Gesellschaft | gefahr von rechts

Durch Apfelwiesen gejagt

Gewalt durch und Widerstand gegen Rechtsextremismus: Das Projekt “Springerstiefel und Lederhosen” greift subjektive Perspektiven auf, um eine breite Diskussion anzustoßen
springerstiefel
Foto: upi

Springerstiefel… mit weißen Schnürsenkeln

Bomberjacke

Glatze

 

An der äußeren Erscheinung waren sie zu erkennen. Und an der Musik.

 

Kaiserjäger

Böse Onkelz

Landser

Frei.Wild

Zillertaler Türkenjäger

Gigi & Die Braunen Stadtmusikanten

 

Sie waren immer in Gruppen unterwegs.

 

Wir wurden von 20 bis 30 Menschen verfolgt

Meine Kollegen wurden nachts von ihnen durch die Apfelwiesen gejagt

Bei einem Schützenball haben sie sich hinter den Schützen versteckt

 

Und bewaffnet.

 

Stöcke

Ketten

Schlagringe

Auch Messer

 

Keine jugendliche Spinner(eien), sondern lupenreine Neonazis, meist durch Ältere rekrutiert, ideologisiert und radikalisiert, gewaltbereit. Zu Beginn der 2000er Jahre ist das Burggrafenamt kein sicherer Ort für die Menschen, die im Rahmen von “Springerstiefel und Lederhosen” über ihre Erfahrungen mit rechtsextremer Gewalt berichten: Punks, Skinheads, Skater, Hippies – Feindbilder, die es zu bekämpfen gilt. Wegen ihrer äußeren Erscheinung, ihrer Lebensweise, ihren Einstellungen. Mit Beschimpfungen – Walsche, Juden, Linke –, Parolen – Südtirol bleibt deutsch! – und Gesten: der Hitlergruß. Mit Schlägen, Tritten.

 

Alexander Indra und Mara Stirner waren damals selbst Jugendliche, in der subkulturellen Punk- und Skinheadszene unterwegs. Heute leben beide in Berlin. Indra arbeitet als Designer und Fotograf. Stirner engagiert sich für antifaschistische, feministische Initiativen. Gemeinsam haben die beiden “Springerstiefel und Lederhosen” realisiert – eines der drei Siegerprojekte der 5. Ausgabe des WS Call, mit dem der Verein Weigh Station kulturelle und kreative Initiativen fördern will.

“Die Springerstiefel stehen für den militanten Charakter der Neonazi-Szene. Die Lederhosen als folkloristisch-romantisches Element für die Mitschuld des kulturellen und gesellschaftlichen Umfelds an rechtem Denken.” Dieses Umfeld, den Nährboden der rechtsextremistischen Auswüchse in Südtirol, die von 2005 bis 2008 ihren Höhepunkt erreichten, thematisiert “Springerstiefel und Lederhosen” genauso wie den Widerstand dagegen. Anhand von sieben Interviews, die eine sehr subjektive Perspektive auf das Phänomen werfen, in vier Kapitel gegliedert sind – “Gewalt”, “Strukturen”, “Hintergründe”, “Subkultur & Widerstand” – und als Denk- und Diskussionsanstoß dienen sollen.

 

Zwischen 2005 und 2008 finden im Meraner Raum mehrere groß angelegte behördliche Zugriffe auf die deutschsprachige Neonazi-Szene statt: Festnahmen und Hausdurchsuchungen, die 2008 in der Operation “Odessa” gipfeln. Später wird bekannt, dass Südtiroler Neonazis Kontakt nach Deutschland hatten, ins NSU-Milieu. 2009 taucht die “Naturnser Hitlerjugend” auf. Auf dem – inzwischen im Netz nicht mehr auffindbaren – Blog “Etschlichter” werden südtirolspezifische Themen mit faschistischer Ideologie angereichert.

 

Überall lauerte latent Gefahr, berichtet einer der sieben Interviewten, die allesamt anonym bleiben. Beim Gang durch Meran war der Blick über die Schulter ständiger Begleiter. Gewisse Zonen und Lokale – im Meraner Stadtzentrum, in Lana, in Naturns mied man besser. Auf die rechtsextreme Bedrohung reagierte man mit Musik, Aufklärungsaktionen – Infostände, Flyer, Büchervorstellungen –, Information, Öffentlichkeitsarbeit und ja, auch Gewalt, geht aus den Interviews hervor. Eine wichtige Etappe im Widerstand ist die Gründung der Antifaschistischen Aktion Meran, kurz Antifa. Das war 2006.

Wie ausgeprägt ist heute noch den Drang, rechtsextremes Gedankengut zu bekämpfen? Die Frage stellt die Anthropologin und Kulturarbeiterin Sarah Trevisiol, die mit Indra und Stirner den Abend gestaltet. Subkulturelle Phänomene wie Punks und Skinheads hätten in den vergangenen 10, 15 Jahren generell abgenommen, sagt Stirner, “das Bedürfnis, sich abzugrenzen ist kleiner geworden”. Zugleich habe eine “Mainstreamisierung” von rechts stattgefunden, eine “Normalisierung radikaler Lebensweisen und Ideen”. “Rechtsextremismus ist nicht mehr so erkenntlich, die Neue Rechte bedient sich einer ganz anderen Ästhetik, ist salonfähig geworden, subtiler. Und daher umso gefährlicher”, meint Indra.

 

“Springerstiefel und Lederhosen” zeigt auch Relikte aus der Zeit, in der die damaligen links eingestellten Jugendlichen Gewalt aus dem rechten Eck erfuhren.

 

ein T-Shirt mit durchgestrichenem Hakenkreuz

ein blutunterlaufenes, verarztetes Auge

ein poetischer Text: “Arschloch”

ein abgeschnittener und eingerahmter Irokesenschnitt

 

Bei der Präsentation des Projekts am Montag Abend wurden nur Einblicke in die Dokumentationsarbeit gewährt. Die vollständige Recherche wird Anfang kommenden Jahres – voraussichtlich im Februar 2023 – im Rahmen einer Ausstellung im Ost West Club in Meran gezeigt. Auch ein Online-Dossier ist geplant, in dem die multimedialen Inhalte zur Verfügung gestellt werden.

 

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Walter Pichler Mi., 21.12.2022 - 18:11

Bravo fürs Hin- und nicht Wegschauen auf unsere braunen Flecken. Man kann auf die Ausstellung und das Online-Dossier gespannt sein. Was wurde eigentlich aus den Neonazis von damals? Hat sich alles "ausgewachsen" mit der Zeit?

Mi., 21.12.2022 - 18:11 Permalink