Gesellschaft | Tagebuch aus Alpbach

Zuerst war da ein Krieg

Junge SüdtirolerInnen schreiben über ihre Eindrücke am Europäischen Forum Alpbach. Heute Alex Putzer* über Krieg, Sieg und Beat.
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Foto: Casa
Zuerst war da ein Krieg. Eine Auseinandersetzung, welche es schaffte, den beinahe voreilig betitelten “Großen Krieg” als weltpolitisch bedeutendstes Ereignis des 20. Jahrhunderts den Rang abzulaufen. Viele Entscheidungen der vergangenen 74 Jahre lassen sich mehr oder weniger direkt als eine Reaktion auf die wohl bekanntesten 2,077 Tage Friedensbruch zurückführen. Neben diversen Staatenbunden wurde auch auf interpersonaler Ebene die Richtung verfolgt, durch mehr Zusammenarbeit und Vernetzung ein Wiederholen oder gar Übertrumpfen der Geschehnisse zu vermeiden. Das European Forum im Tiroler Bergdorf Alpbach stellt ein Paradebeispiel dieses Fokus auf Interdependenz dar. Im Jahr 2019 kommen um die 5,000 Teilnehmer in die 2,500-Einwohner-Gemeinde, davon gut 700 Stipendiatinnen aus rund 100 Nationen dieser Welt. Eine elitäre und privilegierte Blase, ohne Frage, jedoch voller Motivation, die Erfahrungen nach Abschluss der Konferenz im alltäglichen Umfeld zu potenzieren.
 
Die Impulse, welche zunächst in der Seminarwoche sowie im Anschluss daran in einer Vielzahl an weiteren Veranstaltungen gesetzt wurden, sollten dabei nicht nur Gleichgesinnte zusammenbringen, sondern auch Möglichkeiten, Ideen und Strategien an ein neues Publikum heranführen. Die kontinuierliche Ausweitung des Horizonts ist beinahe als selbstverständlich anzusehen.
 
Zuerst war da ein Sieg. Als die Alliierten durch ihre Erfolge sowohl das Konzept als auch den Begriff des Faschismus zur schändlichen Beleidigung verurteilten, haben sie die demokratischen Grundwerte und damit die individuelle Freiheit und Sicherheit vor der Willkür des Souveräns zum unabdingbaren Ziel einer jeden Gesellschaft ausgerufen. Genau ebenjene Begriffe, “Freiheit” und “Sicherheit”, sind das Generalthema der diesjährigen Edition. Dies bedeutet nicht, dass sich sämtliche Vorlesungen rund um diese zwei streitbaren Termini drehen. Vielmehr besteht das Bewusstsein, wie sehr diese Ideen in jede Auseinandersetzung automatisch miteinfließen.
 
Im Seminar “Promises and Challenges of Urbanisation” ging es beispielsweise darum, sechs Tage lang an der Oberfläche der Komplexität der Städteplanung zu kratzen. Neben der Freiheit und Sicherheit der Bewohnerinnen bereiteten die Leiterinnen auch scheinbar banale Themen wie die Abwasserentsorgung interessant auf. Am letzten Seminartag wurden sämtliche Ergebnisse in einer theoretischen Erweiterung Alpbachs zu einer 100,000-Einwohner-Stadt “praktisch” angewandt. Das fertige Produkt durfte vor dem Hauptgebäude des Forums öffentlichkeitswirksam befestigt werden.
 
Zuerst war da ein Beat. Seit es kontinuierlich zuverlässige Aufzeichnungen zur menschlichen Geschichte gibt, verbrachten wir knappe acht Prozent der Zeit friedlich. Der Rhythmus des Krieges war so allgegenwärtig und, wie es schien, unausweichlich, wie Epidemien und Hungersnöte. Der Takt dieser Melodien wurde im 20. Jahrhundert und insbesondere nach Fünfundvierzig alteriert. Plötzlich schien die Möglichkeit eines gesunden und satten Friedens realistisch. Mit dem Rhythmus einer Zweiunddreißigstelnote konnten ständig neue Erfolge verbucht werden, welche sich mittlerweile zu einem Meisterwerk der humanitären Komposition geformt haben; ... zumindest bei gleichzeitiger Nichtberücksichtigung eines immensen Teils negativer Geschichtsschreibung.
 
Achtungserfolge nicht negieren wollend, es läuft vieles falsch auf dieser Welt. Während man 17 Tage lang verschiedenste Veranstaltungen besucht, stehen weite Teile des Amazonasregenwaldes in Flammen. Auch nach sich immer wiederholenden ermahnenden, auffordernden und endgültigen Worten, Fridays-for-Future-Demonstration und vermeintlichen Anfängen zu Gegentendenzen bleibt am Ende das Gefühl, dass das Karrieresprungbrett doch wichtiger als der Klimaschutz ist.
 
Und dennoch: Das European Forum Alpbach ist eine gute Form, sich auf eine ungewisse und komplexe Zukunft vorzubereiten. Es zeigt, dass es viele tolle Menschen gibt, die die Welt zu einem besseren Ort machen möchten. Ohne solche Vernetzungstreffen hätten wir Teilnehmerinnen ein auf Ignoranz und Unwissenheit basierendes empathisches Defizit vorzuweisen, welches eine Kooperation hinsichtlich globaler Problembewältigung bedeutend schwieriger gestalten würde. Wir stehen alle in der Verantwortung, die Themen Freiheit und Sicherheit in Verbindung mit einer nachhaltigen Zukunft zu denken.