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Todsicherer Schulweg?

Können Eltern garantieren, dass ihrem Kind auf dem Schulweg nichts passiert? Warum viele Familien mit Unter-14-jährigen Kindern erneut in Rage geraten.
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Foto: upi

Sabine Fischer wird langsam ungeduldig. Tagtäglich wird die Vorsitzende des Landesbeirates der Eltern von aufgebrachten Familien kontaktiert.  „Die Eltern laufen Amok, doch niemand bietet uns wirklich eine Lösung des Problems“, sagt Fischer. Ein Problem, das nach einem gewaltigen medialen Sturm im vergangenen Oktober eigentlich bereits gelöst schien: der Schulweg von Kindern unter 14 Jahren. „Minori di 14 anni accompagnati a scuola, genitori in rivolta“, hatten die Schlagzeilen damals gelautet. Anlass dafür hatte einer Verfügung des Kassationsgerichts in einem lange zurückliegenden Fall eines 11-jährigen Buben aus Florenz gegeben, der auf dem Heimweg von der Schule tödlich verunglückt war. Nach einem langen Rechtsschreit war die Schule und letztlich auch das Unterrichtsministerium in dem Fall verantwortlich gesprochen worden. Nachdem das Urteil von der Kassation bekräftigt worden war, erinnerte das Ministerium in einem Rundschreiben alle Schulen daran, dass Kinder unter 14 Jahren nicht unbeaufsichtigt die Schulen verlassen dürfen. Schließlich sieht das italienische Strafrecht im Fall einer unterlassenen Aufsichtspflicht für Kinder und Jugendliche unter 14 Jahren Haftstrafen von sechs Monaten bis fünf Jahren vor.

"Chiunque abbandona una persona minore degli anni quattordici (...) e della quale abbia la custodia o debba avere cura, è punito con la reclusione da sei mesi a cinque anni".  Art. 591 del Codice penale

Müssen also 12- oder 13-jährige Mittelschüler, aber auch autonome Volksschüler, die ungefährliche Schulwege problemlos allein zurücklegen, nun wieder von ihren Eltern - oder Großeltern, wie Unterrichtsministerin Valeria Fedeli vorschlug – von der Schule abgeholt werden? Eine Frage, die angesichts des rigiden Kurses, den viele Schulen daraufhin einschlugen, in hitzigen Diskussionen erörtert wurde. Bis mit einem Abänderungsantrag zum Stabilitätsgesetz die Lösung gefunden schien: Die Eltern können die Schulen dazu ermächtigen, ihre Kinder allein nach Hause gehen zu lassen und sie damit von jeglicher Verantwortung entbinden.

 

 

Eine Lösung, die erlauben sollte, dass alles seinen gewohnten Gang weitergehen kann. Sprich: Eltern können selbst entscheiden, ob sie es ihrem Kind zutrauen, den Schulweg alleine zu schaffen oder nicht. Die Schulen dagegen sollten von der Verantwortung bei etwaigen Unfällen ihrer Schüler auf dem Heimweg entbunden werden, um eine Wiederholung des Falls in Florenz zu vermeiden.

"Schulweg als bürokratischer Hürdenlauf"

Auch in Südtirol wurde deshalb seit Ende der Weihnachtsferien von den Schuldirektionen schrittweise damit begonnen, ein entsprechendes Ermächtigungsschreiben zu verteilen. Dass jedoch recht bald zu Irritationen führte, wie nicht nur der Landesbeirat der Eltern, sondern auch die Freiheitlichen signalisieren. „Der Schulweg wird zum bürokratischen Hürdenlauf“, meint die freiheitliche Bezirkskoordinatorin des Wipptals Heidi Sparber angesichts der vielen ungeklärten Fragen, die das Schreiben aufwerfe. Denn: „Diese Ermächtigung sieht nicht nur vor, dass die Schule und die Lehrkräfte von der Aufsichtspflicht nach Unterrichtsende entbunden werden, was ja sehr wohl annehmbar und akzeptabel wäre, sondern überträgt darüber hinaus den Eltern eine Reihe von Verpflichtungen, die sie kaum erfüllen können“, so die freiheitliche Bezirkskoordinatorin. 

Für besondere Aufregung sorgt dabei ein Passus der Ermächtigung, mit dem die Eltern unterschreiben sollen, dass der Schulweg keine besonderen Gefahrenstellen aufweist und allfällige Änderungen der oben erklärten Situationen umgehend der Schule mitgeteilt werden müssen. Ein Passus, den Rechtsexperten als zivilrechtlich nicht einmal haltbar einschätzen. Dennoch fragen sich viele Eltern nicht nur, was konkret unter Gefahrenstellen zu verstehen ist und wie sie diese einschätzen und kontrollieren sollen, sondern auch wie es mit ihrer Haftung aussieht, wenn dennoch ein Unglück passieren sollte. Schließlich ordnet das italienische Strafrecht Minderjährige unter 14 als absolut unmündig ein. È prevista una presunzione assoluta di incapacità, heißt es dort.  Angesichts der rigiden Strafen die bei Verletzung der Aufsichtspflicht für die incapaci vorgesehen sind, alle andere als eine Beruhigungspille – die so manche Eltern zögern lässt, die Ermächtigung tatsächlich zu unterschreiben.

„Die Eltern werden dadurch unfreiwillig verpflichtet, den Gehsteig- Straßen- und Fahrradwegaufsichtsdienst zu übernehmen“, kritisiert nicht zuletzt Heidi Sparber. Auch der Landesbeirat der Eltern versuchte in der letzten Woche vergeblich zu klären, warum es neben der Entbindung der Lehrkräfte von der Verantwortung solche zusätzlichen Auflagen braucht.

Die manchen Eltern zusätzliche Probleme bescheren, wie der Fall einer Familie im Bozner Ortsteil Rentsch belegt. Beim dortigen schmalen Gehsteig und dem regen Verkehr ist der Weg zur Grundschule für die 7-jährige Tochter alle andere als ungefährlich, erzählt ihr Vater, dessen Name der Redaktion bekannt ist. Doch bislang konnten die berufstätigen Eltern das Problem mit einem Pedibus lösen, also die Begleitung der Kinder durch einen Schülerlotsen, der sie an vereinbarten Treffpunkten abholt und so den ganzen Schulweg zu Fuß begleitet. „Nachdem wir die Ermächtigung nicht unterschreiben können, da wir darin in gleich zwei Punkten die Unwahrheit erklären würden, haben wir eine Vollmacht ausgestellt, laut der unsere Tochter auch vom Schülerlotsen des Pedibus abgeholt werden kann“, so der Vater. Doch die Schule verweigere dem Mädchen das Mitmarschieren mit dem Bus ab sofort. „Da wir beide berufstätig sind, stellt uns dies unmittelbar vor eine großen Herausforderung und wir brauchen sofort eine Lösung und nicht erst in drei Monaten“, appelliert der Familienvater an die Verantwortlichen. Andernfalls zwinge man seine Frau und ihn, die Ermächtigung doch zu unterschreiben und somit de facto eine Falscherklärung zu machen.

Eine absurde Situation, die nicht nur eine Familie im Land betrifft. „Derartige bürokratische Auswüchse aus Rom, die den freien Bürgern jegliche Eigenverantwortung absprechen und aufgrund der vielen Unklarheiten als Ausgangspunkt für mögliche Rechts- und Haftungsstreitigkeiten dienen, sind klar abzulehnen“, meint die Freiheitliche Heidi Sparber. Ihre Forderung an die Landesregierung: „Landesrat Achammer sollte sich um eine Ausnahmeregelegung für Südtirol bemühen, um dieser grotesken Entwicklung endlich einen Riegel vorzuschieben.“

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19 amet Mi., 31.01.2018 - 10:10

Da ist wohl eher der bekannte Südtiroler Übereifer beim ausdenken von Vorschriften schuldig.Aus dem Gesetz geht dazu nichts hervor. Und der gute junge Mann versucht sich in seiner liebsten Taktik. Möglichst nichts entscheiden und allen Recht geben.

Mi., 31.01.2018 - 10:10 Permalink
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Profil für Benutzer Elisabeth Kuppelwieser
Elisabeth Kupp… Mi., 31.01.2018 - 11:35

Aus der Verfügung vom 19.09.2017 Nr. des Kassationsgerichtshof geht ganz klar hervor, dass die Schule in Florenz nur deshalb verurteilt wurde, weil sie in ihrer eigenen internen Regelung die Verpflichtung übernommen hatte, die Schüler solange zu beaufsichtigen, bis diese in die Transportmittel eingestiegen sind, bzw. ab Verlassen derselben: "sussiste un obbligo di vigilanza in capo all'amministrazione scolastica con conseguente responsabilità ministeriale sulla base di quanto disposto all'art. 3, lett. d) ed f del Regolamento d'istituto. Le norme ora richiamate, infatti, rispettivamente pongono a carico del personale scolastico l'obbligo di far salire e scendere dai mezzi di trasporto davanti al portone della scuola gli alunni, compresi quelli delle scuole medie, e demandano al personale medesimo la vigilanza nel caso in cui i mezzi di trasporto ritardino."
Aus der Verfügung des Gerichtes geht klar hervor, dass diese Verpflichtung zur Beaufsichtigung der Schüler außerhalb des Schulgebäudes nicht automatisch ist, sondern nur in jenem besonderen Fall von der Schule den Eltern zugesichert wurde und deshalb auch beachtet werden musste.
Die anderen Schulen, die keine solche zusätzliche Verpflichtung übernommen haben, haften nicht für das Einsteigen oder Verlassen der Schulbusse und ganz sicher nicht für den Schulweg. Dies sollten das Schulamt und die Direktor/innen zur Kenntnis nehmen und von den Eltern keine absurden Erklärungen verlangen.

Mi., 31.01.2018 - 11:35 Permalink
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19 amet Mi., 31.01.2018 - 19:29

Danke für die Präzisierung. Es ist also wirklich so. Übereifer von Beamten. Wie lange wird es dauern bis sich der Landesrat
traut zu entscheiden ?

Mi., 31.01.2018 - 19:29 Permalink