Politik | Autonomie

Trentiner Inspiration

Hoher Besuch im Geburtsort von Alcide De Gasperi. Am Donnerstag Abend hielt Staatspräsident Sergio Mattarella in Pieve Tesino die lectio degasperiana.

Erst die Arbeit, dann das Vergnügen, lautet eine bekannte Redewendung. Bei seinem Aufenthalt in unserer Region hat Staatspräsident Sergio Mattarella die Reihenfolge des Sprichworts umgekehrt. Zunächst weilte Mattarella auf Urlaub im Grödnertal. Bis nach Ferragosto spannte der 75-Jährige in Wolkenstein aus bevor er wieder in seine institutionelle Rolle schlüpfte. Seine Verpflichtungen als Staatsmann führten Mattarella am gestrigen Donnerstag in die Nachbarprovinz Trient. Im Geburtsort des Trentiner Autonomisten Alcide De Gasperi, Pieve Tesino, wurde Mattarella am 18. August feierlich empfangen. Rund 900 Menschen hatten sich im kleinen Ort in den Trentiner Bergen, der nur etwa 20 Kilometer Luftlinie von Südtirol entfernt liegt, versammelt, um dem Staatspräsidenten zu lauschen. Das republikanische Italien, die Europäische Union, ihre Geschichte und Zukunft sowie die Autonomie der Region, in der er zu Gast war – all diese Themen schnitt Sergio Matteralla an, als er im Mehrzwecksaal von Pieve Tesino die lectio degasperiana hielt.

Der Trentiner Landeshauptmann Ugo Rossi heißt Sergio Mattarella in Pieve Tesino willkommen. Foto: Provincia Autonoma di Trento

Jahr für Jahr organisiert die Stiftung Alcide De Gasperi rund um den Todestag des Trentiner Staatsmannes am 19. August eine öffentliche Veranstaltung, um De Gasperis Denken und Schaffen zu gedenken und zu würdigen. Jedes Jahr legt die Stiftung einen anderen Schwerpunkt, entsprechend werden die Festredner ausgewählt. Seinen Vortrag stellte Sergio Mattarella am Donnerstag Abend unter den Titel “70 anni di una Repubblica europea – La visione e il coraggio di Alcide De Gasperi”. Rund eine halbe Stunde dauerte die Rede des Staatspräsidenten, die mit Spannung in und vor dem Saal verfolgt wurde.


Würdigung für einen Visionär

Mattarella erinnerte Alcide De Gasperi als politischen Vordenker im Italien der Nachkriegszeit, als “einen der Väter der Europäischen Union”, der die Zeichen der Zeit stets habe zu deuten wissen und auch heute noch als Vorbild gelte. “La politica non era per lui una passione solitaria, ma un'alta e generosa professione di servizio alla comunità. Qualsiasi fosse la sua dimensione e la sua consistenza – la minoranza italiana ai confini dell'Impero, le vaste popolazioni del Regno d'Italia o il popolo di cittadini di una nuova Repubblica europea –, De Gasperi sapeva come rappresentare l'autentico spirito del popolo.

Sudtirolesi, altoatesini, ladini e trentini sanno di dovere vivere la loro autonomia come esempio di responsabilità.

Als einer der Gründerväter der Europäischen Gemeinschaften habe De Gasperi den Traum von einem föderalen Europa gelebt – ein Ziel, von dem “wir heute noch weit entfernt sind”, so Mattarella, das aber historisch gesehen das einzig gültige gewesen sei und immer noch ist: “A sfide sempre più globali occorrono risposte politiche europee, concordate a tutti i livelli. Sia il terrorismo, siano le crisi finanziarie, sia il tema delle migrazioni, nessun Paese è in grado di affrontarle da solo, soprattutto in Europa.


Anerkennung für die Autonomie

Dann ging der Staatspräsident auf ein Thema ein, das vor dem Hintergrund des Lebens und Schaffens von Alcide De Gasperi und angesichts der einleitenden Worte nicht fehlen durfte: “Anche l'autonomia del Trentino e dell'Alto Adige-Sud Tirol va letta in modo propositivo e nello spirito dell'unità nazionale ed europea.” Mit diesen Worten leitete Mattarella zu einem Gedankengang über, der ihn schließlich zu einem eindringlichen Appell führte: “Tutti abbiamo il dovere di guardare al suo insegnamento, e al suo coraggio, per trarne ispirazione di fronte ai problemi attuali, difficili ma certamente non di più di quelli che De Gasperi, nel suo tempo, ebbe il compito di affrontare.

Die Schwierigkeiten, von denen Mattarella sprach, seien jene eines Territoriums gewesen, das sich nach Kriegen und Konflikten mit neuen Grenzen konfrontiert sah und sich allein gelassen fühlte: “De Gasperi era un trentino che aveva vissuto con la sua gente il disagio di essere troppo lontani da tutto, da Vienna e da Roma.” Eine Tatsache, die den Trentiner nicht davon abgehalten habe, seiner Heimat eine “beispielhafte Erfahrung” im Hinblick auf die Autonomie zu bescheren. Denn, so Mattarella, De Gasperi sei “einer der wenigen gewesen, für die die Grenzen, auch jene natürlichen, nicht ausreichten, um das Zusammenleben und den Frieden zu sichern”.


Appell für die Zukunft

Das Ergebnis dieses Bewusstseins, gepaart mit der “Weitsichtigkeit De Gasperis und des österreichischen Außenministers Karl Gruber” wird heuer 70 Jahre alt: Am 5. September 1946 wurde in Paris das Gruber-De Gasperi-Abkommen, auch Pariser Vertrag genannt, unterzeichnet. Ein Dokument, mit dem nicht nur Rechte, sondern auch Verantwortung und Pflichten einhergehen, so Mattarella: “L'autonomia non è un fatto contabile o uno scudo contro presunte invasioni di campo. E' un investimento in positivo che richiede l'impegno di tutte le istituzioni, da una parte e dall'altra. Non è un privilegio immeritato, ma certo impone un supplemento di responsabilità. Sudtirolesi, altoatesini, ladini e trentini sanno di dovere vivere la loro autonomia come esempio di responsabilità, d'intelligenza non localistica e anche d'innovazione politica, come qualcosa che non riguarda soltanto i loro interessi materiali.

A sfide sempre più globali occorrono risposte politiche europee, concordate a tutti i livelli.

Doch nicht nur auf lokaler, sondern auch auf europäischer Ebene, gelte es, eine gemeinsame Erinnerung am Leben zu halten. Andernfalls, so Mattarella gegen Ende seiner Rede, sei es nicht möglich, den politischen Wert einer Union zu erfassen, die weit über partikulare und unbedeutende Einzelinteressen hinausgehe. “Seiner authentischen Ambitionen beraubt, kann Europa nicht existieren”, warnte der Staatspräsident. Und um das zu verhindern, brauche es Menschen wie Alcide De Gasperi: “Non sono le banche o le transazioni commerciali che hanno determinato l'Unione europea, ma uomini politici e parlamenti lungimiranti: non sono le crisi finanziarie che potranno distruggerla, ma soltanto la nostra miopia nel non riconoscere il bene comune.


Die vollständige lectio degasperiana von Sergio Mattarella in Originalform gibt es hier nachzulesen.