Kultur | Salto Christmas

Bambola

"Das Kind weiß kein Wort, mit dem es sich die Puppe wieder zurückerobern könnte, außer dem immer gleichen: bambola, bambola..."
Bambola Filmstill
Foto: Bruno Jori

von Anne Marie Pircher
 

Im Jahr 1968, kurz nach seinem dritten Geburtstag im Spätsommer, besteigt das Kind an der Hand sei­ner Mutter einen Lokalzug in der Provinz und fährt das erste Mal einer Großstadt entgegen. In Mailand erwartet sie Tante Lucia am Bahnhof. Come una bam­bola! ruft sie und meint das Kind, das scheu an der Hand der Mutter aus dem Zug steigt, ergreift es, hebt es in die Höhe und küsst es heftig. Ciao, ciao! ruft sie in ihrem Rock, der nur knapp ihren prallen Hintern bedeckt. Dann fahren sie alle drei in einem Kleinwa­gen durch ein Labyrinth von Straßen, das Kind auf dem Rücksitz, während Tante und Mutter sich hef­tig in einer Sprache unterhalten, die das Kind nicht versteht, nicht ein einziges Wort. Die Tante ist jung, viel jünger als die Mutter, und hat blond gefärbtes Haar, das ihr weit über die Schultern reicht. Ein Duft, den das Kind noch nicht kennt, geht von ihr aus und irgendwie erinnert die Tante das Kind an Lilli und Babsi, seine beiden Puppen daheim.

Mailand ist der Ort, wo Onkel Paul wohnt, das weiß das Kind. Onkel Paul, der Bruder der Mutter, ist ein verschwiegener Mensch, der zweimal im Jahr auf Besuch in die Provinz kommt, um mit seinen Brüdern, nie mit seiner Schwester, Geschäfte abzuwi­ckeln. Tante Lucia begleitet ihn selten, sie kennt das Kind nur durch regelmäßig gepflegte telefonische oder postwendende Kontakte mit der Schwägerin. Nun wird ein über die Jahre immer wieder bekräf­tigtes Versprechen der Mutter eingelöst, den Bruder und dessen Frau in Mailand zu besuchen. Das Kind wird mitgeschickt, um die Mutter auf der Reise nicht allein zu wissen.

In der Wohnung von Onkel Paul riecht es noch stärker nach Tante Lucia. Das Kind steht in einem karierten Kleid auf einem von weichem Teppich überzogenen Boden. In Mailand, so weiß das Kind bald, ist alles laut. Man spricht laut, man lacht laut, sogar die Autos sind lauter als anderswo und lauter als daheim sind hier auch das Radio und das Fernsehen. Tante Lucia deckt laut den Tisch und schiebt laut einen Stuhl un­ter das Kind, auf den es sich setzen soll. Nichts von dem, was gesprochen wird, versteht das Kind. Auch die Mutter, scheint ihm, ist hier viel lauter als zuhau­se. Nur ab und zu beugt sie sich zu ihm hin und sagt: Iss! Ansonsten spricht auch sie in einer ihm fremden Sprache, die nach Musik klingt. Es versteht die Welt nicht mehr. So anders hatte es sich Mailand in seiner Fantasie vorgestellt. Einen Ort mit hohen Türmen vielleicht oder schönen großen Brücken. Auch einen Ort mit Flugzeugen und Schiffen. Aber nicht ein so lautes, undurchschaubares Chaos! Das Kind blickt auf den Kuchen, den man ihm unter die Nase hält und dann scheu auf die Tante, die mit ihren Armen fuchtelt wie ein Baum im Sturm. Die Mutter nickt häufig, viel häufiger als daheim, mit dem Kopf, und das Kind sagt nicht ein einziges Wort. Später, als der verschwiegene Onkel Paul von der Arbeit kommt, die Mutter mit einem Händedruck begrüßt und das Kind mit einem Blick nur streift, ist der Kuchen auf dem Teller brav weggegessen. Das Kind hat sich auf Mai­land gefreut und freut sich jetzt, nach nur wenigen Stunden dort, wieder auf daheim.

Die Tür geht auf und ein dreijähriges Mädchen, Onkel Pauls und Tante Lucias Tochter, springt herein. Bam­bola! ruft sie und meint das scheue Kind am Tisch. Das Wort hat das Kind jetzt ein paar Mal hintereinan­der gehört, Tante Lucia hat es am Bahnhof bereits ge­sagt. Dieses eine Wort unter den vielen Wörtern, die es nicht versteht, mag das Kind, es scheint ihm etwas Bedeutendes zu sein. Dann werden beide Mädchen durch die Küchentür hinüber in ein Schlafzimmer mit vielen bunten Spielsachen geschoben. Das Kind hat das vorher noch nicht gesehen. Seine Spielsachen daheim sind neben Lilli und Babsi, den Puppen, ein paar Plastiktierchen und ansonsten Zweige, Tan­nenzapfen, Steine und Bretter im Wald. Das also ist Mailand, denkt das Kind und kommt jetzt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Zuerst scheu, dann bald durch seine Neugier unbefangen, blickt und tastet es sich an die Dinge heran. Viele bunte Bauteile, die sich ineinander stecken lassen, unzählige Puppen und Kleidchen, dazu Puppenwägen, Bettchen, Kämme und Haarschmuck. Eine kleine Küche mit winzigen Töpfchen und Tellerchen, allerlei Bücher mit lustigen Bildern und viele bunte Stifte zum Malen und Zeich­nen sieht das Kind. Chiara, seine Kusine, spricht in der ihm fremden Sprache und zupft und schubst es hin und her, weiß gar nicht, wie dem fremden Kind eine Silbe zu entlocken ist, so still bleibt es. Schließ­lich holt sie eine Puppe aus einem Wägelchen und drückt sie dem stummen Kind in die Arme. Beinahe erschrickt es, denn die Puppe fühlt sich lebend an, wie ein kleines Menschlein, weich und viel schwerer als Lilli und Babsi daheim. Man kann sie drücken und Beine, Arme und Kopf wackeln wie bei einem echten Baby. Das Kind hebt die Puppe mit gestreckten Ar­men von sich und schaut zuerst auf Chiara, dann auf die Wackelpuppe in seinen Händen und wieder auf Chiara. Das also gibt es in Mailand, echte Puppen, die sich anfühlen wie echte Menschen. Ganz enttäuscht denkt das Kind jetzt an die harten, dummen Puppen daheim, die starr und ohne Leben sind. Wenn man sie hinlegte, schlossen sie immer die Augen, auch wenn das Kind laut schrie oder lustige Grimassen schnitt. Nichts konnte diese dummen Puppen davon abhalten, immer die Augen zu schließen, wenn sie in die Waagrechte kamen. Und nie bewegten ihre Arme oder Beine sich von selbst, immer musste man sie drehen und biegen. Das Kind hatte sich damit ab­gefunden. Mit drei Jahren hatte es gelernt, mit die­sen Puppen zu leben, mit ihnen zu sprechen, sie zu waschen, zu kämmen und sie sauber neben sich ins Bett zu legen. Dass sie sich immer hart anfühlten, dass man sie nie so richtig ans Herz drücken konn­te, ohne dass es einem wehtat, daran hatte das Kind sich gewöhnt. Dafür hat es einen abgewetzten Ted­dybären, aber der ist eben nicht zu vergleichen mit einer Puppe, der ist wirklich der allerdümmste. Jetzt weiß das Kind, was an Mailand so besonders ist, hier gibt es echte Puppen, mit denen man sich echt fühlt. Lächelnd drückt es die Wackelpuppe an seine Brust. Die Kusine, ein wenig in Angst um ihr Baby, entreißt sie ihm mit flinken Händen. Wieder hört das Kind das Wort bambola und begreift jetzt, dass damit wohl die Puppe gemeint ist, eben eine echte Puppe, eine Wackelpuppe. Und laut sagt es jetzt zu Chiara, seiner Kusine: bambola. Endlich ist dem stummen Kind ein Wort entlockt und zufrieden stolziert die Kusine mit dem Wackelbaby auf dem Arm wie eine kleine Mutti durch ihr Spielsachenparadies, sich ihrer Überlegen­heit der Fremden gegenüber gewiss. Nie und nimmer ist sie bereit, der anderen ihren Schatz noch einmal zu überlassen. Das Kind weiß kein Wort, mit dem es sich die Puppe wieder zurückerobern könnte, außer dem immer gleichen: bambola, bambola...


Noch im Zug, neben seiner Mutter heimwärts fah­rend, singt das Kind dieses Wort in das Rattern der Gleise, um es nicht mehr zu vergessen. Das Christ­kind, verspricht die Mutter, wird ihm eine bambola bringen. Das Kind glaubt fest daran, denn das Christ­kind kennt alle Welt und alle Sprachen und weiß ge­wiss, dass eine bambola eine Wackelpuppe ist und nichts anderes. Daheim flüstert es das neue Zauber­wort seinen beiden glotzenden Puppen ins Ohr und weiß nicht, wie lange Weihnachten noch weg ist. Bald verspricht die Mutter immer wieder, aber dieses bald zieht sich zu einer Ewigkeit. Äpfel müssen noch geerntet werden, viele Gäste kommen an und reisen wieder ab, Blätter färben sich und fallen von den Bäu­men, Wind kommt auf. Und immer noch bleibt das Christkind in der Ferne. In Amerika, denkt das Kind, hat es wohl viel zu tun. Denn Amerika, so weiß es bereits, ist das größte und schönste Land überhaupt, das immer zuerst kommt. Dann zieht man dem Kind wollene Strümpfe an und kratzende Pullover, kälter wird es, die Gäste bleiben weg und alles wird stil­ler. Weihnachten ist nah. Und nie vergisst das Kind sein Zauberwort. Mit ihm schläft es ein und wacht es auf. Mit ihm verbringt es den Tag, träumt es von der Zeit, da auch aus ihm eine echte Mutti werden würde, mit einem Wackelbaby im Arm. Alles, denkt es, wird damit anders werden, es würde sich groß fühlen, so groß wie seine Mutter eben. Mit ernster Miene erklärt es Lilli und Babsi, den jetzt nicht mehr ganz ernst genommenen Puppen, was auf sie zukom­men würde, versprach ihnen aber, dass sie weiterhin bei ihm wohnen dürften, ganz brav aber mussten sie sein.
Dann, endlich, steht Weihnachten bevor. Das Kind bit­tet die Mutter, das Wort bambola auf einen Zettel zu schreiben. In großen Buchstaben, die das Kind noch nicht kennt, wird der Wunsch vors Fenster gelegt. Im Traum stolziert das Kind genauso wie das fremde Mädchen in Mailand mit einem Baby auf dem Arm durch Haus und Garten, groß und wichtig wie eine echte Mutter mit einem echten Kind. Am Morgen ist der Wunschzettel fort und das Kind sehnt sich mit feurigen Augen den Abend herbei, den seit so langer Zeit erwarteten Weihnachtsabend. Ein paar Mal noch fragt es bangend die Mutter, ob das Christkind denn auch wirklich alle Sprachen kennt, und jedes Mal ver­sichert diese felsenfest, dass das Christkind immer und überall sei und alle Wörter und Sprachen der Welt verstehe und es nicht mehr zu fragen brauche. Schließlich setzt das Kind sich mit Lilli und Babsi in eine Ecke, biegt den beiden steifen Puppen die Beine, setzt sie neben sich und spricht ihnen mit wichtiger Stimme ins Gewissen. Dass heute ein neues Kind geboren werden würde. Dass dieses Kind ein völ­lig anderes sei als alles bisher da gewesene, dass sie ganz lieb zu sein hätten und sich nicht von der Stelle rühren dürften. Die Mutter rennt hastig hin und her, auch der Vater hat ein anderes Gesicht als sonst und später, als es bereits dunkelt, klingelt irgendwo im Haus ein kleines Glöckchen. Dann stehen alle drei, Vater, Mutter und Kind vor dem Weihnachtsbaum, an dem die Kerzen brennen. Das Christkind war da und hat das schlichte Wohnzimmer in ein feierliches, kleines Paradies verwandelt, in dem es nach Lebku­chen und Mandarinen riecht. Auf dem Tisch stehen Pakete aus buntem Weihnachtspapier und dem Kind ist’s als läge ihm die Welt zu Füßen.

Erst wird gesungen, dann gebetet, dann wieder gesungen, und schließlich darf das Kind in den Leb­kuchenteller greifen und am Baum alle Kerzen aus­blasen. An seinem Platz am Tisch stehen vier Pake­te, von denen dem Kind nur ein einziges, nämlich das größte, wichtig ist. Die drei anderen Pakete, so erfasst es schnell, sind für die Wackelpuppe zu klein. Das eine aber liegt groß und bedeutend im schöns­ten Weihnachtspapier vor ihm: Mond und Sterne über schneebedeckten Tannenbäumen, unter denen Schlitten, vollbeladen mit Paketen, von schnellen Rentieren gezogen werden. Vor diesem Paket auf der Bank am Tisch kniend, zittert dem Kind ein we­nig sein Herz, so aufgeregt ist es. Ein Blick auf die Mutter, dann auf den Vater, die ihm ermunternd zu­sehen, erwartungsvoll gespannt auf die Freude, die gleich über das Kind hereinbrechen wird. Mit flin­ken, kleinen Fingern macht es sich an die Schleife, dann an das Papier, vorsichtig, aber mit ungeduldi­ger Hand zerrend. Wo nichts mehr geht, kommt die Mutter ihm ein wenig zu Hilfe, löst das Klebeband mit geschickten Fingern, um das letzte große Öffnen dem Kind zu überlassen. Mit einem gewichtigen, über alles erhabenen Handgriff, schlägt das Kind das hindernde Papier zurück und blickt zuerst mit auf Er­lösung eingestelltem Blick, dann aber mit zwei ganz und gar fassungslosen Augen durch die Klarsichtfo­lie einer Puppenschachtel. Darin liegt, wie schon Lilli und Babsi zuvor, eine Puppe, steif und mit geschlos­senen Augen. Nichts erinnert an die Wackelpuppe in Mailand. Mit einem einzigen, von grenzenloser Enttäuschung durchfahrenen Blick weiß das Kind, dass diese Puppe nur die Haare ein bisschen anders trägt als Lilli und Babsi. Nur der Rock ist kürzer und die Bluse festlicher. Ansonsten ist sie genauso dumm und starr wie es Puppen seit jeher sind. Seinen Blick hebt es nicht, ihm ist’s als läge ihm der Tod zu Füßen, so still und starr ruht der See, in den seine unsicht­baren Tränen fließen. Die Mutter kommt mit energi­schen Schritten, der Vater beugt sich etwas vor, dem Kind doch einen Blick zu entlocken, einen himmel­hochjauchzenden, für alles Leid der Welt entschädi­genden Weihnachtskinderblick. Doch dem ist’s nicht mehr nach Weihnacht und allen Sprachen der Welt. Das Christkind, denkt das Kind, ist in Amerika da­heim, wohl auch in Mailand, aber nie und nimmer an diesem Ende der Welt, an dem es kein Wort gibt für echte Puppen und überhaupt für nichts, was weich und biegsam ist und anschmiegsam. Und mit einem Mal ist das Kind sich sicher, dass das Christkind, selbst wenn es hier vorbeikäme, nicht das gleiche wäre wie anderswo. In diesem Land, denkt das Kind, bleibt selbst das Christkind starr und tot. Mit einer ungeheuren Wut nimmt das Kind die falsche Pup­pe aus dem Karton, wirft sie mit zorniger Wucht auf den Boden, laut schreiend das immer gleiche Wort: bambola! Jetzt kommt auch der Vater, vom Toben des Kindes aus der Weihnachtsruhe gebracht, mit dro­hendem Schritt näher, und beide, Mutter und Vater, beugen sich über das wild stampfende Kind, ratlos in ihren weihnachtlichen Überlegungen. Die Mut­ter hebt die Puppe vom Boden, will sie dem Kind in ihrer ganzen Besonderheit doch noch schmackhaft machen und beteuert immer wieder, dass dies eine bambola sei, nichts anderes. Das Christkind habe seine Pflicht erfüllt, jetzt liege es an ihm, dem Kind, dankbar zu sein. Schämen solle es sich für seine Art! Erst jetzt fließen dem Kind sichtbare Tränen über die Wangen, es wird ruhig, umklammert schluchzend die starre Puppe und schämt sich. Tief drin aber, in ei­ner unzugänglichen kleinen Kammer in seiner Brust, stolziert ein dreijähriges Mädchen mit einer bambola auf dem Arm durch ein italienisches Kinderzimmer. Wenn ich groß bin, denkt das Mädchen, werde ich das Christkind in Amerika suchen und ihm von ei­nem Land erzählen, das voll von dummen, starren Puppen ist. Es möchte doch bitte keine neuen mehr bringen.

 

SALTO in Kooperation mit:
Edition Laurin