Gesellschaft | Jugend

„Va mir aus gsegn“

Andreas Bertagnoll betrachtet die Aussagen Jugendlicher zum Lockdown durch eine pädagogische Brille - Vieles ist anders als es auf den ersten Blick erscheint.
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
Toscana, 2018
Foto: Andreas Bertagnoll

Andreas Bertagnoll ist Jugendarbeiter im Jugendzentrum „Fly“ in Leifers. Während des Lockdowns hat er bei den Jugendlichen nachgefragt, ob sie die strengen Maßnahmen des Staates zur Eindämmung der Krise als notwendig empfinden, was sie am meisten vermissen und worauf sie sich freuen. Zwanzig Jugendliche haben bei der Umfrage „Va mir aus gsegn“ teilgenommen. Andreas Bertagnoll kommentiert in diesem Interview die interessantesten Aussagen mit einem pädagogischen Blick.

In der Umfrage „Va mir aus gsegn“ hat Andrea (21) seine Wahrnehmung der Situation folgendermaßen geschildert:

 „mi bedrückt de gonze Situation, weil a guate zeit meiner besten johre mir oanfoch entrissen werd, i koane pläne für meine no junge zukunft schmieden konn, schun gemochte pläne vielleicht zu nichte gian und weil i ungern als manichino behondelt wer. Mir nimmp de gonze einschränkung es gefühl überhaupt an wert zu hoben in der sozialform de mir als staat bezeichnen. Wos mir am meisten fahlt isch es gefühl mein eigener Herr zu sein. Entscheiden zu kennen wo i, wenn wos tua. Mir fahlts mein Freundeskreis za segen, mit imene za reden, za lochen, za spekulieren, za tramen. Wos i mr net so schnell erwortet het, isch es vermissen fa der Orbeit. … es isch jo a net sooo schlimm im moment in so an umstond leben za miasn, man konns a als geschenk segen, a wenn gewisse momente erdrückend sein.“

Pico Bello: Wie haben die Jugendlichen die Situation im Lockdown erlebt?

Andreas Bertagnoll: Jugendliche sprühen in der Regel vor Energie und benötigen ein Ventil, um sie auszuleben. Sie sind auf der Suche nach neuen Erfahrungen und wollen zusammen mit ihren Freunden Grenzen ausloten. Junge Menschen wollen schlichtweg etwas erleben. Der Lockdown untersagte ihnen über Monate diesen Bedürfnissen gerecht zu werden. Liebesbeziehungen und Romanzen sind in jungen Jahren von kürzerer Dauer und deswegen instabiler. Der zweimonatige Lockdown bedeutete für einige Beziehungen das Aus. Das mag sich für Erwachsene „putzig“ anhören, für den Jugendlichen aber  kann eine Welt zusammenbrechen. Zudem leiden besonders ältere Jugendliche unter der vorherrschenden Unsicherheit, da ihre Zukunft nicht mehr vorgegeben ist und wichtige Entscheidungen über ihren Werdegang anstehen.

 

Anna (18) äußert sich in der Umfrage folgendermaßen:

 “I find der Lockdown isch awian übertrieben, i vrsteah mor miasn schaugn des virus so schnell wia meglich za besiegen obr des dahaom bleiben und net die freinde sechn isch fir viele jugendliche belastend es konn za depressionen ect. führen. Am meisten fahlt mor ebn meine engsten kollegn za treffen mit imene lochen und die hetz za hoben und mit imene auszagean amol in alltag fir oane nocht zu vergessen“.

Wie haben die Jugendlichen darauf reagiert von einen auf den anderen Tag aus dem Alltag gerissen zu werden?

Anfangs konnte niemand ahnen wie lange die Ausgangssperren und das “social distancing” dauern, sodass viele Jugendliche der neuen Situation durchaus mit Neugierde begegneten. Auch im Schulalltag ist bekanntlich jede Abwechslung willkommen. Nach einigen Wochen aber wurde die Langeweile immer präsenter: Der Schulalltag oder der Job fehlte den Jugendlichen. Nicht zuletzt weil Arbeit und Schule auch das Treffen von Freunden miteinschließt. Zusammenfassend kann man sagen, dass das Fehlen von Freunden die größte Belastung für die Jugendlichen darstellte. Zudem setzte die fortwährende negative Berichterstattung vielen Jugendlichen zu. Dennoch haben viele Kids versucht, der Situation Positives abzugewinnen. Wir dürfen nie vergessen: Wenn wir von „Jugendlichen“ sprechen, meinen wir damit eine Gruppe bestehend aus vielen verschiedenen Persönlichkeiten mit ebenso individuellen Biographien. Kids, die nie Probleme hatten sich alleine zu beschäftigen, da sie sich stundenlang mit Hingabe einer kreativen, technischen oder handwerklichen Betätigung widmen können, litten weniger unter den Umständen, als solche die schon vorher  über Langeweile klagten.

Wenn wir von „Jugendlichen“ sprechen, meinen wir damit eine Gruppe bestehend aus vielen verschiedenen Persönlichkeiten mit ebenso individuellen Biographien. 

Raphael (12)  beantwortet die Frage worauf er sich am meisten freut folgendermaßen: 

“wen olls fertig ish don frei i mi am meisten freinde und kolegen za treffen ober am meisten frei i mi wen i mitn sport unfongen konn“.

Das würden viele Jugendliche zustimmen, ihnen fehlt die sportliche Betätigung, allein, mit Freunden oder im Verein.

 

Magdalena (20):

„mir persönlich fahlt am meisten mit Freinde und Kollegen zom za hucken a Bierl zu trinken und oanfoch Frei za sein…sich frei zu bewegen za kennen und natürlich a es Orbeiten wos mir viel Freide mocht und vor ollem wos mir heier in Summor richtig fahlen wert sein die Fester fa insre Vereine wie Schützen Krampus oder Musi.“

Jugendliche fühlen sich oft verbundener mit ihrem Freundeskreis als mit der Familie. Freunde zu sehen war lange nicht möglich. War das problematisch?

Oft wird gesagt, dass ein Schild mit der Aufschrift "Wegen Umbau geschlossen" den Gemütszustand der Jugendlichen sehr gut beschreibt. Diese „Umbauphase“, vom Kind zum Erwachsenen, ist leichter, wenn die Jugendlichen Teil einer Gruppe, möglichst mit Gleichgesinnten, sind. Da auch die Interessen häufiger wechseln als im Erwachsenenalter, ist diese Zeit ein Lebensabschnitt voller Fragezeichen. Deshalb sind Beziehungen von Pubertierenden per se fragiler, sie basieren nicht von einem jahrzehntelangen Fundament. Viele Freundschaften wurden gerade erst geschlossen, zwei Monate Sendepause können darauf einen erheblichen Einfluss haben. Schüler*innen der Abschlussjahrgänge wurden beispielsweise abrupt aus der Klassengemeinschaft gerissen und werden sich in dieser Konstellation nicht mehr sehen. 

Gleichzeitig war den Jugendlichen bewusst, dass sie auf einen Teil ihrer Jugend verzichten müssen, um eine andere Altersgruppe zu schützen.

Wie der Großteil der Befragten stimmt auch Nadia (12) den Maßnahmen des Staates zu:

„Le misure prese per contenere la diffusione del virus, sono state molto efficaci e utili per poter cosi pian piano tornare alla nostra vita di prima. Sono state estreme ma senza queste di esse forse a quest´ora saremo ancora chiusi in casa con tantissimi contagi in più e con più persone decedute.”

Auch Alex (20) findet die Einschränkungen der vergangenen Monate bis zu einem gewissen Maße richtig, dennoch leidet er unter der Freiheitsbeschränkung:

 „I fühl mi zur Zeit extrem unfrei in meinem Dasein als Mensch, und sel passt mor gor net! Man fühlt sich momentan jo nia wirklich unschuldig, wenn man draußen spazieren geat, des Gefühl mecht i schleunigst wieder los werden“.

Fast alle Jugendlichen legten in den Interviews eine sehr vernünftige Haltung an den Tag und brachten für die strengen Einschränkungen mehr oder weniger Verständnis auf. Wenn in den Medien darüber berichtet wird, dass sich Bürger*innen nicht an Vorschriften halten, wird gerne ein Bild benutzt, das junge Menschen aneinander gepfercht und ohne Maske zeigt. Das bedient ein altes Klischee, nämlich das der ungehorsamen Jugend. Medien könnten doch bestimmt auch mal ein anderes Foto finden, auf dem verschiedene Altersgruppen vertreten sind, zumal mangelnde  Eigenverantwortlichkeit nicht immer eine Frage des Alters ist. Außerdem sollte man nicht aufgrund von einzelnen Ereignissen auf eine gesamte Gruppe von Menschen schließen. Menschen in jungen Jahren sind noch sehr flexibel und die meisten von ihnen haben  beispielsweise mit dem Tragen einer Maske wenig Probleme. Viele sehen die Maske als Mode-Accessoire und erachten sie als cool.

Einige der älteren Jugendlichen klagten über mangelnde Selbstständigkeit während des Lockdowns. Jugendliche müssen, ohne die ständige Begleitung ihrer Eltern, beginnen sich in der Gesellschaft zurechtzufinden und zu behaupten. Gleichzeitig war ihnen bewusst, dass sie auf einen Teil ihrer Jugend verzichten müssen, um eine andere Altersgruppe zu schützen. Ich habe den Eindruck, dass diese Form von Solidarität öffentlich kaum wahrgenommen wurde.

Andreas, wie hast du in deiner Rolle als Jugendarbeiter die vergangenen Monate wahrgenommen?

Zunächst einmal sind wir im Jugendzentrum wie alle anderen Menschen mit einer völlig neuen, noch nie dagewesenen Situation konfrontiert worden. Die totale Vollbremsung! Die Jugendarbeit erfolgte fortan virtuell und von zu Hause aus. Einerseits waren wir sehr dankbar dafür, dass wir überhaupt weiterarbeiten konnten. Andererseits vermissten wir die familiäre Atmosphäre im Fly, die Jugendlichen, die Struktur, die Stadt, das gemeinsame Frühstück und vieles mehr. Einfach alles, was diesen Job ausmacht. Wir mussten unseren gesamten Einfallsreichtum ausreizen, um immer wieder neue Ideen zu kreieren. Dabei war ich oft verwundert, wie kreativ der Mensch wird, wenn er in eine Notsituation gerät. Ein paar Mal haben wir uns gesagt, es dürfe uns jetzt auf keinen Fall etwas zu peinlich sein, beispielsweise Selfie-Videos. Es muss weitergehen, egal wie. Die Zusammenarbeit mit den anderen Jugendzentren war sehr gut, noch enger als vorher. Der Dachverband der Jugendzentren “netz | Offene Jugendarbeit”, dem wir angehören, hat die Aktion #VIRTojaL ins Leben gerufen und ermöglichte so einen gemeinsamen landesweiten Auftritt. Auf seinen Veranstaltungen und Webinaren bildeten wir uns weiter, insbesondere was die virtuelle Jugendarbeit anbelangt.

 

Wie seid ihr mit den Jugendlichen in Kontakt geblieben?

Unser Programm reichte und reicht noch immer von Online Challenges über Interaktives Zocken (also Computerspielen) bis hin zu Bildungsangeboten. Über Zooroom oder Zoom hielten wir Online Chats ab, über Instagram wurde über aktuelle Programme informiert oder zu Challenges aufgerufen. Auch über WhatsApp wurde kommuniziert. Zudem haben wir in Zusammenarbeit mit zwei Unternehmen aus Leifers die Spendenaktion "Masked Hero" gestartet. Man spürte besonders bei jenen Jugendlichen, mit denen man bereits vorher face to face ein Vertrauensverhältnis aufgebaut hatte, dass der Bedarf sich auszutauschen absolut da war. Nicht wenige Kids klagten über Langeweile und vermissten die Freunde und den Sport. Jedoch neue Kontakte online mit Jugendlichen zu knüpfen, erachte ich für schwierig.

Wie macht ihr im Jugendzentrum weiter? Gibt es bereits Pläne?

 Wir haben gelernt auf Sicht zu planen und die Möglichkeiten, die wir haben, auszuschöpfen. Es würde jetzt keinen Sinn machen, darüber zu spekulieren, was im Herbst passiert. Absolut einig sind sich alle Pädagog*innen, dass den Jugendlichen nach Monaten der Isolation die Möglichkeit gegeben werden muss, ihre Freunde zu treffen. Dennoch ist der Schutz der Gesundheit das oberste Gebot: Dementsprechend werden wir unter Einhaltung der Vorschriften Angebote an der frischen Luft schaffen.

 

Anmerkung: Die Statements wurden anonymisiert und unverändert übernommen. Die Fotos wurden von Andreas Bertagnoll zur Verfügung gestellt und sind vor der Pandemie aufgenommen worden (2017, 2018, 2019).

{Interview/Text: Sophia Gummerer}

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Herta Abram Mo., 25.05.2020 - 09:57

Mein Eindruck:
Jugendarbeit wie sie Andreas Bertagnoll vorlebt, ist nicht mit Gold aufzuwiegen!
- Auch als wichtiger Anstoß, zum WeiterDenken:
„Wie schaut (für dich) ein anstrebenswertes Zukunftbild aus?“
…Wenn sie (die Jugendlichen) entdecken werden, dass die jetzige Gesundheitskrise durch die Coronapandemie und die Umweltkrise eigentlich dieselben Ursachen haben, nämlich, Menschen, die ihre Umwelt ausbeuten und die Tierwelt zurückdrängen,…. dann haben sie vielleicht sogar ein zusätzliches Argument, …. https://www.salto.bz/de/article/12052020/diese-krise-wird-junge-weniger…

Mo., 25.05.2020 - 09:57 Permalink