Kultur | Minderheiten

Jenische sind Jenische, keine „Korrner“

Ein Gespräch über Jenische und ihre Kultur. Die Schriftstellerin Simone Schönett engagiert sich für ihre Rechte – literarisch und auch sonst wo es geht.
Simone Schönett
Foto: Eva Asaad

salto.bz: Frau Schönett, sie sind Schriftstellerin und Aktivistin für die Rechte der Roma und Jenischen. Was sind ihre Aufgabenbereiche?
Simone Schönett: Mir geht es darum, das Bewusstsein dafür zu schärfen, wie weit verbreitet die Bereitschaft ist, Rassismus gegen Sinti, Roma, Jenische zu tolerieren – und zwar ohne näher darüber nachzudenken. 
Nachdem ich Schriftstellerin bin, beschreite ich diesen Weg über die Sprache.Sobald es um Roma geht, hat jeder automatisch ein Bild vor Augen. Ein über Jahrhunderte fast unverändert gebliebenes, wieder und wieder reproduziertes. Nicht aus der Wirklichkeit bezogen. Aber dauerhaft verankert. In den Köpfen. Und in der Sprache.

Und welche Worte finden sie?
Ich schreibe und spreche gegen das Bild, in dem man zu bleiben hat, gegen den Rahmen, in dem man feststeckt, gegen die Art von Blick, der nie die Oberfläche durchdringt, denn: Was ist das für ein Leben, in dem alles erwartbar bleibt, weil sich wiederholt, was man von Roma erwartet, und wiederholt, was man ihnen vorwirft und nachsagt?

Fragen Sie einmal Jugendliche, was sie von Roma wissen. Und dann fragen Sie einen Richter.
 

Wer sind die Jenischen? Wo leben sie?
Jenische leben in allen europäischen Ländern, sie sind eine von vielen Gruppen, die sich 1971, beim ersten Welt-Roma-Kongress in London, mit den Ashkali, Manouches, Travellers, Kalderascha und Lalleri – um nur einige zu nennen – trafen und darauf einigten, sich fortan gemeinsam mit dem Überbegriff Roma, das heißt Mensch, zu benennen. Die Eigenbezeichung Jenische ist im Allgemeinen weniger bekannt als die Fremdbezeichnungen, die sich entweder von vormals traditionellen Berufen oder abwertenden Zuschreibungen ableiten.

Wogegen kämpfen die Jenische Minderheit? Wofür kämpft die Jenische Minderheit?
Ich kann nur für mich selber sprechen, weil der Großteil der Jenischen es immer noch vorzieht, die eigene Identität als Jenische privat zu halten. Ich kämpfe mit der Dummheit, der Ignoranz, den angeblichen Besserwissern, die es immer nur gut meinen – aber im Gutmeinen auch nur Stereotypen usw. weiterbedienen. Der Kampf, ob man seine Identität lüftet oder nicht, den kennen wohl alle Jenischen; was wiederum zeigt, wie groß die Vorsicht unter den Jenischen auch 2016 noch immer ist, weil man verinnerlicht hat, wie rasch man (wieder) zum Sündenbock werden kann.

…in der Vorstellung der meisten Europäer muss man als Jenische oder Jenischer scheinbar so leben wie vor 100 Jahren: im Planwagen, mit Pferden, auf der Landtrasse

Mit welchen Vorurteilen haben die Jenischen zu kämpfen? Stichwort: Gaunersprache.
Mit der ganzen Bandbreite; von A wie asozial bis Z., wobei es immer um die Lebensweise geht, die scheinbar auf ewig fahrend bleiben muss, obwohl sie es seit langem schon nicht mehr ist. Öfters taucht auch das mit dem „Ausgestorben“ auf, der Mythos, es existierten gar keine Jenischen mehr – nur, weil sie nicht mehr fahren. Paradox, aber leider wahr. Die Vorurteile, die werden ja nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch innerhalb von Wissenschaft und Kunst weiter gegeben, von so genannten Experten wie etwa Roland Girtler, der ohne weiteres die Jenische Sprache und das Rotwelsch gleichsetzt – übrigens nicht als erster. Aber es gibt eigentlich immer und überall diese Unachtsamkeiten. Das Behaupten und als Wahrheiten in die Welt setzen, hat Tradition, und dem gilt es, zu widersprechen. Denn es gibt kein Volk der Rotwelschen, wohl aber Jenische, in ganz Europa, die wenn, dann Jenisch sprechen; in der Vorstellung der meisten Europäer muss man als Jenische oder Jenischer scheinbar so leben wie vor 100 Jahren: im Planwagen, mit Pferden, auf der Landtrasse usw. – was für eine Idylle  - und trügerisch.

Wie soll das Jenische, ihre Kultur, vermittelt werden?
Im direkten Kontakt. Von Jenischen selbst. Über Geschichte und Geschichten. Und ohne romantische Verklärung. Mit einem Ansatz, der auch die Traumata nicht auslässt, die fortwirken, u.a. das Verstecken und Verbergen dessen, was man ist. Die Vermittlung derzeit liegt zumeist in Händen von „Experten“, die von jenischer Kultur kaum mehr als die Oberfläche kennen. Im Grunde widersprechen sich jenische Kultur und das Vermitteln derselben ja, deswegen, weil hier Kultur und Identität etwas privates, nur dem nächsten Kreis vorbehalten sind – und nicht für die Öffentlichkeit vorgesehen.

Was schlagen Sie vor?
Ein Weg ist sicher die Kunst, aber ich meine nicht das, was viele unter jenischer Kunst verstehen, also das Kunsthandwerk. Jenische Kunst gibt es nicht, aber KünstlerInnen, die das Jenische in ihren Arbeiten thematisieren und reflektieren. Die Dichterin Mariella Mehr wäre hier zu nennen; sie hat ein Werk geschaffen, das neben bester Lyrik auch Doku-Filme über sie umfasst – über Mariella Mehrs Leben und Werk bekommt man bestens Einblick in das gar nicht romantische Leben der Jenischen im 20. und 21. Jahrhundert und in jenische Kultur.

Die Jenischen übermitteln ihr Wissen mündlich. Das macht sie irgendwie geheimnisvoll. Damit grenzen sie sich auch klar von den anderen ab. Eine Gegenreaktion?
Eine Sicherheitsmaßnahme! Zeichen des immerwährenden Misstrauens, der Furcht, der Gewissheit, niemandem trauen zu können. Und gleichzeitig auch wieder Ausdruck dessen, was an vergangener und fortwährender Angst noch immer wirkt. Das Abgrenzen ist ja als Reaktion auf Jahrhunderte lange Ausgrenzung und Verfolgung entstanden, eine oft genug überlebensnotwendige Strategie, die mit „geheimnisvoll“ nichts zu tun hat.  Wobei, es wurde aber auch geschrieben, jenische Wörterbücher gab es schon im 19. Jahrhundert, heute gibt es jenische Internetforen, Romane, Theaterstücke, Filme usw. Insofern ist das nur mündliche mittlerweile auch nur mehr Mythos.

Was ist von der Lagerfeuer-Romantik bei den Jenischen übriggeblieben?
Abgesehen davon, dass diese Romantik in der Vorstellung der Nicht-Jenischen scheinbar auf ewig weiterleben muss, eigentlich nichts.

In Südtirol wurden die Jenischen als Korrner bezeichnet? Was stört sie an dieser Bezeichnung.
Jenische sind Jenische, keine „Korrner“, wie man sie in der sesshaften Bevölkerung ab dem Mittelalter schon abwertend nannte, wegen der Karren, die man zog, was, wie gesagt, mittelalterlich und lange vorbei. Also so, wie man aufgehört hat, das N-Wort oder das Z-Wort zu benutzen,  sollte man, aus Respekt, die Eigenbezeichnung verwenden und einsehen, dass es um Jenische geht und nicht um „Korrner“; oder haben wir kein Recht auf unseren eigenen Namen?

Wie viele Jenische Mitmenschen vermuten sie in Südtirol?
Nachdem sich die allermeisten Jenischen – aus gutem Grund? – nicht öffentlich „outen“, und weil, bis auf ein paar Hunderte in ganz Europa, die tatsächlich noch reisen, alle sesshaft leben, ist das schwer zu sagen. Vermuten kann man ja alles Mögliche; vielleicht werden es einige hunderte oder gar tausende Menschen sein?

Wo leben die meisten Jenischen in Europa?
Auch hier kann die einzig seriöse Antwort nur sein, dass es niemand genau weiß; in Frankreich, der Schweiz, Deutschland, Österreich, Holland, in ganz Europa leben Jenische, aber: wo und wie viele?  Anerkannt als Minderheit sind Jenische bislang nur in der Schweiz. In allen anderen Ländern „outen“ sich Jenische nicht. Spekuliert wird ja viel. Ich persönlich halte, ausgehend von insgesamt 12 Millionen Roma (alle Gruppen) in Europa, meine Zahlenschätzung bei ca. 2 Millionen Jenischer, verteilt auf alle europäischen Länder.

Woher kommt denn der Tiroler? Ist das wichtig, woher man kommt?

Sie haben den realen Ort Jenesien als Zentrum des Jenischen in ihrem Roman „re:mondo“ literarisch neu erfunden. Wie kam es dazu?
Auslöser war diese unweigerliche Frage: Woher kommen die Jenischen denn? Die Frage nach der Herkunft, die scheinbar das Wichtigste ist und bei jeder öffentlichen Veranstaltung auftaucht. Aber weshalb? Woher kommt denn der Tiroler? Ist das wichtig, woher man kommt? Für viele anscheinend schon, auch wenn das mit der Herkunft der Jenischen bis heute nicht geklärt ist. Da stehen teils haarsträubende Theorien im Raum, die von Kelten bis zu europäischen Landfahrern reichen, deren Ursprung nicht einmal die Nazi-Rasseideologen woandershin zu verlegen wussten; aber vor allem die „wissenschaftlichen“ Ansätze erheben ja gerne Anspruch auf objektive Wahrheit – und mehren trotzdem nur Mythen. Aber wie man leider weiß, die Mythen sind stärker als die Fakten. Insofern wollte ich einen neuen Herkunfts-Mythos für die Jenischen schreiben und habe den Ursprung in die Zeit der biblischen Sintflut gelegt, und mit Jakob, einem Spielmann, dem Noah einen ebenbürtigen Bruder geschenkt, der in Jenesien die große Flut überlebte. Seither gibt es Jenische…
 

Sie betreiben viel Aufklärungsarbeit, wie Richter und Richterinnen, mit Randgruppen oder Minderheiten umgehen. Wo hinkt die Justiz in Österreich oder in Europa hinterher.
Fragen Sie einmal Jugendliche, was sie von Roma wissen. Und dann fragen Sie einen Richter. Die Wissensschnittmenge wird fast gleich hoch bzw. niedrig sein; Sie werden hier wie dort auf ähnliche Vorurteile treffen; vor allem in Bezug auf vermeintliche Kriminalität, die scheinbar ja schon „im Blut liegt“. Seit bald 1000 Jahren sehen sich Roma in Europa mit denselben Zuschreibungen konfrontiert, die kaum wer je hinterfragt. In der Justiz sind es eben auch diese Reproduktionen der Reproduktion, die als wahr gelten, dieses unhinterfragte Secondhand-Wissen, diese Unbildung in Sachen Roma-Geschichte, die gilt es, zu verdeutlichen, zu vermitteln. Und wenn man bedenkt, was zum Beispiel bei all den Bettelverboten alles mit hineinspielt an Ressentiments, dann gilt es, diese bürgerlichen Sichtweisen zu hinterfragen; sich seiner persönliche Roma-Bilder einmal gewahr werden und zu prüfen, woher man diese Informationen eigentlich bezieht.

Welche Wahlempfehlung hat eine jenische Aktivistin für die Bundespräsidentenwahlen?
Hingehen! Wählen, auch wenn es aussichtslos erscheint, weil, wie es in meinem Roman „re:mondo“ heißt:

„alles wieder wird, was einmal war, denn die Dummheit der Menschen bleibt zu alle Zeiten gleich groß“