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Nehmen wir mal an, die männliche Gewalt an Frauen wäre eine wertvolle mechanische Armbanduhr. Ein komplizierter, aber reparabler Mechanismus.
ARMBANDUHR
Foto: (c) unsplash

Um den 25. November, der Internationale Tag zur Bekämpfung der Gewalt an Frauen, stapeln sich bei mir die Anfragen um Beiträge zu den unterschiedlichsten Veranstaltungen. Ich bin von der Genossenschaft GEA mit der Öffentlichkeitsarbeit betraut worden, und besonders zu dieser Jahreszeit wünsche ich mir einen 72-Stunden-Tag, um den Anfragen gerecht zu werden. Wenn es mich auch einerseits irritiert, dass dieses alltägliche Phänomen an anderen Tagen selten die entsprechende Aufmerksamkeit erhält, bin ich doch schlicht und einfach froh darüber, dass sich Institutionen, Privatpersonen, Vereine und Medien zumindest am Internationalen Tag an die Expert:innen in diesem Bereich wenden.

Ganz so selbstverständlich ist es nicht, dass jene Frauen, die Tag für Tag mit Frauen in Gewaltsituationen arbeiten, die sich ständig weiterbilden und Netzwerke knüpfen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene auch tatsächlich als Expertinnen gelten für den Bereich der Bekämpfung und der Prävention der männlichen Gewalt an Frauen. Proportional zur allgemeinen Aufmerksamkeit, die das Thema im Laufe der letzten Zeit erhält, wächst nämlich die Anzahl der Expert:innen, vor allem der selbst ernannten. So viele davon, und doch treten wir auf der Stelle, in der europäischen Rangliste sogar ziemlich weit unten. Wenn es vor 20 Jahren noch einer entsprechenden Ausbildung und Erfahrung in den Frauenhausdiensten bedurfte, so scheint es nun auszureichen, am Thema interessiert zu sein, schon mal davon gelesen oder gar eine Freundin in Gewaltsituation zu haben, um zu wissen, was Sache ist. Blöd nur, dass dabei nicht zu unterschätzende Details wie eine professionelle Risikoeinschätzung oder die Vernetzung mit den territorialen Diensten, aber auch große Zusammenhänge wie die sinnvolle Umsetzung der Konvention von Istanbul oder das Erkennen der Wurzeln von männlicher Gewalt an Frauen auf der Strecke bleiben.

 

Männliche Gewalt an Frauen ist noch immer viel zu oft schleichend und unerkannt unterwegs.

 

Nehmen wir mal an, die männliche Gewalt an Frauen wäre eine wertvolle mechanische Armbanduhr. Ein komplizierter, aber reparabler Mechanismus, aufbauend auf jahrhundertealten Erfahrungswerten der größten Meister der Präzision überhaupt. Plötzlich stehen die Zeiger unserer mechanischen Armbanduhr still. An wen wenden wir uns wohl, um sie zu reparieren? Denkste. Auch wenn wir ein tolles Unikat haben, organisieren wir eine Tagung zu dem Thema und laden wen als Referent:in ein? Eben nicht die „Meister der Präzision“. Aus der Tagung geht aber hervor, dass eine genauere Regelung zum Schutz der mechanischen Armbanduhren unser aller Leben verbessern würde. Und wer hätte die Kompetenzen zur Ausarbeitung dieser Grundregeln? Die Antwort auf alle Fragen lautet: Wir sollten wirkliche Expert:innen suchen, mit möglichst großem Know-how! Genauso sollte die Antwort lauten, wenn es um männliche Gewalt an Frauen geht. Es gibt sie, die Expert:innen, auch in diesem Bereich, auch in Südtirol.

Wäre das Leben ein Wunschkonzert, wäre es natürlich besser, wenn wir diese Expert:innen gar nicht bräuchten und ich mir keinen 72-Stunden-Tag wünschen müsste. Aber noch ist der Erfahrungsschatz zum Thema  „männliche Gewalt an Frauen“ in allen Bereichen unbedingt notwendig. Denn noch ist dieses Phänomen viel zu oft schleichend und unerkannt unterwegs. Und um es wirkungsvoll zu bekämpfen, bedarf es einer fundierten Expertise.

Das ist zumindest meine ganz persönliche Sichtweise, und dabei trage ich nicht mal eine mechanische Armbanduhr!