Politik | Staat und Regionen

(De-)Zentralisierung zur Krisensteuerung

Wie förderlich sind der deutsche Föderalismus und der italienische Regionalismus im Kontext der Pandemiebekämpfung? Ein Systemvergleich.
(De)Zentralisierung?
Foto: Gerd Altmann, (c)Pixabay

‘Durchregieren’ oder ‘Kleinstaaterei’? Regionalismus und Föderalismus als Hindernis oder Vorteil in der Pandemie? Diese Woche luden das Bozner Forschungszentrum EURAC und die deutsche Friedrich-Ebert-Stiftung zu einer länderübergreifenden Diskussion im Rahmen der Krisenbewältigung von Covid-19 ein. Ziel der Diskussion war ein Vergleich zwischen dem föderalistischen System Deutschlands, in dem Länder über weitgehende Kompetenzen verfügen und dem zentralistischen, aber doch regional differenzierten, System Italiens.

Vorab: Während in Italien die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie weitgehend zentral gesteuert werden, sind in Deutschland die Länder für die konkreten Maßnahmen verantwortlich; der Bund beschränkt sich großteils darauf, Grenzschließungen und Reisewarnungen zu beschließen und übernimmt eine koordinierende Rolle zwischen den Ländern. Die konkreten Unterschiede zwischen dem föderalistischen Deutschland und dem zentralistischen Italien sind aber weniger profiliert als die Bezeichnung der Systeme suggeriert. Durch die 2001 genehmigte Reform von Artikel V der italienischen Verfassung, haben auch die Regionen Italiens weitgehende Verwaltungskompetenzen in vielen Bereichen erhalten. Viele sprechen im Rahmen dieser Verfassungsreform von einer 'de facto Föderalisierung' Italiens, die jedoch nicht zu Ende geführt wurde. Durch die Krise gelangen die Risse im System an die Oberfläche.

 

Der deutsche Föderalismus

 

In Deutschland wurde das föderalistische System weitgehend als für die Krisensteuerung förderlich gewertet. Vor allem im Bezug auf die erste Welle im März zog Sabine Kropp, Professor für deutsche Politik an der FU Berlin, eine sehr positive Bilanz: die Verantwortlichkeit der Länder ermöglichte punktgenaue Eingriffe und führte zu einer effizienten Eindämmung der Pandemie. Obwohl die Länder unterschiedliche Maßnahmen trafen und diese auch nicht immer zeitgleich umsetzten, kam sie zum Schluss, dass Maßnahmen weitgehend koordiniert wurden und so in allen Ländern ein vergleichbares Schutzniveau herrschte. Am Beginn der zweiten Welle reagierten einige Länder nur zögerlich, konnten aber durch den Bund relativ rasch zur Selbstkoordination gezwungen werden.

Koordiniert werden die Maßnahmen der verschiedenen Länder vor allem über die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK), die im Dabeisein der Kanzlerin stattfindet. Diese sorgt für eine direkte Konfrontation zwischen den Ministerpräsidenten der verschiedenen Länder, wodurch Maßnahmen koordiniert, zögerliche Länder zu Schutzmaßnahmen bewegt und Druck aufgebaut werden kann. Laut Sabine Kropp wird das Konzept der Bundestreue, in anderen Worten, die Idee nicht gegen das Wohl des Bundes zu handeln, weitgehend angewandt. Vor allem im Hinblick auf die erste Welle der Pandemie ist es gelungen, opportunistische und parteipolitische Strategien zwischen den Ländern weitgehend zu unterbinden. Weiters trägt das deutsche Parteiensystem, das eine enge Kooperation zwischen den Parteien der einzelnen Länder und der bundesweiten Organisation der Parteien vorsieht, dazu bei, dass Anliegen und Interessen der einzelnen Länder beinahe nahtlos in den Bundestag übergehen und sich auch die Länder der gesamtstaatlichen Situation bewusst sind. 

Nebst der Möglichkeit punktgenauer Eingriffe und Maßnahmen machte Sabine Kropp auf einen weiteren Vorteil des föderalistischen Systems in Deutschland aufmerksam: die Institutionalisierung einer länderübergreifenden Expertendiskussion. Dadurch, dass jedes Land auf eigene Expertenteams zurückgreifen kann, herrscht ein reger Meinungsaustausch zwischen den Experten der verschiedenen Länder und des Bundes. Obwohl die Bevölkerung diese Vielstimmigkeit oft kritisch betrachtet, weist Sabine Kropp darauf hin, dass aufgrund der Komplexität und Unerforschtheit der Situation die Einbeziehung verschiedener Experten überaus wichtig sei. Dadurch, so Kropp, werde verhindert, dass sich folgenschwere Entscheidungen aus dem Munde eines einzigen Expertenteams ergeben und man sich dem Schein wissenschaftlicher Sicherheit hingibt. Eine Situation wie in Schweden, wo ein einziger Staatsepidemiologe die Regierung berät, wäre schon allein deshalb in Deutschland unmöglich.

Trotz der weitgehend positiven Bilanz bezüglich der Eignung des föderalistischen Systems zur Krisensteuerung wurde in Deutschland der Vorwurf laut, die unterschiedlichen Regelungen würden einen unübersichtlichen Flickenteppich ergeben. Einerseits wurde dieser Vorwurf durch die unterschiedlich ausfallenden Gerichtsurteile im Bezug auf mögliche Einschränkungen der Grundrechte untermauert. Die jüngste Reform des Infektionsschutzgesetzes versucht die rechtliche Grundlage, auf die sich die Handlungen der Länder beziehen, zu klären, um sie nachvollziehbar, angemessen, umsetzbar und überprüfbar zu machen. 

Laut Sabine Kropp rührt der Vorwurf eines Flickenteppichs aber vor allem auch daher, dass die Bürger eine unitaristische Erwartungshaltung haben; sie erwarten, dass in ganz Deutschland dieselben Rechte gewährleistet werden. Dies macht es um so dringender, mögliche Differenzen zwischen den Ländern verständlich zu begründen und ersichtlich zu machen. Trotz des Vorwurfs scheint das Vertrauen in die politischen Institutionen in Deutschland seit Beginn der Pandemie gestiegen zu sein; für Sabine Kropp ein Indiz dafür, dass die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern weitgehend funktioniert und die Entscheidungen der verschiedenen repräsentativen Institutionen begründet und kommuniziert werden konnten.

 

 

Zentralstaat Italien?

 

Wie schon angedeutet, bedeutet das zentralstaatliche System Italiens keineswegs eine einheitliche Handhabung der Krise auf dem gesamten Staatsgebiet. Vor allem in der jetzigen zweiten Welle wurde mit der Einteilung der Regionen und autonomen Provinzen (AP) in gelbe, orange und rote Zonen eine weitgehende Differenzierung geschaffen. Auch sehen wir vor allem in dieser zweiten Welle eine vermehrte Einbeziehung der Regionen und AP in die Entscheidungen der Regierung, wie unter anderem aus der überdurchschnittlichen Frequenz der Staat-Regionen Konferenzen seit September hervorgeht.

Trotz der vermehrten Einbeziehung der Regionen und AP scheinen sich die Fronten zwischen den Regionen und dem Staat zusehends zu verhärten. Anna Mastromarino von der Universität Turin und Francesco Palermo, Institutsleiter für vergleichende Föderalismusforschung der Eurac, begründen diese Verhärtung der Fronten vor allem durch die mangelnden Grundlagen für eine funktionstüchtige und kooperative Einbeziehung der Regionen und AP. Während die 2001 durchgeführte Verfassungsreform den Regionen zwar weitgehende Verwaltungskompetenzen gewährt, seien die Strukturen, die die Zusammenarbeit zwischen Staat und Regionen ermöglichen, unzureichend. Erstens würde eine institutionalisierte Koordination zwischen den Regionen, wie sie in Deutschland durch die Ministerpräsidentenkonferenz und das Parteiensystem gewährleistet wird, fehlen. Dadurch kann die Idee der "leale collaborazione" zwischen den einzelnen Regionen und dem Staat (in Deutschland mit der oben genannten Bundestreue vergleichbar) nicht umgesetzt werden. Zweitens sei auch die Rechtsgrundlage, die die Kompetenzen des Staates und der einzelnen Regionen in einer Krisensituation festlegt, mangelhaft. Wie Anna Mastromarino betont, habe diese Situation während der ersten Welle zu großer Verwirrung geführt, die durch eine Zentralisierung der Maßnahmen gelöst wurde. Zeit der zweiten Welle sei eine weitgehende Orientierungslosigkeit zu beobachten: Die Verantwortlichkeiten von Staat und Regionen bleiben schleierhaft; wer die Bürger letzten Endes repräsentiert und somit die Verantwortung für die Grundrechtseinschränkungen übernimmt, ist unklar.

Die Folgen der lückenhaften Dezentralisierung in Italien sind weitreichend. Einerseits trägt sie dazu bei, dass die gesetzgebende Tätigkeit des Parlaments weitgehend umgangen wird. Während in Deutschland geltende Regelungen mit dem unlängst von Bund und Ländern genehmigten Infektionsschutzgesetz rechtlich verankert werden konnten, bleibt eine ähnliche rechtliche Verankerung, die nicht nur die Zustimmung des Parlaments, sondern auch der Regionen und AP in der Staat-Regionen Konferenz erfordern würde, in Italien weitgehend aus. Die Maßnahmen werden durch beinahe wöchentlichen Dekrete des Ministerpräsidenten beschlossen oder durch (zum Teil widersprüchliche) Erlasse der Präsidenten der Regionen und PA ergänzt. Eine Einigung steht weitgehend aus. Andererseits wird durch die fehlende Kooperation und Koordinierung immer auf einen Minimalkonsens hingearbeitet anstatt die wirksamsten und angemessensten Maßnahmen zu treffen.

Auch führe die mangelhafte rechtliche und institutionelle Grundlage immer wieder dazu, dass die Verantwortung auf den jeweils anderen abgeschoben wird und ein parteipolitischer Wettlauf zwischen den einzelnen Regionen, aber auch zwischen dem Staat und den Regionen entsteht. Obwohl auch in Deutschland strategische Unter- und Übertrumpfungen zwischen den Ländern beobachtet werden konnten, begrenzten sie sich dort vor allem auf jene Phase, in der Lockerungen und Wiedereröffnungen in Aussicht gestellt und vollzogen werden konnten. Dieser Vergleich muss jedoch mit Vorsicht genossen werden: Anders als in Italien stehen in Deutschland erst 2021 wieder wichtige Wahlen an. Ob sich die Strategien der Länder ändern werden, bleibt zu beobachten.

 

Dezentralisierung, aber richtig

 

Dezentralisierung, so Anna Mastromarino, könne nicht per se als gut oder schlecht abgetan werden. Die rechtliche und institutionelle Grundlage entscheiden, ob ein dezentralisiertes System effizient arbeiten kann oder nicht.

Obwohl sich sowohl Francesco Palermo als auch Anna Mastomariano im Grunde für die Dezentralisierung Italiens aussprechen, betonen beide, dass eine solche Dezentralisierung durch grundlegende Reformen unterstützt werden muss. Die Covid-19-Krise habe in diesem Sinn Systemfehler aufzeigen können, wie die fehlende Koordination zwischen den Regionen und eine fehlende Aufteilung der Kompetenzen in Krisensituationen. Diese müssen nach der Krise mit entsprechenden Reformen angegangen werden. Als Reformansatz nennt Anna Mastromarino eine Aufwertung der substitutiven Befugnisse des Staates, sodass das Prinzip der “leale collaborazione” in einem dezentralisierten, aber trotzdem unitarischen Staat effektiv umgesetzt werden kann. In dieser Frage könne man vom deutschen aber vor allem auch vom belgischen Beispiel lernen: In Belgien greift der Staat immer dann ein, wenn die einzelnen Regionen – obgleich im Rahmen der eigenen Kompetenzen – gegen das Wohl des States handeln.

In Deutschland wird der Föderalismus als weitgehend hilfreich für die Krisensteuerung gewertet und die konkrete Umsetzung im Großen und Ganzen befürwortet. Änderungsvorschläge beziehen sich auf eine bessere Einbeziehung der verschiedenen Stadt- und Landkreise sowie auf eine transparentere und aufschlussreichere Kommunikation der Asymmetrien zwischen den Ländern. Auch wird die Möglichkeit schnellerer Reaktionszeiten für die Koordination zwischen Staat und Ländern in Betracht gezogen.

Ein letzter Punkt, der sowohl von der deutschen als auch von der italienischen Seite betont wurde, ist, dass eine asymmetrische Dezentralisierung nicht nur richtig umgesetzt, sondern auch verständlich und aufschlussreich kommuniziert werden muss. Die Gründe für Differenzen zwischen Ländern oder Regionen, was Kompetenzen, Verwaltungsmethoden und Maßnahmen betrifft, müssen ersichtlich gemacht werden, um als solche von der Bevölkerung akzeptiert und effektiv umgesetzt zu werden.

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pérvasion Sa., 28.11.2020 - 10:20

»Als Reformansatz nennt Anna Mastromarino eine Aufwertung der substitutiven Befugnisse des Staates, sodass das Prinzip der “leale collaborazione” in einem dezentralisierten, aber trotzdem unitarischen Staat effektiv umgesetzt werden kann.«

Das soll wirklich die Lösung sein? Das ist doch der übliche zentralistische Reflex.

Sa., 28.11.2020 - 10:20 Permalink