Umwelt | salto Gespräch

“Unsere Wälder sind magersüchtig”

Warum in der Bewirtschaftung der Wälder weniger mehr ist und sich Nachhaltigkeit auch ökonomisch auszahlt.
Lutz Fähser
Foto: Privat

In Zusammenarbeit mit: Toblacher Gespräche

 

Lutz Fähser ist Diplom-Forstwirt, Forstdirektor im Ruhestand und ein international anerkannter Fachmann für naturnahe Waldbewirtschaftung. Bekannt wurde Fähser durch das Projekt Stadtwald Lübeck, ein circa 5.000 Hektar großer Kommunalwald, der seit 1994 nach dem Prinzip des „integrierten Prozessschutzes“ bewirtschaftet wird. Sein „Lübecker Konzept“ wird inzwischen von verschiedenen Umweltverbänden als best-practice-Beispiel für die Forstwirtschaft angewandt. Am Sonntag, den 29. September, berichtet Lutz Fähser bei den Toblacher Gesprächen über die Chancen der naturnahen Waldbewirtschaftung, die sich überraschenderweise auch finanziell lohnt.

salto.bz: Herr Fähser, was genau ist das Lübecker Konzept?

Lutz Fähser: Das Lübecker Konzept läuft jetzt seit 25 Jahren, ich habe es damals als Leiter des Stadtwalds Lübeck entwickelt. Ich habe in Forstlicher Betriebswirtschaft promoviert, also mit Fokus auf dem ökonomischen Aspekt der Forstwirtschaft. Dabei fiel mir auf, dass wir in der Forstwirtschaft Prinzipien der industriellen Produktion oder der Dienstleistungsproduktion anwenden, statt uns am eigentlichen Produktionssystem Wald zu orientieren. Die Forstwirtschaft sieht den Wald wie eine industrielle Produktion oder ein Agrarsystem. Beides stimmt nicht. Der Wald ist ein eigenes System mit eigenen Regeln, er hat durch Evolution Strategien entwickelt, um sein Überleben zu garantieren. Diese Überlebensstrategien stimmen im Grunde überein mit unseren forstwirtschaftlichen Erwartungen an den Wald: Er soll möglichst viel wachsen, möglichst gesund sein und viel Holz produzieren, oder etwa nach Sturmschäden neu ansamen und weiter wachsen. Der Wald kann das alles perfekt alleine, aber in der modernen Forstwirtschaft haben wir fast den Anspruch, es besser zu machen als die Natur selbst. Durch unseren Eingriff reduzieren wir paradoxerweise die Lebensdauer, die Gesundheit und sogar die Produktivität unserer Wälder. Wir greifen in ein perfektes System ein und ersetzen natürliche Prozesse durch menschliche Arbeit, maschinelle Inputs, Selektion, Energie, Entwässerung, Bewässerung, Pflanzenschutzmittel, usw. Als 1992 der erste große Umweltgipfel in Rio stattfand, habe ich angefangen die Konventionen, die alle Länder unterschrieben hatten, im Lübecker Stadtwald auch wirklich zu praktizieren und eine möglichst naturnahe Waldbewirtschaftung zu betreiben.

Eine naturnahe Forstwirtschaft zu unterstützen eignet sich nicht gut für den politischen Wahlkampf, denn die Erfolge einer wirklich nachhaltigen Waldstrategie sieht man erst nach Jahrzehnten.

Was heißt das konkret, was wird in dieser naturnahen Waldbewirtschaftung anders gemacht im Vergleich zur konventionellen Forstwirtschaft?

Nur ökologisch gesunde Wälder können ökonomisch gute Leistungen erbringen.
Ich habe damals für das Lübecker Konzept nur zwei Grundsätze aufgestellt: Die Nutzwälder müssen sich so dicht wie möglich an der natürlichen Form des Waldes orientieren, also nach dem Vorbild des gemischten Baumbestandes und des Prozesssystems eines Urwalds, den wir heute in Mitteleuropa gar nicht mehr haben.
Das zweite Prinzip des Lübecker Konzepts ist: alles was wir in der Forstwirtschaft tun, muss nach einem Vorsichtsprinzip passieren. Schließlich greifen wir in ein komplexes System ein, ohne wirklich zu wissen, was der Langzeiteffekt ist. Der Wald ist ein Anpassungssystem und man sollte ihn nicht wie ein Produktionssystem behandeln.

 

Aus diesen zwei Prinzipien, Naturnähe und Vorsichtsprinzip, haben wir dann Regeln formuliert, wie z.B., dass 10% der Nutzwaldflächen als Referenzflächen komplett sich selbst überlassen werden. Das war damals vor 25 Jahren ein großer Affront, das wollte keiner hören. 10% der Wälder werden also nicht mehr bewirtschaftet, sondern dienen als Referenzgebiet, von dem man lernen kann was die Natur mit unseren Wirtschaftswäldern macht, wie sie sich verhält und reguliert. Diese Referenzwälder werden parallel zu den bewirtschafteten Waldflächen periodisch untersucht und daraus leiten wir ab, wie man die Bewirtschaftung noch naturnäher gestalten kann. Denn das was die Natur von selbst kann, müssen wir Förster dann nicht mehr machen und das rechnet sich unterm Strich dann auch aus ökonomischer Sicht.

Kann man das Lübecker Waldkonzept im Alpenraum oder insbesondere auch in Südtirol anwenden?  

Ja, auf jeden Fall, denn das Lübecker Konzept eines möglichst naturnahen Waldes basiert auf ganz grundsätzlichen Erwägungen, die allgemeingültig sind: Man muss sich möglichst dicht an der Form eines unberührten, standortspezifischen Urwalds orientieren, wie es ihn in der Natur gab bevor der Mensch die Wälder bewirtschaftete. In Schweden sind das Kiefern und Fichten, in der Norddeutschen Ebene sind das Laubbaumarten wie Ahorn, Eichen usw., und in Südtirol wären es wiederum andere Bäume.
Wir haben zwar in Deutschland und in Italien keine wirklichen Urwälder mehr, aber Waldökologen können anhand von Ort, Klima, Hanglage, Exposition, Bodenbeschaffenheit usw. mit großer Genauigkeit berechnen, welche Zusammensetzung der ursprüngliche Urwald an einem bestimmten Standort hätte. An dieser Zusammensetzung muss man sich orientieren, wenn man einen möglichst naturnahen und somit resistenten Nutzwald schaffen will.

Welches sind die ökonomischen Vorteile einer naturnahen Bewirtschaftung des Waldes?

Untersuchungen haben ergeben, dass die echten Naturwaldflächen, also jene die langfristig über Jahrhunderte nicht bewirtschaftet wurden, fast keine Veränderungen durch den Klimawandel zeigen, während die bewirtschafteten Wälder schon deutliche Stresssymptome zeigen.
Naturnahe Wälder sind anpassungsfähiger und haben auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht ein deutlich geringeres Risiko. Wenn man den einzelnen Baum betrachtet, wächst natürlich die Fichte schneller und bringt also theoretisch schon nach 100 Jahren den Maximalertrag, während die Eiche erst nach 200 Jahren soweit ist. De facto ist es aber so, dass die Fichten in Deutschland z.B. nie mehr als 50% ihres Ertragsziels erreichen, weil sie vorher durch Stürme oder Trockenperioden dahingerafft werden, und zwar dann meistens auch alle Bäume des Waldes auf einmal, was wiederum den Markt flutet und den Holzpreis auf ein Drittel reduziert. Das wirtschaftliche Risiko dieser dichtbepflanzten Wirtschaftswälder mit nur einer Baumart ist also enorm.

In der modernen Forstwirtschaft haben wir fast den Anspruch es besser zu machen als die Natur selbst.

Der zweite ökonomische Vorteil ist die Masse: Wenn man nicht nach einzelnen Baumarten rechnet, sondern die Holzmasse des Ökosystems Wald im Ganzen betrachtet, dann produzieren natürliche Wälder im Durchschnitt doppelt soviel Holz wie die bewirtschafteten Wälder. In Deutschland produziert ein bewirtschafteter Wald durchschnittlich 350 Kubikmeter Holzmasse pro Hektar. Ein natürlicher, gemischter Urwald würde hingegen mindestens 700-800 Kubikmeter Holz pro Hektar abgeben.
Das heißt: Unsere bewirtschafteten Wälder sind magersüchtig! Und trotzdem wird in der Forstwirtschaftslehre der Fokus immer noch darauf gelegt, Bäume mit hoher Krone zu ziehen, weil die schneller wachsen und den erwünschten Holzertrag bringen.
Das ist aber in Zeiten des Klimawandels fatal, denn solche lichten Wälder ohne Seitenäste trocknen schneller aus, die Humusschicht reduziert sich.
Beim natürlichen Wald ist das Mikroklima auch im Sommer kühl und feucht, das Wasser verdunstet weniger und wird besser gespeichert. Dadurch ist der natürliche Wald besser gegen den Klimawandel gewappnet.
Insgesamt erreicht man mit naturnahen Wäldern bessere Erträge mit geringerem Risiko und weniger Arbeitsinput, eine solche Waldbewirtschaftung rentiert sich also!
Im Lübecker Stadtwald wurden mit der naturnahen Bewirtschaftung die Kosten und die wirtschaftlichen Risiken so drastisch reduziert, dass die Betriebsergebnisse nie hinter denen der konventionellen Forstbetriebe zurückgefallen sind. Im Gegenteil, der jährliche Abschluss liegt sogar 20-30% höher als bei der klassischen Waldbewirtschaftung. Die Produktivität eines solchen naturnahen Waldes wächst außerdem exponentiell und das Risiko verringert sich kontinuierlich. In anderen Bereichen wie der Industrie heißt Ökologie entweder Verzicht auf größeren Gewinn oder zusätzliche Investition: Im Wald aber ist Ökologie sparsam, hier ist ökologisch gleich ökonomisch.

Der Wald ist ein eigenes System mit eigenen Regeln, er hat durch Evolution Strategien entwickelt, um sein Überleben zu garantieren.

Und was leistet der naturnahe Wald aus ökologischer Sicht?

Das CO2, das ein Wald bindet, ist direkt korreliert mit der Holzmasse: Je mehr Holz gebildet wird, desto mehr CO2 wird geschluckt, ein Kubikmeter Holz hat in sich circa eine Tonne CO2 gebunden, d.h. je mehr Holz in diesem Wald ist, desto mehr CO2 ist dort gebunden worden. Hinzu kommt, dass auch die Humusschicht, die im natürlichen Wald deutlich größer ist, ebenfalls CO2 bindet.
Der naturnah bewirtschaftete Wald nach dem Lübecker Konzept hat außerdem 10% Totholz und weitere 10% Habitatbäume, beide sind essentiell für die Artenvielfalt und die Entwicklung von Insekten, Pilzen usw., die wiederum dafür sorgen, dass die Totholzmasse schneller zersetzt wird und umgewandelt wird in wertvolle Humusmasse, die den Bäumen wieder zugute kommt. Zusätzlich wirken sich naturnahe Wälder positiv auf den Wasserhaushalt eines Gebiets aus, was auch für unser wachsendes Problem der Trinkwasserversorgung wichtig ist.

Was steht einer zukünftigen großflächigen naturnahen Bewirtschaftung des Waldes im Wege?
 
Eine naturnahe Forstwirtschaft zu unterstützen eignet sich nicht gut für den politischen Wahlkampf, denn die Erfolge einer wirklich nachhaltigen Waldstrategie sieht man erst nach Jahrzehnten. Es ist eine Investition für die Zukunft, für die nächsten Generationen, aber genau das ist ja die eigentliche Bedeutung von Nachhaltigkeit!
Publikumswirksamer ist es natürlich, wenn man als Politiker Geld in die konventionelle Waldwirtschaft investiert und dann vorzeigen kann, dass durch diese Gelder die Nutzwaldfläche sich um soundso viel Prozent erweitert hat. Das sind konkrete Zahlen, mit denen die Leute hier und jetzt vermeintliche Ergebnisse sehen, auch wenn das in Wirklichkeit kein nachhaltiges Wirtschaften ist und die Situation der Wälder dadurch kein bisschen zukunftsfähiger wird.

Im Wald ist ökologisch gleich ökonomisch.

In Deutschland haben wir momentan eine ganz gefährliche Situation: die Regierung möchte sich ökologisch zeigen und hat 1-2 Milliarden für die Forstwirtschaft zugesichert. Diese Gelder sollen dann mit großen Maschinen und unter Einsatz der Bundeswehr jene Wälder, die Sturmschäden erlitten haben, wieder herrichten. Dabei soll das Totholz mit großen, neuentwickelten Harvestern geräumt werden, die kreuz und quer durch die Wälder fahren. Als Konsequenz ist dann alles sauber, aber die Humusschicht ist weg, der Boden durch die tonnenschweren Maschinen verdichtet, die toten Wälder werden womöglich noch mit nicht heimischen aber dafür hitzebeständigeren subtropischen Baumarten bepflanzt. Dadurch geht die Selbstoptimierung der Natur und gleichzeitig auch die Biodiversität der Wälder verloren. Aber für Politiker ist die konventionelle Waldbewirtschaftung eine attraktive Strategie, weil man den besorgten Bürgern vorzeigen kann, dass man Milliarden in die Wälder investiert hat. 

Bild
Profil für Benutzer Peter Gasser
Peter Gasser So., 29.09.2019 - 09:14

... also haben wir unnatürliche Monokulturen nicht nur bei Obst (auch Bananen, Ananas, Avocados...) und Wein, (auch bei Tabak und Tee, Baumwolle und Getreide, Blumen und Kräutern) und Nutztieren, sondern auch im gesamten Wald.
Da der Mensch von Natur aus ein Steppenläufer ist, und heute in Betonschluchten in Betonlöchern lebt, und meist täglich in einem weiteren umschlossenen Raum 8 Stunden eingesperrt bleibt, haben wir auch den Menschen selbst, mehr als alles andere, in eine intensive Monokultur getrieben.
Wo wollen/sollen wir zuerst ansetzen?

So., 29.09.2019 - 09:14 Permalink