Gesellschaft | Schulen

„Der Ton ist rauer geworden“

Psychotherapie an deutschen Schulen: Landesdirektorin Falkensteiner hält nichts davon. Stattdessen betont sie, dass Lehrkräfte heute andere Aufgaben haben als früher.
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Foto: LPA / Barbara Franzelin
Die Psychologenkammer der Provinz Bozen fordert in einer Mitteilung an die Medien, dass nicht nur in italienischsprachigen Schulen Psycholog*innen eingesetzt werden. „Immer mehr Jugendliche und Lehrer*innen an deutschen Schulen äußern das Bedürfnis, ebenfalls Psycholog*innen in der Schule zu haben“, teilt der Berufsverband mit.
Lehrer*in sein, heißt nicht mehr nur, Fächer zu unterrichten.
Es gebe unter Südtirols Jugendlichen zahlreiche Formen von Unbehagen: „Alkohol- oder Drogenmissbrauch, Online- Abhängigkeiten, Essstörungen, Selbstverletzungen. Generell ist eine Zunahme von Angstzuständen, Depressionen und sozialem Rückzug zu beobachten, aber auch von Mobbing, Gewalt, größere und kleinere Gesetzesverstöße, Überfälle und körperlicher Aggression.“ Die zweithäufigste Todesursache unter Jugendlichen, insbesondere in der ladinischen und deutschen Sprachgruppe, sei der Suizid. Die häufigste Todesursache stellen die Verkehrsunfälle dar, die oft durch Alkoholmissbrauch verursacht werden.
Die Landesdirektorin deutschsprachiger Grund-, Mittel- und Oberschulen, Sigrun Falkensteiner, weist die Forderung der Psychologenkammer zurück. Psychotherapie sowie die gegebenenfalls notwendige psychiatrische Behandlung von Jugendlichen und Kindern würden nicht in den Zuständigkeitsbereich der Schulen fallen: „Vor allem wenn die weitere Begleitung gewünscht ist, kommen wir als Schule in einen Bereich, der absolut nicht unserer ist und in dem wir möglicherweise auch nichts zu suchen haben. Da geht es um sehr persönliche Situationen. Ob jemand Medikamente nehmen muss oder nicht, das hat uns als Schule nichts anzugehen.“  
 
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Sigrun Falkensteiner: „Lehrer*in sein, heißt nicht mehr nur, Fächer zu unterrichten, sondern vor allem auch, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen, ernst zu nehmen und diesen dieselbe Bedeutung zu geben wie jedem fachlichen Inhalt.“ (Foto: LPA / Barbara Franzelin)
 
Gleichzeitig sei es sehr wichtig, einen niederschwelligen Zugang für psychologische Hilfe zu gewährleisten und als Schule mit dem Psychologischen Dienst des Sanitätsbetriebes zusammenzuarbeiten. „Die Frage, ob es auch an den deutschen Schulen Psycholog*innen braucht, kam bereits vor ein paar Jahren auf. Die Expert*innen des Sanitätsbetriebes haben uns damals aber empfohlen, die Zuständigkeit bei den jeweiligen Gesundheitssprengeln zu belassen, da diese bereits über die Kontakte für eine eventuelle Folgetherapie verfügen. Die Herausforderung ist dabei, dass Betroffene in dem Dschungel an Diensten rasch ein passendes Unterstützungsangebot finden.“
Dass die Schwierigkeiten zunehmen, bestätigt auch Falkensteiner: „In den letzten Jahren ist das Thema Gemeinschaft schwieriger geworden, weil die Gesellschaft zum Teil gespalten ist und es Bewegungen gibt, die polarisieren. Der Ton ist rauer geworden und Kinder und Jugendliche spiegeln das, was sie wahrnehmen.“ Wenn es in der Gesellschaft am respektvollen Miteinander fehlt, dann zeige sich das in den Schulklassen, deren Zusammensetzung Kinder und Jugendliche nicht beeinflussen können.
„Wir müssen als Schule immer mehr Zeit in die Fragen investieren, wie ich mich in einer Gemeinschaft bewege, was sie für mich bedeutet und welche Grenzen ich nicht überschreiten darf“, erklärt Falkensteiner. Das stelle für viele Lehrkräfte eine Herausforderung dar, da sie sich vor allem als Fachlehrperson verstehen, die Begeisterung für die Lehrinhalte mitbringt. „Jetzt auch vermehrt pädagogische Arbeit zu leisten, ist für manche schwierig. Das gehört aber dazu und deshalb wollen wir diese Lehrpersonen verstärkt unterstützen. Lehrer*in sein, heißt nicht mehr nur, Fächer zu unterrichten, sondern vor allem auch, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen, ernst zu nehmen und diesen dieselbe Bedeutung zu geben wie jedem fachlichen Inhalt.“
 

Angebot deutscher Schulen

 
Im Vergleich zu den italienischen Schulen seien die deutschsprachigen Bildungseinrichtungen viel kapillarer im Land verteilt. „Die italienischen Schulen sind meist eher groß und zentral gelegen. Wir würden es hingegen nicht schaffen, an jeder deutschen Schule Psycholog*innen einzusetzen“, erklärt die Landesdirektorin der deutschen Schulen in Bezug auf die Forderung der Psychologenkammer.  
 
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„Time out“-Projekte: Unter Time-out-Lernen sind zeitbegrenzte alternative Bildungsangebote innerhalb der Schul- und Bildungspflicht gemeint, um das Recht auf Bildung möglichst für alle Kinder und Jugendliche zu gewährleisten. (Foto: Julia von Spinn)
 
Bei den deutschen Schulen sei die Unterstützung deshalb anders organisiert: Die Psychopädagogische Beratung der Pädagogischen Abteilung bietet Hilfestellung für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen an. Sie organisiert Fortbildungen für Lehrkräfte in diesem Bereich, besucht bei herausfordernden Gruppendynamiken auch Schulklassen und leitet bei spezifischen Problemen an die zuständigen Stellen weiter. „Die Mitarbeiter*innen beraten in kostenlosen Einzelgesprächen vorrangig Eltern und Lehrpersonen. Dabei ist es für uns wichtig, dass Psychologie mit Pädagogik verknüpft wird“, so Falkensteiner. Betroffene können sich hierfür an die Pädagogischen Beratungszentren in Schlanders, Meran, Bruneck, Brixen und Bozen wenden. An einzelnen Schulen sind zudem Schalterdienste der Psychopädagogischen Beratung eingerichtet.
Auch für die Schüler*innen selbst gibt es an den Mittel- und Oberschulen Unterstützungsangebote: Die Schulsozialpädagog*innen und die Lehrpersonen der Zentren für Information und Beratung (ZIB) gehen in Sprechstunden auf die Fragestellungen der Schüler*innen ein. Außerdem wird im Rahmen von Projekten Präventionsarbeit geleistet und bei Bedarf können einzelne Schüler*innen an „Time out“-Projekten außerhalb der Schule teilnehmen. „Die Arbeit der Schulsozialpädagog*innen wird mittlerweile auch auf Grundschulen und Kindergärten ausgeweitet“, so Falkensteiner.
Die Akzeptanz der verschiedenen Unterstützungsangebote des Landes sei gegeben: „Die jungen Generationen gehen mit psychologischer Unterstützung offener und mutiger um als ältere Generationen. Mittlerweile sagen Personen auch in der Öffentlichkeit, dass sie sich in einer Lebenskrise Hilfe geholt haben.“