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Manifest der Regenwürmer

Das Projekt der Künstlerin und Designerin Merve Bektaş war im Rahmen von Science Live mit der "Ausstellung Glocal Worm-ing" erneut zu erleben. Ein Gastbeitrag.
Glocal Worm-ing, im Bild ist ein Teil der Ausstellung sowie eine Besucherin zu sehen
Foto: Georg Zeller
  • “Wann hast Du mich das letzte mal bemerkt? Hast Du überhaupt schon mal Kenntnis von mir genommen?” fragen die Regenwürmer im von der Bozner Künstlerin und Designerin Merve Bektaş in Zusammenarbeit mit ihnen formulierten Regenwurm-Manifest. Und so wird der Blick der Ausstellungs-Besuchenden kontinuierlich hinab auf das gelenkt, was zwar physisch unter uns Menschen liegt, aber hier als ebenbürtiger, ja unersetzlicher Partner vermittelt wird: der Boden und seine wichtigsten Bewohner. 

  • Bereits der Titel des Projekts ist inhaltlich ebenso reichhaltig wie die dazugehörige Ausstellung, die zuletzt in neuem und noch klarer strukturierten Aufbau im Rahmen von “Science Live” an der Freien Universität Bozen zu erleben war. “Globale” Problemstellungen vielerorts “lokal” anzugehen wird mit “Glocal Worm-ing” ebenso suggeriert, wie “Worming”, also das “Würmern”, als wahrhaftiges Antidot zum “Warming”, sprich der Erderwärmung mit ihren mittlerweile unzweifelhaft spürbaren Folgen.

  • Foto: Georg Zeller
  • Wer den Ausstellungsraum betritt, wird zunächst von einer weiten Fläche duftender Erde in dessen Zentrum in den Bann gezogen. Es handelt sich um Erde, die von Regenwürmern in ihrer wichtigen Aufgabe der Transformation und zahlreichen Arbeitsprozessen zu nährstoffreichem, lebenden Boden revitalisiert wurde. Man würde es den kleinen, auf den ersten Blick unscheinbaren, Wesen kaum zutrauen, doch haben diese Wurmarten ein breites Spektrum an Fähigkeiten, das zu retten, was im Zuge von “Kapitalismus, Kolonialismus und Patriarchat misshandelt und ausgelaugt wurde”, wie es Bektaş und die Regenwürmer im Manifest festhalten. Fruchtbare Böden werden tagtäglich weltweit immer weniger, während “die Erde selbst mit Mikroplastik, chemischen Dünge- und Pflanzenschutzmitteln verseucht und auf ihr von Menschen Missbrauch, Gewalt und Unterdrückung ausgeübt werden”.  

    Erde ist demnach Teil der Regenwürmer, sie selbst sind Erde. Als solche belüften sie den Boden, machen ihn aufnahmefähig für Wasser und Nährstoffe, bringen selbst Nährstoffe ein und mindern damit die Folgen des Klimawandels mit ihren negativen Auswirkungen auf die Bodenqualität. Aktuelle Forschungen bescheinigen den Regenwürmern zusätzlich ihren konkreten Beitrag dadurch, dass sie Böden für bestimmte Mikroben und Bakterien optimal aufbereiten, die wiederum die Speicherkapazitäten von Kohlenstoff in der Erde erhöhen und damit der Erderwärmung entgegen steuern. 

    Der Nicodrilus nocturnus oder Schwarzkopfregenwurm ist laut neuesten Forschungen sogar in der Lage Waldbrände zu überleben und nach deren Verwüstung den Boden wieder zu beleben. 

    Gemäß ihres Ansatzes der Gleichwertigkeit und Kollaboration werden in der Ausstellung keine lebenden Würmer ausgestellt, gleichwohl werden sie durch Videoprojektionen auf die Erdfläche sichtbar und durch die Stimme des Manifests hörbar gemacht. Tatsächlich scheint das Publikum die Regenwürmer nach und nach als Verwandte wahrzunehmen. Selbst kleine Kinder lauschen der immerhin rund 13 Minuten langen Aufzeichnung des Manifests geradezu hypnotisiert und betrachten und berühren den ausgestellten Boden mit Respekt. Ein besonders starker und emotionaler Moment kommt in einem kleinen Ruck der Zuhörenden zum Ausdruck, wenn das Manifest eine konkrete Situation aus nächster Nähe anspricht: Im Bozner Stadtteil Don Bosco werden beim Bau einer neuen Schule große Mengen fruchtbaren Bodens verbracht werden. 

    “Zur Ausbildung Eurer Kinder werden viele von uns getötet. Wie fühlt sich das an? Wir sind auch Eltern wie Ihr und unsere Kinder leben und lernen ebenfalls hier.” 

    Das Manifest bietet aber auch einen Vorschlag zur Versöhnung. Hierzu soll beim Bau der Schule bedacht werden, dass auch die Regenwürmer einen Teil des Platzes behalten dürfen, um dort weiter ihr Leben und ihre Tätigkeiten fortsetzen zu können.

    Dies führt schließlich zum zentralen Gebot des Projekts, nämlich der Reziprozität und gegenseitigen Wertschätzung zwischen Mensch und Regenwurm. “Eine Hälfte für dich, eine Hälfte für mich” besagt das “Mantra”, das auf den Worten der wie Merve Bektaş ebenfalls türkisch-stämmigen Wildbienen-Imkerin Hatidze Muratova beruht, die einigen aus dem vielfach prämierten Dokumentarfilm “Honeyland” bekannt sein dürfte. Ihren Wildbienen überlässt sie in althergebrachter Tradition stets die Hälfte des von ihnen produzierten Honigs, ansonsten würde das funktionierende Gleichgewicht zwischen Mensch und Biene durcheinander gebracht.

  • Foto: Georg Zeller
  • In diesem Sinne lädt Bektaş das Publikum schließlich zu verschiedenen konkreten Tätigkeiten der Zusammenarbeit ein. Einerseits kann durch Texte und Zeichnungen vonseiten der BesucherInnen an der Fortschreibung des Regenwurm-Manifests teilgehabt werden. Außerdem gibt es eine Anleitung zur einfachen und haushaltstauglichen Herstellung von Kompost aus Küchenabfällen. Die Künstlerin bietet deshalb auch immer wieder Workshops zur Vertiefung dieser Techniken an. So können die Menschen nach Ausstellungsbesuch tatsächlich mit den Regenwürmern zusammenarbeiten und selbst ihren Teil zur dringend nötigen Gesundung der Erde beitragen.

  • Foto: Georg Zeller
  • Glocal Worm-ing
    Ein Projekt von Merve Bektaş
    Supervision Elisabeth Tauber

    Ausstellung September 2022 bis März 2023 im Naturmuseum Bozen
    Oktober 2023 “Science Live” Freie Universität Bozen

    Über diesen Link kann das Regenwurm-Manifesto angehört werden.

  • Künstlerin und Designerin Merve Bektaş "Glocal Worm-ing" Foto: Georg Zeller