Gesellschaft | Arbeitszeit

Die Sehnsucht nach mehr Zeit

Zeit ist unser wertvollstes Gut und den Großteil davon verbringen wir bei der Arbeit. AFI-Arbeitspsychologe Tobias Hölbling erklärt wie es darum in der Euregio bestellt.
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
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Foto: Adobe Stock Images

salto.bz: Im Oktober wurde zuletzt eine Untersuchung des AFI | Arbeitsförderungsinstitut, dem Projektpartner AK Tirol und der Agenzia del Lavoro Trentino zum Thema Arbeitszeiten und organisatorisches Wohlbefinden vorgestellt. Was wurde darin genau untersucht?

Tobias Hölbling: Wir haben uns dem breiten Feld der Arbeitszeiten, also Wochenstunden, die ein durchschnittlicher Arbeitnehmer und Selbständiger leistet, gewidmet. Wir untersuchten unter anderem wie viele Menschen Überstunden machen, wie es mit der Nachtarbeit aussieht und haben auch die Pendelzeiten, die im weiteren Sinne in den Komplex der Arbeitszeiten gehören, unter die Lupe genommen.

In Südtirol wird mit durchschnittlich 39,2 Stunden pro Woche am meisten gearbeitet. In Tirol sind es 38,1 Stunden, im Trentino nur 36,9 Stunden. Ist der Südtiroler fleißiger als die anderen? Und woran liegt das?

Das ist die Frage. Wir haben auch schon in der EWCS-Studie 2016 feststellen können, dass in Südtirol sehr viel gearbeitet wird. Auch damals kam die Frage auf, woran es wohl liegt, dass objektiv mehr bzw. länger gearbeitet wird. Eine Möglichkeit dies zu erklären, ist der strukturelle Vergleich. Bei uns sind Wirtschaftsbranchen, in denen länger gearbeitet wird, wie Hotellerie, Gastgewerbe und Landwirtschaft sowie Baugewerbe, stärker präsent, das heißt, stärker entwickelt als beispielsweise im Trentino. In der Landwirtschaft arbeiten bei uns zudem viele Nebenerwerbsbauern.

Bei uns sind Wirtschaftsbranchen, in denen länger gearbeitet wird, wie Hotellerie, Gastgewerbe und Landwirtschaft sowie Baugewerbe, stärker präsent, das heißt, stärker entwickelt als beispielsweise im Trentino. In der Landwirtschaft arbeiten bei uns zudem viele Nebenerwerbsbauern.

Und die arbeiten, wenn sie von ihrem Vollzeitjob nachhause kommen, auch „nach der Arbeit“ noch weiter. In Südtirol haben wir über 20% Selbständige. In Nordtirol sind hingegen nur 13% aller Beschäftigten selbständig. Und Selbständige arbeiten - wie es so schön heißt - selbst und ständig. Sie neigen dazu bzw. können nicht anders als lang und viel zu arbeiten. Für manche, vor allem im Rest Italiens, ist die Selbständigkeit auch keine ganz freie Wahl, sondern ein notwendiges Übel. 

Bleiben wir in Südtirol, in welchen Branchen wird am meisten gearbeitet und in welchen am wenigsten?

Definitiv in der Land- und Forstwirtschaft mit durchschnittlich 49 Wochenstunden. Es gibt auch Bauern, die wesentlich mehr arbeiten. Da spielt hinein, dass es - wie bereits erwähnt - viele Nebenerwerbsbauern gibt, die 40 Stunden arbeiten und dann am Feierabend noch am Hof weiterarbeiten. Hier kommt außerdem noch rein, dass viele von ihnen auch an den Wochenenden arbeiten müssen, wie beispielsweise die Viehbauern, die ihre Tiere versorgen müssen. Im Baugewerbe beträgt die durchschnittliche Arbeitszeit 42 Wochenstunden. Es gibt hier kaum Teilzeitverträge, höchstens im Bürobereich. Der klassische Bauarbeiter auf dem Gerüst arbeitet überwiegend Vollzeit. Bei Hotellerie und Gastronomie sieht es ganz anders aus. Sie arbeiten zwar durchschnittlich 42 Wochenstunden, doch hier gibt es bereits einige Beschäftigte in Teilzeit. Das macht jedoch die hohe Durchschnittsarbeitszeit nochmal gravierender, wenn man es hinterfragt. Denn obwohl es viele Teilzeitverträge gibt, ist die Durchschnittsarbeitszeit hoch. Das lässt auf eine hohe Überstundenzahl schließen.

In der Studie wurde auch erfragt, wie lange man gerne arbeiten würde, wenn man dies frei bestimmen könnte. Welche Wünsche wurden hier geäußert?

Ich möchte vorwegnehmen, dass den Befragten klar war, dass sie mit der gewünschten Stundenzahl ihren Lebensunterhalt bestreiten müssten. Wer also angab 10 Stunden weniger arbeiten zu wollen, dem war klar, dass er auch auf sein Gehalt proportionell verzichten müsse. Das Ergebnis ist, dass die Menschen in der Europaregion laut Befragung durchschnittlich rund fünf Stunden weniger arbeiten möchten. Bei den Selbständigen waren es sogar 10 Stunden weniger, die abhängig Beschäftigten optierten für 4,3 Stunden.

Stimmt das mit der aktuellen Situation überein? Immerhin wurde erst zuletzt bekannt, dass einige Bürgerinnen und Bürger ihre Stromrechnungen nicht mehr bezahlen können.

Man muss dazu sagen: Die Studie ist zeitgebunden. Die Erhebung war im Sommer 2021, da waren Putins Krieg und die steigenden Energiepreise noch kein Thema. Würde man es heute nochmal abfragen, weiß man nicht, ob die Zahlen die gleichen wären.

Ist der Wunsch nach kürzeren oder längeren Arbeitszeiten auch altersabhängig?

Es gibt auf jeden Fall Unterschiede zwischen den Generationen. Während die Babyboomer für ihren Fleiß und Arbeitswillen bekannt sind und waren, suchen die jüngeren Generationen immer mehr die Work-Life-Balance, die ihre Vorgänger der Karriere oft hintenangestellt haben. Die früheren Generationen haben viel mehr gearbeitet, um unser heutiges Lebensniveau zu schaffen. Damals ging es nicht ohne lange Arbeitswochen - dieser Kritik muss man zustimmen. Die älteren Arbeitnehmer haben die Grundlage für den heutigen Wohlstand gelegt. Was auch noch dazukommt: Der Reichtum der älteren Generationen konzentriert sich nur noch auf ein bis zwei Kinder. Man muss sich nicht mehr abrackern, um ein gutes Leben zu haben. Immer wieder taucht die Frage auf, ob es eigentlich legitim ist, dass sich die Jungen nicht mehr so abstrampeln wollen. Diese Diskussion finde ich spannend.

Wird sich der Wunsch nach kürzeren Arbeitszeiten und mehr Freizeit noch mehr ausprägen?

Die Frage ist, wo der Arbeitsmarkt in Zukunft überhaupt hingeht. Dazu muss man die großen Umwälzungen der Arbeitswelt, die Alterung der Erwerbsgesellschaft und die Digitalisierung, genauer in den Blick nehmen. Das Thema der Alterung unserer Gesellschaft ist bekannt. Das Verhältnis zwischen Arbeitnehmern und Rentnern wird in Zukunft nicht mehr zusammenpassen. Im Gegenzug werden aber auch viele Tätigkeiten, die automatisierbar sind, automatisiert. Das ist gut, denn dann müssen wir nicht mehr so hart arbeiten. Das wird uns bedeutende Produktionszuwächse, ähnlich wie zu Zeiten der 1. Industrielle Revolution bringen. Zum anderen wird es allerdings auch viele Jobs obsolet machen. Das wird nicht nur einfache Tätigkeiten, sondern auch im zunehmenden Maße kognitiv beanspruchende Aufgabengebiete betreffen. Möglicherweise kommt am Ende  eine Art Nullsummenrechnung raud: Alte gehen in Pension, andere Arbeitsstellen fallen weg und werden durch digitale Algorithmen ersetzt.

Das Verhältnis zwischen Arbeitnehmern und Rentnern wird in Zukunft nicht mehr zusammenpassen. Im Gegenzug werden aber auch viele Tätigkeiten, die automatisierbar sind, automatisiert

Sind längere Arbeitszeiten eine mögliche Antwort auf den derzeitigen Personalmangel? Und wenn ja, ist das eine nachhaltige Lösung?

Ja, das kann eine Lösung für den Personalmangel sein. Andererseits muss man aufpassen, seine Leute nicht zu verschleißen und übermäßig zu beanspruchen. Tatsache ist, die Leute wünschen sich kürzere Arbeitszeiten. Und auch der Wunsch nach Homeoffice wird nicht mehr verschwinden. Junge Arbeitskräfte werden ein rares Gut sein. Unternehmen müssen darum gute Argumente bringen, um mit anderen Betrieben konkurrieren zu können. Unternehmern sollten beachten, dass attraktive Arbeitszeiten ein wichtiges Kriterium für nachkommende Generationen darstellen. Diese lassen sich in den meisten Branchen relativ gut und kostengünstig realisieren und sind daher erstrebenswert um gute, neue Fachkräfte anzuwerben.

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Profil für Benutzer Josef Fulterer
Josef Fulterer Di., 08.11.2022 - 05:21

Bei der Betreuung von Gästen, in der Pflege, in der Landwirtschaft und der Reinigung, wird sich die Arbeitszeit nur durch Teilzeit-Arbeit kürzen lassen.
Jene die besonders wegen der langen Arbeitszeit stönen, sollten einmal überlegen, wieviel Zeit sie "mit belanglosen Gesprächen beim feuchten Doppolavoro" und "als passive Zuschauer von Sportveranstaltungen" ver...!

Di., 08.11.2022 - 05:21 Permalink