Kultur | Salto Christmas

Landgang eines Säuglings

"La Befana vien di notte / con le scarpe tutte rotte / col cappello alla romana / viva viva la Befana!"
Landgang
Foto: Salto.bz

von Kurt Lanthaler

Sitze heute endlich wieder einmal an Deck. Das hat wenig mit Seefahrerromantik und nichts mit ärztlichen Verschreibungen zu tun, sondern ist ausschließlich den Weihnachtsvorbereitungen zu verdanken, denen überall an Bord ebenso zielstrebig wie unerbittlich nachgegangen wird. Seit wir in diesen Sturm gelaufen sind, hat man wenigstens an Deck seine Ruhe. Wundern Sie sich also nicht, wenn Ihnen heute ein leicht verregneter Brief ins Haus flattert.
  Daß ich, um Ihn zu verfaxen, irgendwann doch noch unter Deck gehen muß und daß sich demnächst zu allem Überfluß auch noch ganz banaler Hunger melden wird, dem hier oben partout nicht beizukommen ist – selbst fliegende Fische tun sich schwer mit den Dimensionen zeitgenössischer Überseedampfer; und um wieviel schöner ist da das italienische Wort transatlantico anzuhören; es wurde zudem weise, im Wissen um die Zwangsläufigkeit technologischer Entwicklung, antriebsspezifikationsneutral gehalten. Dampfer hingegen, tja und naja …
  Sie sehen, mir ist trotz allem insgeheim recht weihnachtlich, also auf kaum erklärliche Weise konfus zumute. Schwellten Segel flögen Vögel. Und lyrisch, aber das legt sich gottseidank meist bald. Wobei die ersten Vögel frühestens übermorgen zu sichten sein werden, sollte der Himmel denn aufreißen, und der Canal de acceso und der Puerto Nuevo gar erst in vier Tagen. Stephanstag nennt sich das dann, denke ich, auf dem Alten Kontinent. E con questo?
  Eben konnte ich Ihre Stimme hören, wirklich und wahrhaftig, und es schien mir, Sie steckten hinter einem der vorderen Aufbauten. Wo Sie, wär das wahr, längst schon triefnaß im Fahrtwind stünden, Ihr ehemals elegantes Sakko eine traurige Ruine. Allein schon deswegen muß es sich um eine Sinnestäuschung gehandelt haben.
  Und doch sagten Sie: Wir haben Wichtigeres zu bereden und es gibt Wichtigeres als diese verdammt albernen Weihnachtsbefindlichkeiten, wann also kommt der Kerl endlich zur Sache, immerhin sitzen wir seit nunmehr knapp zwei Jahren an der Geschichte und die Zeit drängt und die Geldgeber drängen und es ist noch längst nicht ausgemacht, was unangenehmer ist.
  Sagten Sie also. Und schnaubten sich einen Regentropfen von der Nasenspitze.
  Lassen Sie den verdammten Regentropfen aus dem Spiel. Sogar, wenn er wirklich existierte.
  Ich konnte ihn aber deutlich sehen. Überdeutlich. Und es war klar auszumachen, wie er sich langsam verformte, lang und länger wurde … Zum Geschäftlichen. Bin in den letzten Wochen über neues Material gestolpert. (Und dieses Stolpern war wie immer akkurat vorbereitet worden: man arbeitet ja auch für sein Geld. Das, glaubte man ihnen, immer das Geld anderer Leute ist. Wann arbeitete man schon für sein eigenes Geld.) Und das, worauf ich da gestoßen bin, wird uns noch zu etlichen Querungen des Großen Wassers zwingen, irgendwann werden Sie uns in den Häfen von Genova und Buenos Aires Denkmäler errichten. Alleine schon deswegen war es vernünftig, sich den Tropfen von der Nasenspitze zu blasen; stellen Sie ihn sich in Marmor und im Maßstab 10:1 vor.
  Es fand sich eine Tonbandaufzeichnung: äußerst knapp und in miserabler Qualität, sehr wahrscheinlich nichts anderes als der zufällige Mitschnitt einer Tonprobe, aufgezeichnet mit einer Optaphon 54 K. Die eigentliche Aufnahme muß als verloren gelten. Aber was läßt sich aus diesem Stück Band nicht alles machen. Und zusammen mit dem, was wir an schriftlichen Zeugnissen vorliegen haben (denen ich im Übrigen immer weniger traue, es sei denn, es handelte sich dabei um unseren ausufernden Briefwechsel), reicht es allemale für einen weiteren Saal in dem, was wir uns geweigert haben, als »Ausstellung« zu bezeichnen und es uns lieber als Sammelsurium vorstellen, nun: stattfinden soll. Also wie gehabt: Kein Wort darüber zu unseren Geldgebern, sie würden uns augenblicklich, geradeausschielend und umwegverängstigt, den Hahn abdrehen. Und damit den Geschichten.

Damals, als ich als Säugling in dieser Stadt an Land ging, oder besser getragen wurde, an einem Freitag im Dezember 1907, sagt man mir, damals konnte ich noch nichts von meiner weiteren Verwendung ahnen, meine Eltern wohl genauso wenig, obwohl ich mir, was meinen Vater betrifft, da nicht so sicher bin, schließlich war er es, der mich zehn Jahre später ohne mit der Wimper zu zucken zum Zirkus gehen ließ, wenn er meint, sagte er damals, soll er, schlimmer als diese kleinen Tricksereien auf der Straße jeden Tag wird es kaum kommen können, ich habe letzte Woche den ersten in meiner Werkstatt gehabt, der die Schuhreparatur mit einer ihm verlustgegangenen Taschenuhr verrechnet hat und noch Geld heraus wollte und Dankbarkeit und dabei geradewegs auf ihn zeigte, also Frau, sagte er zu meiner Mutter, wem soll ich nun glauben, dem Kunden, der im Übrigen ein Cousin zweiten Grades deiner Schwägerin aus Strangolagalli ist und damit einer aus der Familie und auch schon seit acht Jahren in dieser Stadt und in diesem Land, oder deinem Sohn, der noch keine Schuhsohle gerade genäht hat in all den Jahren, doch, sagte ich da, immer wenn es auf Nähte hinauslief, sagte ich doch, doch, um Himmelswillen, Kind, sagt daraufhin meine Mutter, jedesmal und immer wieder, jetzt laß ihm doch wenigstens bei seinen Nähten und seinen Sohlen und seinen Schuhen sein Recht, du weißt ja, wie es sonst endet, und du weißt, daß deine Eltern dann zu streiten haben werden, tagelang, wer es denn nun gewesen war, damals, kurz, nachdem wir an einem Freitag an Land gegangen waren in diesem fremden Land, von dem wir nie mehr als diese Stadt gesehen haben, und von dieser Stadt nie mehr als den Barrio de la Boca, und diese genoveser Boca in diesem argentinischen Buenos Aires leuchtete bereits von Weihnachtslichtern als wir ankamen, und es schien alles so friedlich, und dein Vater noch ganz glücklich über seine glücksverheißenden amerikanischen Schuhe, die er diesem armen Teufel auf der Überfahrt geflickt hatte, gratis und seekrank, seekrank schon einmal gar nicht, Frau, das verdammte Fressen schon viel eher, und wenn eine Frau am Stillen ist, kann ihr gar nicht übel werden, also solltest du dir immer noch nichts darauf einbilden, daß es dir besser ging als mir, immerhin habe ich die besten Stücke immer dir überlassen von Brot und Fisch und Brot, und damit ihm da, dachte damals noch, es soll ihm nur das Beste zukommen, und jetzt muß ich auch noch dankbar dafür sein, gratis an den Schuhen ferner Verwandtschaft flicken zu dürfen und mich schämen dabei für das, was er treibt auf der Straße, als ob nicht schon schlimm genug wäre, was er in der Werkstatt treibt an den Nähten, doch, sagte ich, und wer weiß, ob einer aus Strangolagalli überhaupt eine Taschenuhr besitzt und einer aus der Verwandtschaft schon gar, du bist immer so leichtgläubig, Mann, sagte meine Mutter, ja, sagte mein Vater, und Mutter und ich hoben kurz erstaunt den Kopf und ließen ihn dann sofort wieder sinken, Vater stieß mit der Ahle Löcher in die Luft, ja, und wenn er mit der Ahle Löcher in die Luft sticht, behält er recht, wenn es nach ihm geht, ich und gutgläubig, wer hat das Kind denn hergegeben, keine drei Tage, nachdem wir an diesem Freitag an Land gegangen sind, und wenn wir Koffer mitgebracht hätten in dieses Land und nicht nur die zwei Bündel, die Handvoll Werkzeug und die drei Streifen Leder, nichts als Ausschuß, wir wären mit dem Auspacken noch gar nicht fertig gewesen, da hast du schon Ja gesagt in deiner Gutgläubigkeit, ja, sicher, wenn ihr ihn verwenden könnt, stolz ganz, als ob man nicht hätte stolz sein können auf das Kind, Mann, er schrie gut und er trank gut, und wie er getrunken hat, seinem Vater, der auch nur ein Flickschuster ist und Tag und Nacht arbeitet blieb nicht als der Schusterleim um sich zu ernähren in all den Jahren, drei Jahre läßt er sich stillen und trinkt gut und schreit gut, und kaum kann er gehen, stibizt er Taschenuhren, der birlo, und mir bleibt wieder nur der Schusterleim, und deswegen kann er von mir aus gern zum Zirkus. Zum Affen mach ich mich selber. Und dann sagt keiner was. Und ich gehe in Gedanken durch das Regal mit den abholbereiten, geflickten Schuhen, und suche mir die schwarzen aus mit den Absätzen, ein daumbreit zu groß, vielleicht, aber ein schönes Paar, von dem man nicht weiß, wie es in die Werkstatt meines Vaters verschlagen wurde, und mit etwas Glück liegt sein Besitzer längst erstochen im Barrio und geht auf keinen Tanz mehr. Und noch sagt keiner was. Und dann sagt Mutter, wenn sie mich doch gefragt haben, ob sie ihn verwenden könnten, er war nicht nur das kleinste Kind in unserer Gasse, er war auch noch der schönste im Viertel, und wir waren ja ganz frisch im Land und er war ganz frisch gewindelt, wenn man da keinen Stolz nicht haben kann, und wenn ich ihn vorher noch ordentlich stille, dachte ich, wird er ja Ruhe geben, bis die Zeremonie vorbei ist, und du hast ihn vor dir hergetragen und gestrahlt wie zehn Petroleumfunzeln, vergiß das nicht, Mann, hingetragen hast du ihn, mehr als hinter dir her durfte ich nicht, nur weil man seiner Frau die Last abnehmen will, wenn eh’ schon alles verprochen und verabredet ist, wo man gerade seine Werkstatt aufgemacht hat mit nichts als einem Hocker auf der Gasse und seinen Knien, und da drauf versuchst du einmal, eine gerade Naht hinzubekommen, doch, sagte ich, und dann liegt er da in den Armen der Maria, und du hast ihn da hineingelegt, Mann, und du's versprochen, Frau, als ob mir der ganze Zauber nicht völlig gleichgültig gewesen wäre mit dem heiligen Getue, jetzt, wo wir endlich dieses Italien hinter uns hatten, nichts als ein heiliges Getue das ganze Land, und wir sind noch nicht richtig angekommen hier, wo alles anders werden sollte und ich immer noch auf meinen Knien arbeitete und schon hast du unseren Säugling hergegeben für den Hokuspokus, was nur wegen des Hokuspokus inzwischen längst egal wär, wenn er nicht seitdem nicht mehr richtig wär, doch, sag ich, und Vater schaute erstaunt, hab ich was von Naht gesagt, und lacht, woher, sagt Mutter, soll ich wissen, daß er Hunger bekommt, was ja noch gleichgültig wär, wenn die Maria, die, wenn man's genau nimmt, Mann, mit deiner Seite der Familie verwandt ist, oder?, auf jeden Fall kommen die Ihren aus Camaldoli, und da sind sie alle verwandt, woher soll ich wissen, daß die Tecla, der Name schon, die die Maria ist mit ihren vierzehn Jahren, nur weil ihr Vater den größten Laden in der Gasse hat und noch nie einen Schuh in deine Werkstatt gebracht hat, obwohl ihr ganz sicher verwandt seid, und der du, dieser Tecla, auch noch auf die Brust geschaut hast, Mann, als ob ich's nicht gesehen hätte, obwohl sie die Maria war und du nicht der Josef, weil der nämlich der Totò war, Gotthabihnselig, und wär da der Esel nicht schon gestanden, hättest du ihn abgeben können zusammen mit dem Ochs von einem Vater von dieser Tecla, so wie der dreingeschaut hat, wie unser Sohn mitten in der schönsten Zeremonie nach der Brust der Tecla, die die Maria ist, greift und sie herausfischt und trinkt, und die Maria, die die Tecla ist mit ihren jungfräulichen vierzehn Jahren, mitten in der Zeremonie und mitten auf dem Platz vor der Kirche, wo sie das alles aufgestellt haben, traut sich nicht, auch nur einen Zappler zu machen und schaut weiter gradaus nach vorn mit ihrem Krippenblick in den Weihrauch der Dreikönige hinein, und der unsere trinkt und trinkt und die anderen fragen sich, wie eine jungfräuliche Vierzehnjährige zu so viel Milch kommt, und ein paar von den Männern auf dem Platz sind schon verschwunden, bevor die Zeremonie zu Ende ist und bevor der Kleine gekropft und die Maria ihre Brust verstaut hat, und daß bei dem Geschrei, das dann aufgekommen ist und dem Geraufe und Gesteche, daß der Kleine da nicht richtig verdaut hat und keinen Kropf nicht mehr machen konnte seither, da wirst du dich doch jetzt nicht wundern wollen, wo er, bis ich an ihn herangekommen bin in dem Gewühle, eine ganze Zeitlang liegen mußte neben dem toten Josef, ohne kropfen zu können, und da wunderst du dich noch, daß er zum Zirkus will, Mann, eben nicht, Frau, sagte Vater, deswegen laß ich ihn ja, und wegen der Naht, soll er. Und von dieser ganzen Weihnachtsgeschichte will ich nichts mehr wissen, Frau, sagte Vater, wirst schon wissen wieso, sagte Mutter. Dann geh ich jetzt, sagte ich.

Sie sehen, ich kann Sie nur warnen: Der Stoff geht uns nicht aus.

Übrigens (ein weiteres, nutzloses Fundstück): Wissen Sie, was man bei uns am alten Kontinent unter Weihnachtstauwetter zu verstehen hat? Regelfall der Witterung. Durch westliche Winde und atlantische Warmluftvorstöße wird in Mitteleuropa in rund zwei Drittel der Jahre zwischen dem 22. Dezember und dem 1. Januar eine Periode mit für die Jahreszeit zu warmem Wetter eingeleitet. Im Flachland kann dann häufig der vorhandene Schnee schmelzen, während im Gebirge neue Schneefälle entstehen. Fragt sich nur: Wo endet das Flachland und wo beginnt das Gebirge? Womit wir bei der unerforschlichsten aller menschlichen Fragen wären. Und also am Ende dieses Briefes. Für heute. La Befana vien di notte / con le scarpe tutte rotte / col cappello alla romana / viva viva la Befana!