woche gibt es je eine Doppelstunde Mehrsprachigkeitsunterricht. Anfang und Ende werden in der großen Gruppe in allen drei Sprachen abgehalten; dann geht es in Kleingruppen in Rotation  in einen der drei Sprachlehrräume, die sich schon allein farblich unterscheiden. Auch auf Vokabelblättern und anderen Lehrmaterialien ist Englisch immer blau, Italienisch gelb und Deutsch rot zugeordnet. „Beim Sprachenlernen brauchen Kinder wie auch in anderen Bereichen ganz klare Strukturen“, unterstrich Direktorin Elisabeth Brugger. Der Unterricht in den drei Sprachen wird von den drei Sprach-Lehrkräften in enger Abstimmung vorbereitet, vielfach unter Begleitung von Projektleiterin Oriana Primucci.

 

Kooperation, Überzeugung, kompetente und professionelle Begleitung: All das braucht es, damit Mehrsprachigkeit tatsächlich ihre volle Kraft entfalten kann, unterstrich Ulrike Jessner-Schmid. Dass man davon beim aktuellen Zweitsprachenunterricht an Südtirols deutschsprachigen Schulen vielfach nur träumen kann, legen auch die Ergebnisse einer Studie nahe, die die Professorin gerade abgeschlossen hat.  Darin maß sie, wie viel an Sprachkenntnissen bei Oberschulabgängern ein Jahr nach der Matura verloren geht. Ein überraschendes, aber laut Jessner-Schmid signifikantes Ergebnis? Während die Sprachkenntnisse beispielsweise bei den Tirolern in allen getestesten Fremdsprachen zurückgingen, schnitten die  Südtiroler ein Jahr nach Schulabschluss sowohl bei Italienisch als auch Englisch besser ab als direkt vor der Matura. „Das wirft natürlich schon viele Fragen auf, was das Schulsystem betrifft und zeigt Handlungsbedarf auf“, meinte die Sprachwissenschaftlerin.

 Wir müssen in Südtirol endlich verstehen, dass Mehrsprachigkeit und Offenheit gegenüber anderen Sprachen nicht den Verlust von etwas anderem bedeutet“.

Doch ist dieser Handlungsspielraum gegeben – mit dem unantastbaren Artikel 19 des Autonomiestatuts und all den politisch geschürten oder auch realen Ängsten vor dem Verlust der Muttersprache? Zumindest für Bildungslandesrat Philipp Achammer gibt es auf diese Frage eine klare Antwort: Ja, den Spielraum gibt es. „Und er wird auch immer öfter genutzt“, meinte Achammer auf der Tagung. Schließlich sei es seit einem Beschluss der Landesregierung vom 8. Juli 2013 nicht nur möglich, CLIL-Projekte in der Oberschule durchzuführen. Auch in Volks- und Mittelschulen sei der Fachunterricht der Zweit- oder Drittsprache bereits in Form von Projekten erlaubt. Nun liege es also an den einzelnen Schulen, diesen Spielraum auszunutzen. Wesentlich dafür ist laut dem Bildungslandesrat jedoch noch eine weitere Voraussetzung: Wir müssen in Südtirol endlich verstehen, dass Mehrsprachigkeit und Offenheit gegenüber anderen Sprachen nicht den Verlust von etwas anderem bedeutet“. Denn die Bemühungen um und die Bedeutung des muttersprachlichen Unterrichts bleiben laut Achammer dennoch zentral. Um jedoch endlich einen Qualitätssprung in der Zweitsprache machen zu können, brauche es allem voran Bewusstseinsarbeit. „Alle Erhebungen in Südtirol haben bisher gezeigt, dass neben der Qualität des Unterrichts vor allem ein Faktor für die Italienisch-Kompetenzen ausschlaggebend ist: die Offenheit und Einstellung gegenüber der Sprache.“ Wir müssen von der extrinsischen zur intrinsischen Motivation, meinte der Bildungslandesrat. In anderen Worten: Nicht für die Zweisprachigkeitsprüfung Italienisch lernen, sondern weil es sinnvoll für das eigene Leben ist und Spaß macht.

Die besten Voraussetzungen dafür signalisierten bei der Eurac-Tagung auch die Vertretung der SchülerInnen selbst. Sprache ist ein Instrument, um im weiteren Leben als mündige BürgerInnen am gesellschaftlichen Leben in einem multilingualen Umfeld teilnehmen zu können, signalisierten die Vorsitzende des Landesbeirates der Schüler Jasmin Roimi und ihr Vize Max Ebensberger. Und trafen damit genau die Motivation hinter der Tagung des Landesbeirates der Eltern. Dort will man das Thema Mehrsprachigkeit laut Vorsitzender Sabine Fischer nicht zuletzt mit der aktuellen Tagung wissenschaftlich, praktisch und auch in anderen gesellschaftlichen Kontexten beleuchten: „Wichtig ist uns endlich von einer politischen hin zu einer inhaltlichen Diskussion zu kommen - im Interessen unserer Kinder und Jugendlichen und deren Zukunftschancen.“

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pérvasion Mo., 20.02.2017 - 09:29

Soweit ich das nachvollziehen kann, wurde wieder einmal nur auf die individuelle Ebene Bezug genommen und der gesamtgesellschaftliche Aspekt ignoriert. Schade.

Mo., 20.02.2017 - 09:29 Permalink
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Christoph Moar Mo., 20.02.2017 - 17:08

Antwort auf von Waltraud Astner

Die Eltern können ihr Kind freiwillig in eine auf Sprachen spezialisierte Klasse einschreiben, in der dann Kinder zusätzlich zu den normalen Unterrichtsstunden fünf Stunden pro Woche Deutsch, Italienisch und Englisch lernen. Ausgehend von Deutsch wird ein dynamisches Konzept der Mehrsprachigkeit gefördert - letztlich haben die Kids dadurch glatt mehr Deutschstunden als ohne.
http://www.schule.suedtirol.it/gs-bk/ganztag.htm

Mo., 20.02.2017 - 17:08 Permalink
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Waltraud Astner Mo., 20.02.2017 - 19:22

Danke für die Info. Interessantes Modell. Alles klar.Dass es sich um eine Ganztagsschule handelt war aus dem Beitrag nicht zu ersehen.

Mo., 20.02.2017 - 19:22 Permalink
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Martin B. Mo., 20.02.2017 - 21:15

„Sie verlieren überhaupt nichts“ wenn sich die Kinder dann ab 14 Jahren entscheiden dürfen ob sie in (eine) Sprache(n) eintauchen wollen. Nicht jeder mag Sprachen und jene die wollen lernen Sprachen auch weit nach 20 noch mehr als ausreichend für private und berufliche Kommunikation. Kein Interesse (hängt weder von Lehrern noch Immersionsmodellen ab) ist wohl ein Grund warum die Mehrheit ganzer Generationen nach x Jahren Pflichtschule Zweit- und Drittsprache nur radebrechen kann. CLIL und solche Brechstangen-Gesetze werden an der Sprachen-Zweiklassengesellschaft nicht viel ändern.

Mo., 20.02.2017 - 21:15 Permalink