Politik | Nonstaler "Ladiner"

Die Rekonstruktion einer Sprachgruppe

Wird das Nonstal wieder ladinisch? Diesen Eindruck gewinnt man angesichts der Selbsterklärungen der „nónesi“ 2012.
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Waren es im Nonstal 2011 noch 18,8% offiziell erklärte Ladiner gewesen, so stieg deren Anteil 2012 auf 23%. Von einem Jahr aufs andere erlebte das Nonstal einen Zuwachs von 1.928 Ladinern. Bei der Volkszählung 2011 zählte man im Trentino insgesamt 18.550 Ladiner. Während sich im Fassatal 81,54% der Bevölkerung als Ladiner erklärten, sind es im Nonstal zwar erst 23%, doch leben jetzt zahlenmäßig schon mehr Ladiner im Nons- und Sole-Tal als im Fassatal. Einige Ortschaften wie Romallo im oberen Nonstal sind schon zur Hälfte „ladinisch“ geworden, zahlreiche Gemeinden am Noce zu einem Drittel. Wie geht eine solche Metamorphose zum Rätoromanischen vor sich? Stehen die Nónesi eines Morgens auf und merken, dass sie Ladinisch sprechen? Bekanntlich wird ethnisch-kulturelle Identität sozial konstruiert: ist sie in diesem Fall auch etwas politisch konstruiert worden?

Eigentlich sind rätoromanischen Idiome im Nonstal (anaunico) und im Sole-Tal (solandro) dort schon gegen Ende des 17. Jahrhunderts völlig trentinisiert worden. WIKIPEDIA klassifiziert das Nones als romanischen Dialekt. Linguisten sind sich aber nicht einig, ob das Nonstalerische eine Variante des Ladinischen, ein italienischer Dialekt oder eine eigene Sprache ist. „Das ‚reine‘ Nones weist lexikalisch und grammatikalische Gemeinsamkeiten mit dem Rätoromanischen, dem Dolomiten-Ladinischen und dem Rumantsch als auch mit Trentiner Dialekten auf,“ sagt der Ladinerexperte Erwin Valentini, „kaum zu bezweifeln, dass das moderne Nones inzwischen so stark mit Italianismen versetzt ist, dass es eher dem Italienischen zuzuordnen ist. Dies gilt mehr oder weniger für alle Mundarten der sog. ‚anfizona ladina‘ wie das Fleimstal, Agordo und Cadore in der Provinz Belluno.“ Sehr skeptisch zu dieser Sprach-Renaissance sind auch die Fassa-Ladiner. Das dortige Ladinische Kulturinstitut hat wissenschaftliche Untersuchungen zum Nonstaler Dialekt angemahnt und sich für nicht zuständig für die dortige Sprachentwicklung erklärt. Es mahnt außerdem zu größter Vorsicht bei Ausmaß und Motivation der Sprachgruppenerklärungen der Nonstaler und verweist darauf, dass sich die meisten Nonstaler bisher nie als Ladiner betrachtet hätten.

Darauf folgte schon vor Jahren ein erregter Disput zwischen den offiziellen Ladiner-Vertretern und den „Neo-Ladinern“ des Nonstals mit ihrer Vorkämpferin Caterina Dominici, der Präsidentin des Kulturvereins Rezia, der die Rekonstruktion der rätoromanischen Sprachgruppe betreibt. Dominici erklärte dem „Trentino“ am 8.7.2004: „Wir sind Ladiner mehr alle anderen, unwiderlegbar, und zwar schon kraft einer Anerkennung vom Jahr 46 n.C. durch Kaiser Claudius, nämlich die Tavola Clesiana. Niemand vom Friaul bis zum Engadin kann das vorweisen.“ Fabio Chiocchetti, Direktor des Kulturinstituts der Fassa-Ladiner entgegnete damals: „Welch eine Absurdität mit der Tavola Clesiana seine Ladinität beweisen zu wollen. Diese gewährte den Nonstalern die römische Staatsbürgerschaft, die ladinische Sprache entstand erst 1000 Jahre später.“

So betrachten die Fassa-Ladiner die auch politisch motivierte Rekonstruktion der Nonstaler „Ladiner“ mit Argwohn. Die Anerkennung einer stark trentinisierten Variante des Ladinischen könnte leicht zur Verwässerung des gesamten Sprachminderheitenbegriffs führen. Eine ähnliche Auseinandersetzung spielt sich derzeit auch in der Provinz Belluno zwischen den historischen Ladinern im Fodom (Buchenstein) und den Neo-Ladinern im Agordo und Cadore-Gbeiet ab. Einen sprachlichen Schulterschluss zwischen Dolomitenladinern und Nonstalern wird es also so schnell nicht geben.

Warum nehmen sich überhaupt so viele Nonstaler als eigene ladinische Sprachgruppe wahr, die seit 1945 60 Jahre lang nichts dergleichen vermeldet hatten? Werden sie künftig so eifrige Sprachpflege betreiben wie die Dolomitenladiner und Ladinisch als Schulfach einführen? Als Sprachminderheit anerkannt zu werden, wird jedenfalls sowohl für eine soziale Gruppe wie auch für ihre Provinz zunehmend politisch interessant. „Nach der rechtlichen Anerkennung der Ladiner in der Region Trentino-Südtirol“, schreibt der Sprachwissenschaftler Paul Videsott im Manuale di linguistica italiana, „ hat sich die ‚neoladinische Frage‘ in zahlreichen Gemeinden der Provinz Belluno aufgetan, die sich im Zug des Gesetzes Nr.482/1999 als ladinisch erklärt haben.“

Es wird anscheinend politisch und wirtschaftlich interessanter, eine Sprachminderheit zu sein, so sind auch im Trentino die Dinge in Fluss gekommen. Vielleicht verhilft diese Rekonstruktion einer Sprachgruppe dem Trentino zu besseren Argumenten, um seine Autonomie gegenüber Rom zu verteidigen. Das könnte wieder Südtirol recht sein. Andererseits könnten sich bald auch die Vinschger, Pustrer, Sarner und Pseirer melden, um zur „Sprachminderheit“ zu avancieren.