Kultur | Salto Weekend

Europa

Die literarische Mini-Serie auf Salto.bz wird an diesem und am kommenden Wochenende fortgeführt – mit aktuellen Texten zu: Europa.
Europa
Foto: Salto.bz

Waltraud Mittich

 

"Die Zukunft, die wir möchten, muss erfunden werden. Sonst bekommen wir eine, die wir nicht wollen." (J.Beuys)

In diesem Sinne möchte ich über das Europa der Zukunft nachdenken und eine Erzählung, -meine Erzählung – dazu zustande bringen.
Europa hat viele Geschichten, nicht eine davon möchte ich missen. Die Sprachgeschichten von Palermo bis Flensburg, die Dialekte, die dazwischen liegen, sie sind meine Heimat. Von den Werken der großen Erzähler, geschrieben in den Sprachen des Kontinents, von ihnen handelt mein Leben, von ihnen habe ich ein ganzes langes Leben gelebt. Knut Hamsun und Peer Gynt sind gleichwertig lebendig in meiner Vorstellung und ganz sicher auch in jener der anderen Leser. Dieses Europa soll und muss und wird weiter geschrieben, auch im Sinne der Literaturkritikerin Sigrid Löffler, die eine neue Weltliteratur jenseits nationaler Zuschreibung feststellt und propagiert. Wir sind auf dem guten Weg.
Ich liebe Europa, ich liebe seine großen und kleinen Staaten, jene, die ich bereisen durfte und jene, die es für mich nur in meinen Träumen gibt. Als Kind habe ich mit dem Atlas lesen gelernt, Städtenamen wie Amsterdam oder Reykjavik sind eine Grundmelodie geblieben, auch Lemberg, erst viel später auferstanden aus Erinnerungen. Ich liebe Europa. Ich freue mich, wenn es Italien gut geht und Frankreich und Polen und Spanien und Litauen und Slowenien.

Aber, was tut Europa gut?
Dass es Nationen gibt, ist ein Fakt, es ist eine gute Tatsache, sie macht Europa reich. Ich möchte mich von diesem Terminus nicht verabschieden. Das Konzept von Nationalstaaten allerdings ist zu überdenken. Die heutigen Aufgaben sind global: Steuern, Umwelt, Sicherheit, Migration, die Nationalstaaten können darauf nicht als Einzelne reagieren. Es braucht Unionen dazu; Energieunion, Sicherheitsunion, Umweltunion, ich denke, dass dies die Kategorien sind, in denen Europa denken muss. Dieses Europa, das nur so das Versprechen einlösen kann, das es mit seiner Gründung gegeben hat.
Europa tut es gut, wenn das große Gedankengehäuse von Freiheit, Menschenwürde, Toleranz , Gleichstellung der Geschlechter und sozialem Frieden erhalten bleibt, nicht ausgehöhlt , sondern weiter daran gebaut wird. Für diese Werte müssen wir einstehen, wir müssen den kollektiven Willen dazu aufbringen im Kampf gegen Terrorismus, Rechtsextremismus und Unbildung. In einer nicht endenden öffentlichen Diskussion. Denn unsere Werte, hervorgegangen und geprägt von der Aufklärung, sind die besseren. Und sie sind die einzige Versicherung, dass Europa nicht wieder vom Bösen heimgesucht wird.
Europa tut es gut, wenn wir Verantwortung füreinander übernehmen. Kroaten und Serben, tödlicher nationalistischer Hass trennt sie noch immer. Wie eingreifen? Kann europäischer Geist eingeschleust werden, er kann. Finanzspritzen aus europäischem Geist und für ihn, Volontariat wie das der Monika Hauser, das auch. Verantwortung übernehmen bedeutet auch, Ereignispolitik zu betreiben, dann eingreifen, wenn‘ s brennt, die Pressefreiheit verteidigen, wo immer es Not tut, verteidigen heißt eindeutig Stellung beziehen, in diesem Sinne tut es Europa gut, berechenbar zu sein und zu bleiben.
Gut für Europa sind viele junge Erasmus-erfahrene Umwelttechniker- oder Ingenieure oder -Architekten, Gewässerökologinnen, Solartechniker, Fachkräfte für Kreislauf-und Abfallwirtschaft. Gut täten Europa auch viele kleine Dörfer wie Mals im Vinschgau, die sich ganz einfach trauen umzusetzen, was sie bewegt, in ihrem Fall ein Pestizid freies Dorf zu wollen. Denn Europa muss seine umweltbewegte Avantgarde Stellung ausbauen, umweltbewegte Technologien fördern. Aber das reicht nicht. Europa, wir alle, haben uns zu verabschieden von der Idee, jedes Land könne und dürfe prosperieren, wenn es nur entsprechende politische Maßnahmen treffe. Denn Profit Ökonomie und richtiger Umweltschutz schließen einander aus.

Ich komme zum Schluss. Er handelt von meinem Lieblingsgedankenerzählspiel für Europa. Über Grenzen nachzudenken und die Grenzenlosigkeit in mehreren Wortbedeutungen zu erzählen, ist die wichtigste Aufgabe, wenn wir von Europa sprechen. Das kleine Winzerdorf Schengen an der Mosel im Großherzogtum Luxemburg wurde ab 1985 zum Synonym für einen Raum ohne Grenzkontrollen. Es ist noch immer die Metapher für einen Traum. Wir wissen, dass diese Errungenschaft gefährdet ist, die Angst geht um in Europa vor den gegenwärtigen und zukünftigen unkontrollierbaren Flüchtlingsströmen. Umso mehr wird es eine Aufgabe und eine Herausforderung sein, über die Grenzen zu schauen, zusammen zu arbeiten und zu leben.
Es gibt in Europa 185 grenzübergreifende Regionen, u.a. die Euregio Maas-Rhein, die Regio Basiliensis zwischen Schweiz, Deutschland und Frankreich, die Euregio Bayrischer Wald-Böhmerwald zwischen Deutschland, Slowakei, Österreich usw. Alle diese Grenzregionen sind das große Potential, ein immenses Labor, aus dem ein neues, grenzenloseres Europa hervorgehen kann. Ich möchte nun auf eine dieser Grenzregionen näher eingehen, weil ich erstens Kontakte pflege zu den Menschen dort und zweitens, weil diese Region einen guten Vergleichsraum darstellt für die Euregio Tirol-Südtirol-Trentino. Ich meine die transnationale Großregion, die sich aus dem Großherzogtum Luxemburg, den beiden deutschen Bundesländern Saarland und Rheinland Pfalz, der französischen Region Lothringen mit 4 Departements und der Regionalregierung Wallonien mit der französischen Gemeinschaft und der deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens zusammen setzt. Es gibt dort bereits ein Kulturnetzwerk und Ideenlabor, das sich seit 2006 mit dem Thema der europäischen Region als grenzübergreifendem Kulturraum, Inspirationsquelle und Produktionsort auseinandersetzt. Die Gruppe nennt sich Regiofactum und besteht aus deutsch, französisch und luxemburgisch sprechenden Künstlern, Architekten, Historikern Hochschullehrern ect. In dieser Region überqueren bereits jetzt täglich 200.000 Menschen die Grenzen, um zu arbeiten, so viele wie in keiner anderen Grenzregion Europas. Nach dem Prinzip von Robert Schumann, einem großen Politiker der Region, will Regiofactum dazu beitragen, Grenzen abzuwerten und Trennlinien in Kontaktzonen zu verwandeln. Dies im Sinne einer größtmöglichen Autonomie der Regionen und im Glauben, so die Globalisierung politisch gestalten zu können. Auch ich glaube, dass die europäische Idee nur auf diese Weise weiter wachsen und an Beliebtheit gewinnen kann. Und wenn ich an die Menschen denke, die Regiofactum tagtäglich weiterentwickeln, habe ich den Beweis, dass Menschen ein Credo haben können, noch immer und ganz unabhängig von jeder Religion.
Auch wenn ich mir der Gefahren des Regionalismus bewusst bin, so glaube ich trotzdem, dass das Hinterweltlerische und Kirchturmdenken im Europa von heute nicht mehr viel Platz beanspruchen können, in diesem Europa, das zwei Weltenbrände entfacht hat, das aus den Trümmern der Weltkriege als ein Vereinigtes Europa trotz allem hervor gegangen ist. Eine Erfolgsstory. Eine der brillantesten Errungenschaften unserer Geschichte. Ein Wunder ist es eigentlich. Und eine immense Hoffnung.

Anhang
Der Grenze wegen sich erklären müssen, warum eine deutsch spricht, gemischtsprachig schreibt, holländisch denkt, wem sie sich zugehörig fühlt, warum sie den Ausweis erläutern will. Es handelt sich an allen Grenzen um Bekenntnisse, deren Schatten sind lang, sie erstrecken sich in die Vergangenheit und in die Zukunft ufern sie aus. Treue und Verrat spielen eine Rolle, Besitzanspruch und Territorium, wem gehört es zu, das Wort und das Territorium und wem der Mensch. Es scheint schon alles gesagt dazu und trotzdem: die politischen Grenzen lassen sich zwar erklären, nicht aber die von dir zu mir, die zwischen Mann und Frau und erst recht nicht die in mir, weil ich mich nie genug kenne, um die Möglichkeiten der Freiheit abzuschätzen und die der Abgrenzung. Ein bedeutender Grenzdenker-bzw. Grenzzieher- bzw. Pragmatiker war Lord Curzon, die Curzon Linie im Geschichtsunterricht eingebläut bekommen. Von ihm stammen die endgültigen Demarkationslinien. Ja, ein Territorium wird markiert, genauso wie im Tierreich, die Linien zwischen Afghanistan und Persien, die Konstruktion des Irak, ja, konstruierte Grenzen. Lord Curzon of Keddleston, führender Vertreter des Imperialismus, imperare=herrschen=Grenze ziehen, wenn wir über Grenzen sprechen, müssen wir vor allem darüber sprechen. Abgegrenzt aber sein vom Schweigen, das weite Teile des menschlichen Lebens beherrscht, das ermöglicht die Sprache. Lasst uns den Grenzmythos neu erzählen. In Europa. Und überhaupt.

 

SALTO in Kooperation mit: SAAV, Südtiroler Autorinnen- und Autorenvereinigung