Film | SALTO Weekend

Ein Fischauge auf die Frau geworfen

Der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos kehrt mit Poor Things auf die Leinwand zurück. Der neue Film ist ein kraftvoller Aufschrei des Kinos.
Poor Things
Foto: Poor Things
  • Bella Baxter kann zu Anfang dieses Films kaum sprechen. Gehen kann sie, oder sagen wir tapsen. Sie tapst also, in ein Kleid mit riesigen Schulterteilen gekleidet, durch den Flur eines viktorianischen Hauses, gefolgt von einem Schwan, der nach hinten hin aber einem Dackel gleicht. Ist es also ein Schwan oder ein Dackel, oder was ganz anderes? Und wer ist diese Frau, die mit kindlichem Blick sich und ihre Umgebung betrachtet? Bella ist ihr Name, das hatten wir ja schon. Sie mag etwa 30 Jahre alt sein, doch nur der Körper, denn ihr Geist hinkt hinterher. Das hat nichts mit einer geistigen Einschränkung zu tun, sondern ist der Tatsache geschuldet, dass ihr „Ziehvater“ Dr. Godwin, ein gleichermaßen talentierter wie durchgeknallter Chirurg, ihr ein neues Hirn eingepflanzt hat. Das alte war so gut wie futsch, nachdem sich die Frau von einer Brücke gestürzt hatte. Godwin fand den Körper, und operierte das Kind aus dem Bauch der Toten. Dessen Baby-Hirn operierte er in die Frau, und erweckte sie neu zum Leben. 

  • Viktor Frankenstein erblasst vor Neid

    Die Handlung von Poor Things steigt zu einem Zeitpunkt ein, da Bella von ihrer „Herkunft“ nichts weiß. Sie lebt ihr simples Leben, merkt erst mit der Zeit, dass sie eingesperrt ist und ihr das Verlassen des Hauses, raus auf die Straßen von London, untersagt ist. Es wäre zu gefährlich, sagt Godwin. Dem kann ein Kleinkind schon mal glauben. Aber wenn sich das Kind rasend schnell entwickelt, lernt und geistige Sprünge macht, die einem tatsächlichen Baby viele Jahre abverlangen, beginnen die Probleme. Über die schlurfende Langsamkeit eines Monsters Marke Frankenstein kann Bella nur lachen. Godwin hat im Unterschied zu Mary Shelleys Doktor aber kein Monster erschaffen. Sondern einen Menschen, der den Status Quo nicht lange akzeptiert. Nicht nur beginnt Bella, ihren Schöpfer zu hinterfragen, auch der Drang, ein eigenes Leben außerhalb der vier Wände zu führen, entsteht in ihr. Genauso wie die Lust, die eines Tages durch einen Zufall Einzug in ihr Leben hält. Die Lust, sich zu berühren, berührt zu werden, Dinge in sich zu schieben. Bald schon wird Bella sich selbst nicht mehr genügen. Sie lässt sich auf die Männer ein, die sie, erst unbemerkt, nicht nur begehren, sondern auch kontrollieren wollen. Die Männer wollen Bella einsperren, einschränken, dabei aber an ihrer Seite haben, um, naja, um mit ihr zu schlafen.

  • Foto: Poor Things 2
  • Sex als Befreiungsakt

    Bella liebt Sex, das wird schnell klar. Sie will immer mehr davon, sodass sie irgendwann von einem Fehler im Mann spricht, der nicht sofort wieder kann. Durch den Sex findet Bella zu sich selbst, lernt, Entscheidungen zu treffen, zu bestimmen, was mit ihr und ihrem Körper geschieht. Sie entfernt sich dabei schnell vom obskuren Objekt der Begierde und gewinnt die Oberhand. Ihre Geschichte führt sie quer durch ganz Europa – es ist eine Reise, die sie vom Kleinkind zur Frau werden lässt. Dass Regisseur Yorgos Lanthimos (The Killing Of A Sacred Deer) uns eine surreale, zutiefst stilisierte Welt zeigt, versetzt uns, das Publikum, in Bellas Position. Wir entdecken mit ihr zusammen diese für sie neue Welt. Den Film in ganz gewöhnlichen Szenarien, beispielsweise dem Lissabon der Realität spielen zu lassen, hätte der Geschichte viel von ihrem Reiz genommen. Stattdessen besticht Poor Things mit malerischen Panoramen, absurden Design und verzaubert ganz allgemein mit seiner Ausstattung, der dichten, verspielten Atmosphäre, der stets ein gewisses Unwohlsein innewohnt, und nicht zuletzt dank eines Schauspielensembles, das seinesgleichen sucht. Emma Stone spielt Bella, und sie tut es mit einer Hingabe, die im Kino nur noch selten zu sehen ist. Sie verschwindet völlig hinter der erst unbeholfenen Figur, die später aber eine Souveränität entwickelt, die sie nicht länger als Spielzeug der Männer hält, sondern aus deren Griff ausbrechen lässt. An Stones Seite überzeugen Mark Ruffalo als hoffnungsloser Liebhaber, und Willem Dafoe als Frankenstein-Verschnitt Dr. Godwin, einem verstörenden Make-up inklusive. Besonders kurios: Hanna Schygulla als Kreuzfahrtschiffspassagierin.

  • Foto: Poor Things 3
  • Visionär

    Yorgos Lanthimos gibt sich in diesem Film unglaublich stilsicher. Jeder Zoom der typischerweise sehr weitwinkelig gefilmten Bilder sitzt, jede Geste der Schauspieler*innen und jedes noch so absurd-komische Detail. Die Musik von Jerskin Fendrix tut ihr Übriges. Sie zittert wie Bella gespannt und fasziniert von der Welt, dröhnt mal und schreit förmlich, bis zum feierlich klingenden Finale.

    Bei den Filmfestspielen von Venedig im vergangenen Herbst gewann Poor Things den Hauptpreis, Emma Stone wurde sehr zu Recht mit dem Preis für die beste Darstellerin ausgezeichnet. Auch bei den diesjährigen Oscars wird der Film eine Rolle spielen. Es ist ein gutes Zeichen. Poor Things ist Kino in Reinform, es lässt dessen zugrundeliegenden Gedanken, nämlich den Traum auf die Leinwand zu übersetzen, neu auferstehen. Wie Bella neu auferstanden ist, wie die Lust am Film hier in jedem Moment zu spüren ist. Poor Things ist voller Kreativität und im Kino der Gegenwart ein erfrischender Zugang zu feministischen Themen. Der Film ist ein Leuchtturm, der hoffentlich weithin strahlt, und viele andere Filmemacher*innen zu mehr Mut zum Ungewohnten inspiriert.

  • (c) Poor Things