Kultur | Salto Afternoon

Ronnys Ratte

Regisseur Ronny Trocker feiert (wie auch David Lynch) heute seinen Geburtstag. Ende Jänner feiert sein neuer Film Weltpremiere. Ein feierliches Gespräch.
Der menschliche Faktor
Foto: Andrea Kueppers

salto.bz: Alles Gute! Sie feiern heute Ihren Geburtstag. Ihr neuer Film „Der menschliche Faktor“ kommt in ein paar Tagen, am 29. Jänner, zur Welt beim legendären amerikanischen Sundance Film Festival, als Weltpremiere. Es gibt also allerhand zu feiern…

Ronny Trocker: Meinen Geburtstag feiere ich eigentlich nie so besonders. Man wird ja auch nicht jünger. Zudem muss ich – den Umständen entsprechend – virtuell feiern. Auch die Premiere beim Sundance Film Festival wird virtuell ablaufen. Das ist natürlich schade, dass alle die beim Film beteiligt waren, sich den Film nicht gemeinsam im Kino ansehen können. Wir werden virtuell anstoßen und die Premiere über virtuelle Meetings miterleben. Wie man in diesen Zeiten eben feiert…

Ein Film wirft Fragen auf, er soll aber nicht alles beantworten, sondern Reibungspunkte erzeugen.

Die Covid-Einschränkungen ermöglichen es, dass sich die virtuelle Premiere von „Der menschliche Faktor“ bis zu 5000 Menschen ansehen können. Das wäre bei einer gewöhnlichen Filmpremiere gar nicht denkbar...

Das stimmt. Die aktuelle Situation eröffnet neue Möglichkeiten. Man erreicht zudem auch neue Publikumsschichten, welche bei normalem Festivalbetrieb gar nicht die Möglichkeit haben zum Festival zu fahren. 

Die 5000 Tickets für die Weltpremiere sind auf das US-Territorium beschränkt. Warum?

Das hängt damit zusammen, dass bestimmte Festivals in Europa sich die Europa-Premiere sichern wollen. Das ist Festivalpolitik, da geht es um Exklusivrechte, Strategien die die Weltvertriebe ausarbeiten, wo wir Filmemacher wenig Mitspracherecht haben. 


Sie hatten die Idee zum Film, haben das Drehbuch geschrieben und die Regie gemacht. Wie lange haben Sie an dieser Koproduktion (Deutschland/Italien/Dänemark) gearbeitet?

Seit dem Jahr 2017. Zunächst gab es ein erstes Treatment, dann folgte auf die Drehbuchförderung der Schreibprozess. Die letzten Drehs haben wir im Dezember 2019 absolviert. Durch die Pandemie hat sich dann alles verschoben und die technische Abnahme war erst im Dezember 2020.

Ihr bereits sehr erfolgreicher Film „Die Einsiedler“ spielt zwischen Berg und Tal, der neue Film zwischen Stadt und Meer. Sie lieben den starken geografischen Kontrast?

Bei diesem Film war die Grundidee, die belgische Küste mit ihrer besonderen Atmosphäre einzufangen. Hier gibt es dieses spezielle Licht, das bereits durch die flämische Landschaftsmalerei bekannt wurde. Dieses Lichtspiel hat auch mich fasziniert. Erst beim Schreiben ist als Kontrast die Stadtatmosphäre dazugekommen. Das mach ich aber nicht bewusst, das ergibt sich beim Drehbuchschreiben. 

Meet the Artist: Ronny Trocker on HUMAN FACTORS / Quelle: Sundance Film Festival

 

Der Film hatte ursprünglich den Arbeitstitel „Zorro“. Weshalb heißt der Film nun „Der menschliche Faktor“?

Zorro deshalb, da einer der Protagonisten Zorro heißt. Es ist eine Ratte und sie ist das Haustier der Filmfamilie. Mir hat dieser Titel sehr gut gefallen, da er eine falsche Spur vorgibt. Kurz vor der Fertigstellung kamen aber Copyright-Bedenken auf. So haben wir dem Film einen neuen Titel gegeben. Das war auch nicht einfach und ist vergleichbar mit der Namensgebung bei einem Kind, dass man auch nicht nach ein paar Jahren einfach umbenennt. Wir haben es dennoch gemacht.

Welche Rolle spielt die Ratte?

Ich wollte im Film von Anfang an „eine perfekte Familie“ zeigen, also erfolgreiche Eltern, zwei schlaue Kinder: alles ist super, die Fassade ist toll, alles scheint konfliktfrei. Der Film blickt dann durch den Perspektivenwechsel in der Erzählung hinter die Fassade, die Familie wird demaskiert – deshalb auch Zorro
Hauptdarsteller sind die vier Mitglieder der Familie. Hinzu kommt die Ratte als fünftes Mitglied. Dadurch ergeben sich über die jeweiligen Hauptfiguren verschiedene Zugänge. Unter anderem über die Ratte.

 

Sie locken die Zuschauer in eine Schleife. Der Regisseur als Rattenfänger?

Wir sind alle formatiert von Genres und Erzählungen. Wir schauen Filme und suchen nach Indizien, wie der Film gelesen werden soll. Ich persönlich versuche beim Drehbuchschreiben genau damit zu spielen, indem ich Erwartungshaltungen aufbaue, sie aber gleichzeitig in Frage stelle. Ich finde es total langweilig, wenn man bei einem Film nach den ersten zehn Minuten bereits ahnt, welchen Weg der Film aufnimmt. Das ist nicht nur bei Blockbustern so, auch bei vielen Autorenfilmen. Häufig folgt das Drehbuch eben einem vorgefertigten Schema. Ich finde es aber spannender, ein Gefühl entstehen zu lassen, dass sich der Film in alle Richtungen weiterziehen kann. 

Ihr Film zeigt Wahrheit und Wahrnehmung in verschiedensten Facetten. Hat er auch eine politische Dimension? 

Die Familiengeschichte ist eingebettet in einen zeitgenössischen Kontext, der auf den Mikrokosmos der Familie heruntergebrochen wird – etwa durch die Werbeagentur der Eltern, die damit konfrontiert werden, ob sie einen Auftrag einer politischen Partei annehmen. Dadurch wird im Subtext die Frage gestellt, wie viel Konflikte – die außerhalb von uns stattfinden – auch ins Private hineinwirken. 
Auch wenn sich der Film nicht um soziale Medien dreht, hat er mit der Multiplikation von Perspektiven im gegenwärtigen öffentlichen Diskus durchaus zu tun. Wir leben in einer speziellen Zeit, wo jeder über facebook und twitter seine Meinung sagen kann. Aber alles aufzunehmen, zu analysieren und zu verarbeiten ist unmöglich. Ich bin da beispielsweise total überfordert und muss mich teilweise auch ausklinken. 
Der Film versucht dieses Phänomen im Mikrokosmos Familie darzustellen. Paradox dabei ist, dass die Eltern, als professionelle Kommunikatoren, im Privatleben Kommunikation nicht schaffen.

Soziale Medien haben eine große Macht. Ist Ihr Film mächtiger, indem er das scheinbare Idyll entmachtet?

Das weiß ich nicht. Für mich ist eine Kinoerfahrung auf jeden Fall wertvoller als zwei Stunden auf facebook. Ein Film kann einem nahe gehen, nach dem Ende weiterwirken, er kann dich immer begleiten. Ein Film wirft Fragen auf, er soll aber nicht alles beantworten, sondern Reibungspunkte erzeugen.

Ich habe dort zwar das Filmemachen gelernt, vor allem aber das Filmeschauen.

Sie lassen auch nicht nur eine Sprache sprechen. Haben Sie eine Vorliebe für Mehrsprachigkeit?

Im Film wird Französisch und Deutsch gesprochen, so wie es auch in meiner Familie der Fall ist. Was mich aber interessiert ist, dass Sprache auch eine Quelle für Missverständnisse sein kann. Und ich versuche auch zu zeigen, dass Sprachen – je nach Gemütszustand – gewechselt werden. Sprache hat eben einen Inklusions- und Exklusionsfaktor. 

„Der menschliche Faktor“ feiert in Nordamerika seine Weltpremiere, in Südamerika haben Sie vor Jahren Ihre Ausbildung absolviert. Wie hat Sie Argentinien cineastisch geprägt?

Ich bin damals eigentlich nicht nach Argentinien gegangen, um Filmregisseur zu werden. Ich habe dort zwar das Filmemachen gelernt, vor allem aber das Filmeschauen. In Argentinien habe ich erstmals Independent-Filmfestivals besucht, habe mir fünf oder sechs Filme am Tag angesehen, zwei Wochen lang. 
Der Argentinische Film ist kreativ und lebt vor allem durch seinen hohen künstlerischen Output. Das hat sicher einen Einfluss gehabt auf die Art, wie ich Filme mache.

Wann wird "Der menschliche Faktor" in Europa zu sehen sein?

Das kann ich nicht sagen, da die derzeitige Lage einfach unsicher ist. Man weiß eigentlich gar nichts. Ob Festivals stattfinden? Wie sie stattfinden? Ich hoffe aber, dass der Film, nachdem er nun vorgestellt wird, bald sein unabhängiges Leben beginnen kann.